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Biasca

Politische Gemeinde des Kantons Tessin, Bezirk Riviera, am Schnittpunkt der Täler Leventina, Blenio und Riviera gelegen. Die wichtigste Ortschaft der Ambrosianischen Täler ist im "Liber viventium" der Abtei Pfäfers um 830 belegt (Aviasca). Biasca (1119 Abiasca, deutsch früher Ablentschen) gehörte nicht zu den Talgemeinschaften der Leventina und des Bleniotals und besass ein Territorium, das in der Ebene die Siedlung Loderio (1321 Lauderium) sowie die Fraktionen des Pontironetals umfasste. 1602 397 Einwohner; 1833 1912; 1850 2035; 1900 2733; 1910 3299; 1950 2882; 2000 5795; 2010 6097; 2020 6094.

Biasca: Situationskarte 2021 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2021 HLS.
Biasca: Situationskarte 2021 (Geodaten: Bundesamt für Statistik, Swisstopo, OpenStreetMap) © 2021 HLS.

Zunächst Rätien zugehörig, blieb das Gebiet nördlich der Talenge von Bellinzona bis zum Ende des Mittelalters ein Anhängsel Mailands. Die geistliche und weltliche Herrschaft des Erzbistums Mailand festigte sich 948 mit der Schenkung Attos, des Bischofs von Vercelli, und dehnte sich in der Folgezeit aus, trotz der Anfeindung durch das Reich während seines Kampfes mit den lombardischen Kommunen. Die auf die Völkerwanderungszeit zurückgehende Pfarrkirche San Pietro di Biasca war als älteste Taufkirche des ambrosianischen Raums Mittelpunkt einer Pieve, welche die Leventina, das Bleniotal und die Dörfer der Riviera bis Gnosca und Claro miteinbezog. Es scheint jedoch, dass Olivone mit der Kirche San Martino bis mindestens Mitte des 12. Jahrhunderts einen selbstständigen Pfarrbezirk gebildet hat. Der vermutlich im 11. Jahrhundert errichtete, heute noch bestehende Bau ersetzte die ursprüngliche Pfarrkirche (deren Glockenturm und alter Altar noch 1351 standen) und wurde zur Stiftskirche mit Propst und Chorherren. Das Kapitel, dessen Statuten auf 1398 zurückgehen, besass Zehntrechte vor allem in der Riviera, aber auch in der Leventina. Die 1468 belegte Kirche Santi Giacomo e Filippo im Dorfkern wurde wie viele andere profane und kirchliche Bauten Opfer der Verheerungen Anfang des 16. Jahrhunderts.

Der im Schloss nahe der Kapelle Santa Petronilla residierende Zweig der Orelli von Locarno erhielt vom Mailänder Domkapitel vermutlich schon im 12. Jahrhundert die Hoheitsrechte über Biasca, über welche die Orelli in der Folge wie über einen Erbbesitz verfügten. 1292 gelang es jedoch Biasca, den Wahlcharakter des Amtes durchzusetzen und damit einen entscheidenden Anstoss zur Entwicklung hin zur kommunalen Selbstverwaltung zu geben. Die Herrschaft der Orelli dauerte bis gegen Mitte des 14. Jahrhunderts, als Biasca ins Herrschaftsgebiet der Visconti eingegliedert wurde. Zunächst wurde der Ort zusammen mit dem Bleniotal der Bologneser Familie Pepoli abgetreten. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde Biasca das Recht eingeräumt, den Console zu wählen, der auf der Basis der Statuten (bekannt ist die Fassung von 1434) Gericht hielt. Dieses Recht wurde 1422 und in den folgenden Jahren bestätigt. Von einem Auszug Uris und Obwaldens 1403 nach dem Tod von Herzog Gian Galeazzo Visconti besetzt, wurde Biasca in die ennetbirgischen Herrschaften der beiden Orte eingegliedert, bis 1422 die Truppen der Visconti die Grenzen des Mailänder Staates wiederherstellten (Schlacht bei Arbedo). Nach einem erneuten Überfall der Urner 1439 erlangte die Ortschaft 1440 wieder die Gunst des Herzogs, und ab 1441 war Biasca Grenzort zur vorübergehend an Uri abgetretenen Leventina. Nach der Besetzung durch die Urner (1449) unterzeichnete Biasca 1450 ein Kapitulat mit Francesco Sforza, das die zuvor erweiterten Rechte bestätigte. Weitere Überfälle ereigneten sich 1466-1468 nach dem Tod Francesco Sforzas und vor allem während des Feldzuges von 1478. Wahrscheinlich wurde Biasca schon 1495 zusammen mit dem Bleniotal von den Eidgenossen annektiert. Ab 1500 war es Teil der Vogtei Riviera.

1512 schuf ein Bergsturz vom Monte Crenone nördlich der Ortschaft eine Talsperre, die 1515 unter dem Druck des aufgestauten Sees barst. Schwerste Schäden in der Region waren die Folge (Buzza di Biasca). Nicht zuletzt dank der günstigen Lage an den Strassen des Alpenverkehrs erholte sich die lokale Wirtschaft allmählich von dieser Katastrophe, der Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts mindestens drei grosse Pestepidemien folgten. Nach wiederholten Visitationen Karl Borromäus' wurde Biasca zu einem Zentrum, von welchem die tridentinische Reform in die Tre Valli ausstrahlte. Am Eingang zu den Alpentälern gelegen, spielte Biasca schon immer eine bedeutende Rolle beim regionalen und transalpinen Handelsverkehr, vor allem nachdem die Gotthardroute zu Beginn des 13. Jahrhunderts passierbar geworden war. Die Orelli erhoben in Biasca 1352 einen Zoll. In den folgenden Jahren ist die Existenz einer Sust für die Transitwaren bezeugt, während die Gemeinde eine Gebühr, den sogenannten forletto, auf den Warentransport erhob (1434). Haupteinnahmequellen waren – neben der Forstwirtschaft und des vor allem in der Ebene betriebenen Ackerbaus – Viehzucht (die Aufteilung der Alpen geht auf 1305 zurück) und Holzhandel (berühmt sind die Holzfäller, die sogenannten borratori des Pontironetals).

Die alte Kirche San Rocco und das Gemeindehaus in Biasca. Fotografie, um 1960 (Archivio storico comunale, Biasca).
Die alte Kirche San Rocco und das Gemeindehaus in Biasca. Fotografie, um 1960 (Archivio storico comunale, Biasca). […]

Die Errichtung des Strassennetzes (1815) und vor allem der Bau des Gotthardtunnels bewirkten einen wirtschaftlichen und demografischen Wandel. Biasca verlor seinen ländlichen Charakter. Kennzeichnend für die Geschichte von Biasca ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ist die beachtliche Anzahl von Atheisten sowie eine Reihe von Zwischenfällen antiklerikaler Art. Noch 1980 war Biasca die schweizerische Gemeinde mit dem höchsten Anteil an Konfessionslosen. Ursache dieses Phänomens ist wohl der Einfluss der Einwanderer und der Eisenbahnarbeiter im 19. Jahrhundert. Während einiger Jahrzehnte florierten die Seidenraupenzucht und die für die ganze Region besonders wichtige Granitindustrie, die dank des Eisenbahnnetzes einen Aufschwung erlebte und ihren Höhepunkt um 1900 erreichte. Im Gefolge dieser Industrialisierung brachen in Biasca die ersten Klassenkämpfe im Tessin aus, und es entstand ein starker Kern der Sozialistischen Partei. In der Nachkriegszeit setzte eine Aufschwungphase ein, die vor allem den Industriesektor (1990 43% der erwerbstätigen Bevölkerung) und den Dienstleistungssektor (56%) begünstigte, während die Landwirtschaft (1%) ihre Bedeutung fast vollständig verlor. Die gegenwärtige Entwicklung beruht zum einen auf den Betrieben in der Industriezone – der einzigen im Kanton mit dem Prädikat "von kantonaler Bedeutung" –, in welcher die Hochtechnologie die Lage verschiedener Produktionszweige spürbar verbessert hat. Zum anderen stützt sie sich auf den Tertiärsektor mit Biasca als Dienstleistungszentrum der Region Tre Valli. Mit der Einbeziehung Biascas in die Linienführung der neuen Alpentransversale (NEAT) dürfte sich seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur weiter verändern.

Quellen und Literatur

  • MDT, Ser. 2
  • Meyer, Blenio
  • G. End, «Biasca und Val Pontirone», in Jb. des Schweizer Alpenclub 57, 1922, 58-187; 58, 1923, 10-81
  • R. Amerio et al., S. Pietro di Biasca, 1967
  • V. Gilardoni, Il Romanico, 1967, 207-226
  • C. Magginetti, O. Lurati, Biasca e Pontirone, 1975
  • G. Chiesi, Lodrino, 1991
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Giuseppe Chiesi: "Biasca", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.09.2021, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/002248/2021-09-09/, konsultiert am 19.03.2024.