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Wucher

Unter Wucher versteht man gemeinhin übersetzten Zins. Der deutsche Begriff Wucher war ursprünglich weit gefasst von Ertrag und Frucht (Ackerfrucht, Leibesfrucht, Zuchttier) bis zu Gewinn (Profit, Zinsertrag). Die französischen und italienischen Termini usure und usura sind wie der lateinische Begriff usura (Gebrauch, Nutzung, Genuss, Geldkapitalzins) enger umrissen.

Mittelalter

Beim Geld- und Naturaldarlehen – und nur bei dieser Form des Kredits – haben Moraltheologie und kanonisches Recht jeden Zins als Wucher verurteilt. Was immer zur Darlehenssumme als Rückzahlung hinzukam, war usura. Dieser Kern der Lehre blieb im ganzen Mittelalter unverändert. Selbst die Kommentatoren des römischen Rechts, das nur überhöhte Zinsen als Wucher einstufte, haben aus diesem Widerspruch nicht die Folgerung der Erlaubtheit mässiger Darlehenszinsen gezogen. Andere Zinsformen, etwa bei Pacht- und Mietverhältnissen, waren hingegen unbedenklich.

Bezüglich der Einschätzung alternativer Kreditformen, die zu allen Zeiten eine bedeutendere Rolle spielten als das Darlehen, hat sich die Lehre im Verlauf des Mittelalters gewandelt, ebenso in der Beurteilung von besonderen Umständen, die eine Entschädigung des Kreditgebers beim Darlehen erlaubten. Wichtig wurden hier die verspätete Rückzahlung, das Risiko, der entstehende Schaden sowie - wenn auch sehr umstritten - der entgangene Gewinn.

Ein offenes Zinsdarlehen begegnet bereits unter Abt Werdo (784-812) von St. Gallen. Erfolglos verboten wurde immer wieder der Lieferungskauf, durch den die künftige Ernte schon auf dem Halm verkauft werden konnte, was noch im Spätmittelalter durch Schweizer Städte zur Verhinderung der Spekulation bekämpft wurde (Marktregulierung). Die Viehverstellung, bei der die Erträge (Milch, Käse, Kälber) von beliehenem Vieh zwischen dem Bauern und seinem Kreditor geteilt wurden, ist in der Schweiz vom 12. Jahrhundert an belegt (Acta Murensia); sie erlangte ab dem 14. Jahrhundert grössere Bedeutung, auch wenn Innerschweizer Alpgenossenschaften wegen der befürchteten Übernutzung gegen sie vorgingen. Wucherrechtlich erlaubt war sie, wenn der Kreditgeber auch am Risiko – insbesondere durch den Tod des beliehenen Tiers – beteiligt war.

Die wichtigste Kreditform des Hochmittelalters war die Satzung, die vor allem durch Klöster als Geldgeber in grossem Ausmass ausgeübt wurde. Bei der älteren Satzung bewirtschaftete der Gläubiger Pfandgüter und strich die Erträge als Verzinsung ein (Grundpfandrecht). Bei der neueren Satzung wurden die Güter vom Schuldner bewirtschaftet, der dem Gläubiger einen Teil des Ertrags ablieferte. 1163 verbot Papst Alexander III. die Zinssatzung. Erlaubt sollte nur die Totsatzung sein, bei der die Erträge von der Kreditsumme in Abzug gebracht wurden, diese also keine Verzinsung fand. Dennoch wurde die Zinssatzung über das Ende des Mittelalters hinaus praktiziert. Noch 1530 verlangte das Stadtrecht von Rheinfelden den Abzug der Erträge von der Leihsumme.

Im Spätmittelalter war im Gebiet der Schweiz der Rentenkredit die bedeutendste Form für Anleihen von Städten, Adel, Bürgertum, ja selbst von Bauern. Obwohl Renten im Kirchenrecht als Kaufgeschäft galten, bei dem der Käufer ein ewiges Rentenbezugsrecht erwarb, blieben wucherrechtliche Bedenken bestehen. «Wucherer» galt im Spätmittelalter als ehrenrühriges Schimpfwort, vor dem der Rat von Bern Käufer von Stadtrenten 1384 gesetzlich schützte. In Basel vertrat der Dominikaner Johannes Mulberg 1410 in einer Aufsehen erregenden Predigt die vorherrschende Lehre, gemäss der Ewig- und Leibrenten zulässig seien, ablösbare Renten aber als Darlehen unter das kanonische Zinsverbot fielen. Die Diskussion, die auch am Konzil von Konstanz Wellen warf, wurde durch Papst Martin V. 1425 entschieden: Auf Immobilien fundierte Renten zum üblichen Preis mit freiem Wiederkaufsrecht des Verkäufers seien nicht wucherisch. Dennoch flammte die Debatte gelegentlich wieder auf. 1430 ersuchte der Basler Dominikanerprior Johannes Nider den Heidelberger Gelehrten Job Vener um ein entsprechendes Gutachten. Auch das Basler Konzil befasste sich erneut mit der Frage. In einem nach 1454 verfassten Traktat erklärte der Zürcher Chorherr Felix Hemmerli Ewigrenten für sündenfrei, wenn dem Verkäufer das Wiederkaufsrecht aus Barmherzigkeit gewährt werde. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gerieten Ewigrenten unter Wucherverdacht. Das Recht des Wiederkaufs, also zur Ablösung der Schuld, erschien immer mehr als Voraussetzung für wucherrechtliche Unbedenklichkeit. Der Rentsatz bei Wiederkaufsrenten sank im Gebiet der Schweiz im Spätmittelalter von rund 7 auf 5%, bei Stadtrenten sogar zeitweise auf bis zu 4%; Ewigrenten wurden im 15. Jahrhundert nur etwa halb so hoch verzinst, Leibrenten aufgrund der Amortisationsquote doppelt so hoch wie Wiederkaufsrenten, da sie beim Tod der Leibrentner erloschen. Da Renten als Reallast an Immobilien bestellt werden mussten, kam diese Kreditform nur für Immobilienbesitzer in Frage.

Ausschnitt aus dem Totentanzzyklus in der Beinhaus- und Totenkapelle Wolhusen. Wandmalerei mit eingefügten echten Totenschädeln, um 1661 (Kantonale Denkmalpflege Luzern; Fotografie Theres Bütler).
Ausschnitt aus dem Totentanzzyklus in der Beinhaus- und Totenkapelle Wolhusen. Wandmalerei mit eingefügten echten Totenschädeln, um 1661 (Kantonale Denkmalpflege Luzern; Fotografie Theres Bütler). […]

Mit Schuldscheinen oder Faustpfändern waren jüdische und lombardische Kredite gesichert, deren wucherischer Charakter unbestritten blieb. Juden wie christliche Lombarden konnten solche Geschäfte nur aufgrund von fürstlichen und städtischen Privilegien betreiben. Die wirtschaftlichen Funktionen dieser Kredite waren angesichts der hohen Zinssätze beschränkt; geläufig waren schon im 14. Jahrhundert aufs Jahr gerechnet 43⅓%. Es begegnen auch günstigere Sätze, im 15. Jahrhundert etwa in Freiburg 32½%, in Winterthur und Zürich 22%. Geringere Sätze finden sich auch bei grossen Darlehen an Fürsten, Adlige und Städte. Hochverzinsliche Kredite eigneten sich nicht für Investitionen, da in keinem Wirtschaftsbereich entsprechende Renditen erzielt wurden. Im Spätmittelalter haben die Juden, deren Finanzkraft auch in der Schweiz durch die Pogrome der Pestzeit und die Judenschuldentilgungen entscheidend geschwächt wurde, die Städte, Kaufleute, Fürsten, Angehörigen des höheren Adels und Klöster als Kunden in weitem Ausmass verloren. Es blieb ihnen vor allem der kleine, kurzfristige Konsumptivkredit und der Kredit zur kurzfristigen Beschaffung flüssiger Mittel. Die Zahl jüdischer Geldverleiher ist in den Schweizer Städten schon vor ihrer im 15. Jahrhundert erfolgten Wegweisung zurückgegangen (Judentum). Ausweisungen wurden meist mit religiösen Bedenken begründet; daneben traten aber auch ökonomische Motive. Entgegen der häufig geäusserten Meinung sind nicht einheimische Geldverleiher an die Stelle der Juden getreten. Einheimische christliche Wucherer wurden gerichtlich belangt und gebüsst, so etwa 1412 und 1447 in Zürich sowie 1432, 1469, 1470 in Luzern. Städtische Satzungen verboten weiterhin strikt Darlehensgeschäfte. Zürcher Kunden wandten sich nach der Wegweisung weiterhin an Juden – nunmehr in Winterthur, Konstanz und anderswo. Ein Teil der jüdischen Darlehen dürfte durch zunehmende Warenlieferungen und Dienstleistungen durch Händler und Handwerker auf Kredit ersetzt worden sein.

Von der Frühneuzeit bis ins 21. Jahrhundert

Ab dem 15. Jahrhundert wurde das kirchliche Zinsverbot zunehmend umgangen, so mithilfe der Grundpfanddarlehen mittels bodenabhängiger Renten und vor allem der Gült, bei der ein belastetes Grundstück für die Erfüllung der periodischen Zinsleistung haftete, was nicht gegen das Zinsverbot verstiess, auch über die Pfandleihe, bei der Gebühren (Agio) statt Geldzinsen verlangt wurden, und in den Städten durch die amtlichen Stadtwechsel (Banken), welche die Dienste jüdischer oder lombardischer Kapitalverleiher verzichtbar machten. Als vom 16. Jahrhundert an private und öffentliche Gelder vermehrt zinsbringend anzulegen waren, erfuhr das verzinsliche Darlehen von reformierter Seite eine verhaltene Legitimation, während die katholische Seite das kirchliche Zinsverbot pragmatisch umging, sodass im Darlehensgeschäft zwischen reformierten und katholischen Orten keine grundsätzlichen Unterschiede bestanden. Hier wie dort blieb indes am Geldzins der Ruch der Widerrechtlichkeit haften, was Obrigkeiten bewog, den Kreditmarkt mit Wuchergesetzen als Teil der staatlichen Sittengesetze zu überwachen und Wucher wie Betrug zu bestrafen. Zum Schutz der Kreditnehmer wurde der Zinssatz für Geldzinsen vor allem bei Gülten auf 5% festgesetzt. Letzterer fiel ab dem 17. Jahrhundert, als Unternehmerkapital den ländlichen Kreditmarkt überschwemmte, trotz Verboten zwischenzeitlich auf 4 oder 3% und darunter.

Nach 1800 galten in den Kantonen die alten Wuchergesetze und Höchstzinssätze von 5% vorerst weiter. Mit der Freihandelsbewegung fielen die Zinsbeschränkungen aber dahin, was zwar umstritten war und in den Kantonen bald Gegenreaktionen auslöste, die auf die Wiedereinführung von Strafgesetzen abzielten. Zur Vorbeugung von Wucher errichteten die Kantone ab 1846 staatliche Hypothekarinstitute, welche die Landwirtschaft mit Investitutionskrediten versorgten, ähnlich wie auch die Viehleihkassen. Die Vergabe von Konsumtionskrediten wurde dagegen erschwert. Mit staatlichen Mobiliarleihkassen (Pfandhäusern) steuerten die Kantone den Warenwucher; sie unterstellten Pfandleiher sowie das gewerbsmässige Inkasso-, Abtretungs-, Darlehens- und Wechselgeschäft kantonaler Aufsicht. Der Bund überliess den Kantonen die Gesetzgebung gegen Wucher mit der Regelung, dass es dem öffentlichen Recht vorbehalten sei, Bestimmungen gegen Missbräuche im Zinswesen aufzustellen (Artikel 73 OR). Die ab den 1880er Jahren entstandenen kantonalen Wuchergesetze betrafen einzelne strafbare Tatbestände, unter anderem die Verschreibung höherer Summen als ausgeliehen, meist aber Zinsbeschränkungen bei Grundpfanddarlehen und vor allem den Kredit- und Geschäftswucher. Unter dem Einfluss der deutschen Rechtsentwicklung qualifizierte auch das Schweizerische Strafgesetzbuch es 1937 als Delikt (Artikel 157 StGB), wenn der Täter bei einem Vertragsabschluss die vorübergehende Notlage einer Person (Individualwucher) oder eine allgemeine Notsituation (Sozialwucher) ausnützt oder eine wucherische Forderung erwirbt, weiterveräussert oder geltend macht (Nachwucher), was mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, bei gewerbsmässigem Wucher mit ein bis zehn Jahren bestraft wird. Gemäss Artikel 21 OR kann eine Partei innerhalb eines Jahres von einem Vertrag zurücktreten, der ein offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung beinhaltet. Zinswucher wird im Bundesgesetz über den Konsumkredit von 2003 geregelt; der Höchstzinssatz liegt bei 15% pro Jahr.

Quellen und Literatur

Allgemein
  • C. Braun, Vom Wucherverbot zur Zinsanalyse, 1150-1700, 1994
  • HRG 5, 1538 f.
  • LexMA 9, 341-345
Mittelalter
  • J. Niquille, «Les prêteurs juifs de Morat à la fin du moyen âge», in NEF 60, 1927, 89-99
  • C. Bauer, «Diskussionen um die Zins- und Wucherfrage auf dem Konstanzer Konzil», in Das Konzil von Konstanz, hg. A. Franzen, W. Müller, 1964, 174-186
  • H.-J. Gilomen, «Kirchl. Theorie und Wirtschaftspraxis», in Itinera 4, 1986, 34-62
  • H.-J. Gilomen, «Wucher und Wirtschaft im MA», in Hist. Zs. 250, 1990, 265-301
  • F. Morenzoni, «Les prêteurs d'argent et leurs clients dans le Valais savoyard à la veille de la peste noire», in SZG 42, 1992, 1-27
  • H.-J. Gilomen, «Der Traktat "De emptione et venditione unius pro viginti" des Magisters Felix Hemmerlin», in Stud. zum 15. Jh., hg. von J. Helmrath, H. Müller, 1994, 583-605
  • H.-J. Gilomen, «Die ökonom. Grundlagen des Kredits und die christl.-jüd. Konkurrenz im SpätMA», in Ein Thema - zwei Perspektiven, hg. von E. Brugger, B. Wiedl, 2007, 139-169
  • J. Heers, La naissance du capitalisme au Moyen Age, 2012
Von der Frühneuzeit bis ins 21. Jahrhundert
  • HWSVw 3, 1964-1969
  • H. Hug, Der Wucher im schweiz. Strafrecht, 1937
  • V. Rickenbach, Der Wucher nach Art. 157 des schweiz. Strafgesetzbuches und sein Verhältnis zum Art. 21 des Obligationenrechts, Diss. Basel, 1953
  • J. Dilcher, Die Zins-Wucher-Gesetzgebung in Deutschland im 19. Jh., 2002
  • M.M. Laufen, Der Wucher (§ 291 Abs. 1 Satz 1 StGB), 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans-Jörg Gilomen; Anne-Marie Dubler: "Wucher", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.11.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017472/2014-11-18/, konsultiert am 18.04.2024.