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Sozialismus

Der Begriff des Sozialismus wird von Anhängern und Gegnern kontrovers verwendet und deshalb oft mit Attributen – zum Beispiel wissenschaftlicher Sozialismus, demokratischer Sozialismus – präzisiert. Er bezeichnet sowohl ein vielfältiges Ideensystem als auch eine breit gefächerte soziale Bewegung. Grundsätzlich gehen alle sozialistischen Strömungen davon aus, dass eine nicht regulierte (Marktregulierung) kapitalistische Marktwirtschaft entgegen der (neo)liberalen Theorie nicht zur Angleichung, sondern zur Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und zur Herrschaft des Kapitals über die Arbeit führt (Kapitalismus). Als Voraussetzung für die Befreiung von sozialer, politischer und ideologischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung wird dabei in radikaleren Varianten die soziale Gleichheit, in gemässigteren zumindest die Chancengleichheit angestrebt. Als Schlüssel dient fast immer eine gewisse Kontrolle der Produktionsmittel durch Genossenschaften (Genossenschaftsbewegung) oder den Staat, wobei Letzterer diese nicht zwingend als Eigentümer ausüben muss. Die unbegrenzte Konkurrenz und die Profitsucht privater Unternehmer soll eingedämmt werden. Themenschwerpunkte des sozialistischen Diskurses waren und sind die Rolle des Staats, der Charakter des Übergangs zu neuen Produktionsverhältnissen (Reform oder Revolution), das historische Subjekt (Arbeiter, Unterschichten, Mittelstand) sowie die Frage, ob die geschichtliche Entwicklung zwangsläufig zu sozialistischen Verhältnissen führe (Geschichtsdeterminismus). Als Ideensystem ist der Sozialismus international; schweizerische Denker haben dazu nur in Randgebieten beigetragen, etwa beim religiösen Sozialismus. Als soziale Bewegung dagegen prägte den Sozialismus auch das nationale oder regionale Umfeld.

Frühzeit bis in die 1880er Jahre

Schon im frühen 19. Jahrhundert tauchten neben konservativen auch linke Kritiker des aufstrebenden Liberalismus auf, die vor allem unter Handwerksgesellen Anklang fanden. Nicht selten liessen sie sich vom Christentum inspirieren. Zu den ersten populären Autoren gehörte der französische Priester Félicité de Lamennais. Sein Bändchen «Paroles d'un croyant» (deutsch «Worte eines Gläubigen») erschien in der Schweiz in drei Landessprachen in mehreren Auflagen (z.B. Genf, Lausanne, Bern, Zürich und Herisau 1834, Lugano 1848). Sein Traum von der Wiederherstellung einer angeblichen ursprünglichen Gleichheit entsprach dem vieler Handwerksgesellen. Wirkte Lamennais vor allem durch Pathos, so entwickelte der verarmte Adlige Claude Henri de Saint-Simon differenziertere Vorstellungen von einer Gesellschaft, die anstelle der Herrschaft über Menschen auf die Verwaltung von Sachen baut. Dies setzte die Emanzipation der arbeitenden Klasse voraus, wie er sie in seinem Werk «Le nouveau christianisme» (1825) am klarsten erläuterte. In der Schweiz beeinflusste der Saint-Simonist Philippe Buchez vor allem Pierre Coullery, der von ihm den Assoziationsgedanken übernahm.

Charles Fourier propagierte sogenannte Phalanstères, auf Landwirtschaft begründete wirtschaftliche Einheiten Gleichgestellter mit angeschlossenen Industriebetrieben. Er fand in Karl Bürkli einen begeisterten Anhänger, der 1855 sogar versuchte, das Konzept in Texas umzusetzen. Im Gegensatz zu dem von ihm mitgegründeten Konsumverein Zürich (Konsumvereine) scheiterte dieses Experiment. Bürkli weckte Herman Greulichs Interesse an Fouriers Ideen. In Le Locle bestand in den 1840er Jahren ein Phalanstère. Pierre Joseph Proudhon wollte mittels Gesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung (Mutualismus) die Verhältnisse umgestalten. Mit ihm fand vor allem in der Westschweiz der Anarchismus Verbreitung, der damals als sozialistische Strömung galt. Nach einem kurzen Höhenflug in der Frühphase der Internationalen Arbeiter-Assoziation IAA (Internationale) verschwand der Proudhonismus Ende der 1860er Jahre wieder. Die anarchistische Strömung wandte sich Michail Bakunin zu, der die Überwindung von sozialer Misere und Staat durch eine von der revolutionären Avantgarde geführte Volksbewegung propagierte. Der Brite Robert Owen zählte in der Schweiz weniger direkte Anhänger als die französischen Frühsozialisten. Seine Ideen verbreiteten sich primär über die Genossenschafts- und die frühe Gewerkschaftsbewegung (Gewerkschaften).

Als einziger bedeutender Frühsozialist wirkte der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling ab 1841 selbst in der Schweiz. Im Genferseegebiet verfasste er «Das Evangelium des armen Sünders», in dem er seine frühkommunistischen Gedanken mit dem Neuen Testament zusammenführte. Dies brachte ihn ab Juni 1843 in Zürich für fast ein Jahr ins Gefängnis. Dennoch wurde das Evangelium 1845 in Bern gedruckt. Ferdinand Lassalle dagegen fand in der Schweiz weniger Widerhall, obwohl seine Forderung nach staatlich unterstützten Produktionsgenossenschaften und seine Vorstellung vom ehernen Lohngesetz verschiedenenorts auftauchten. Louis Blancs Idee der Ateliers nationaux stiess vorab in der Westschweiz auf Zustimmung, während seine Forderung nach Recht auf Arbeit sogar zu einer der wichtigsten des schweizerischen Sozialismus im späten 19. Jahrhundert werden sollte. Mit der IAA fassten auch Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels in der Schweiz Fuss. Sie hatten den Vorteil, dass sie sich auf Erfahrungen der englischen Arbeiterbewegung und nicht auf abstrakte Theoreme stützten. So beinhalteten sie im Gegensatz zu vielen frühsozialistischen Strömungen eine positive Haltung gegenüber Streiks und politischen Aktionen, die in der Streikwelle der späten 1860er Jahre ihre praktische Bestätigung fand.

Schweizerische Sozialisten wie der junge Johann Jakob Treichler, Albert Galeer in seinen letzten Jahren oder Herman Greulich lieferten keine eigenständigen Beiträge zur internationalen Debatte. Eng waren ihre Verbindungen zur Demokratischen Bewegung (z.B. Karl Bürkli, Friedrich Albert Lange). Bei der Basis bestanden noch weniger konsistente Auffassungen vom Sozialismus als bei den Führungspersönlichkeiten. Meist wurden aus Broschüren, Zeitschriften und Vorträgen einzelne Elemente aufgenommen und eklektizistisch zusammengefügt.

Von den 1880er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg

Titelseite einer Schrift des Reformsozialisten Herman Greulich, veröffentlicht in Olten, 1921 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite einer Schrift des Reformsozialisten Herman Greulich, veröffentlicht in Olten, 1921 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Während der Frühsozialismus keineswegs nur eine Angelegenheit der Arbeiterbewegung war und sich diese umgekehrt nur teilweise auf den Sozialismus berief, begannen sich die Verhältnisse seit dem Auftreten der IAA zu ändern. Besonders die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufsteigenden Massenparteien, die sich in der Zweiten Internationale vernetzten, brauchten eine gewisse Geschlossenheit. Dabei setzte sich im deutschsprachigen Raum der Marxismus als Integrationsideologie durch, während in anderen Regionen Europas bis zum Ersten Weltkrieg andere Strömungen ihre Bedeutung behielten. Das galt auch für den westschweizerischen Parti socialiste und den Tessiner Partito Socialista, deren Führung bis in die Zwischenkriegszeit weit heterogener war als die der deutschschweizerischen SP. In Deutschland hatte der Begriff Sozialismus während der Reaktion nach der gescheiterten Revolution 1848-1849 zudem eine negative Konnotation erhalten. Er wurde deshalb anlässlich des Neuaufbaus der Arbeiterbewegung mit dem der Demokratie verbunden. So nannte der von Lassalle geprägte Allgemeine Deutsche Arbeiterverein sein Organ ab 1864 «Social-Democrat». Die 1869 in Eisenach gegründete neue Partei nannte sich Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Einen analogen Entscheid fällte auch die 1888 gegründete Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS). Das erste Programm, das der als ehemilger Freisinniger mit dem internationalen Sozialismus wenig vertraute Albert Steck verfasste, enthielt noch – für das 19. Jahrhundert typisch – verschiedenste Ansätze. Mit dem zweiten von 1904, das Otto Lang prägte, erlangte der Marxismus eine starke Stellung. Weil ihn einige der aufsteigenden Parteigrössen wie zum Beispiel Robert Grimm übernahmen und er in den Publikationen der SPS stark vertreten war, diente er auch in der Schweiz für einige Jahrzehnte als wichtigste Quelle des Sozialismus. Während er sich als Integrationsideologie bewährte, lieferte er in der verbreiteten, schematischen Form für Fragen der Sozialreform und Revolution wenig konkrete Anhaltspunkte. Daran änderten die Präzisierungen in den Parteiprogrammen von 1920 und 1935 ebenso wenig wie die theoretische Debatte in der 1921 gegründeten Zeitschrift «Rote Revue», in der viele Parteigrössen die eigene Politik reflektierten. So bildete sich eine Doppelstruktur zwischen einer Grundsatzdiskussion auf der Basis des Marxismus und einer stark durch die bürgerliche Hegemonie geprägten pragmatischen Politik heraus. Wie im 19. Jahrhundert kannten die meisten Sozialisten die Theorie weiterhin vorwiegend aus populären Broschüren, Zeitschriften und Vorträgen.

Titelseite einer Publikation von Charles Naine von 1918, mit einer Werbung für eine Buchhandlung und für eine sozialistische Druckerei in La Chaux-de-Fonds und Lausanne (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite einer Publikation von Charles Naine von 1918, mit einer Werbung für eine Buchhandlung und für eine sozialistische Druckerei in La Chaux-de-Fonds und Lausanne (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Ab Ende der 1870er Jahre verbreitete sich auch in der Schweiz der Begriff Staatssozialismus, der aus der deutschen wissenschaftlich-publizistischen Auseinandersetzung um die Sozialpolitik kam. Anders als im Kaiserreich fand er in der Schweiz nicht im konservativen, sondern im radikal-demokratischen Lager Anklang. Dabei wurde aber betont, dass die Ziele ganz andere seien als im eigentlichen Sozialismus. Als nach der Jahrhundertwende der sozialpolitische Eifer beim Freisinn erlosch, verschwand der Begriff wieder. Er wurde allerdings in der Zwischenkriegszeit von der konservativen Rechten erneut aufgenommen, nun aber zur Diffamierung sozial denkender bürgerlicher Politiker verwendet (Etatismus).

Publikation des Pfarrers Leonhard Ragaz, eines der Begründer der religiös-sozialen Bewegung, veröffentlicht 1907 in Zürich (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Publikation des Pfarrers Leonhard Ragaz, eines der Begründer der religiös-sozialen Bewegung, veröffentlicht 1907 in Zürich (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Um die Jahrhundertwende gewann mit dem religiösen Sozialismus eine neue Strömung an Boden. Dieser setzte auf den gesellschaftsverändernden Charakter der biblischen Botschaft. Sein führender Theoretiker Leonhard Ragaz fand über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. In der Praxis stand die religiös-soziale Bewegung mit ihrem ethisch fundierten Sozialismus meist der Sozialdemokratie nahe.

Während des Ersten Weltkriegs und vor allem nach 1917 öffnete sich ein tiefer Graben zwischen Sozialismus und Kommunismus. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte es zwar Phasen gegeben, in der diese Differenzierung stärker betont worden war. So hatten sich zum Beispiel Marx und Engels in den 1840er Jahren für die Bezeichnung Kommunismus entschieden, um später wieder zum Begriff des Sozialismus zurückzukehren. Während eines grossen Teils des 20. Jahrhunderts waren die beiden Richtungen aber inkompatibel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg entfiel eines der grundlegenden Probleme, das die Debatte um den Sozialismus seit dem frühen 19. Jahrhundert genährt hatte, weitgehend: Der sozialpolitisch abgefederte Kapitalismus erwies sich als fähig, das Massenelend zu überwinden und sogar eine gewisse soziale Sicherheit zu gewährleisten. Daraus ergab sich für viele Sozialisten ein Orientierungsverlust. In einigen Ländern – in der Schweiz eher moderat – versuchte die Arbeiterbewegung, ihre alten sozialistischen Postulate wie die Infragestellung des Privateigentums an Produktionsmitteln und den Abbau der Fremdbestimmung der Arbeitnehmer durch den auf Ausgleich der Konjunkturzyklen und damit auf Vermeidung von Arbeitslosigkeit zielenden Keynesianismus zu ersetzen. Nicht selten trat der steigende Lebensstandard an die Stelle der alten Ideale. An den theoretischen Debatten beteiligten sich kaum mehr Exponenten der etablierten Linken. Ende der 1950er Jahre schlug sich die Neuorientierung in der Programmatik sozialistischer Parteien nieder. In ihrem farblosen Programm von 1959 gruppierte die SPS um den zentralen Begriff Mensch Forderungen wie Produktivitätssteigerung, Vollbeschäftigung, gerechte Verteilung, Demokratisierung, Steuergerechtigkeit, Konjunktursteuerung, soziale Sicherheit oder Chancengleichheit. Ein alternativer Orientierungshorizont fehlte dem auch formal uneinheitlichen Text.

Die Studenten- und Jugendbewegung nahm Ende der 1960er Jahre die Debatte um den Sozialismus wieder auf. Dabei belebte sie zahlreiche historische Ideen neu, etwa die der Genossenschaftsbewegung, des Anarchismus, des Rätesozialismus und nicht zuletzt den Marxismus in verschiedenen Varianten. Texte aus der gesamten Tradition, vom Frühsozialismus bis zum Maoismus (Linksradikalismus), wurden breit diskutiert. Als Spätfolge nahm die SPS 1982 den «Bruch mit dem Kapitalismus» ins Programm auf. In zunehmendem Masse flossen Umweltfragen in die Debatte ein (Ökosozialismus). Die neue Beschäftigung mit dem Sozialismus hielt nicht lange an. Der in der Schweiz über einen starken Rückhalt verfügende Neoliberalismus rückte seinen Marktfundamentalismus in den Vordergrund. Seine Wirkung wurde durch den Zusammenbruch der sich auf den Sozialismus berufenden Systeme in Mittel- und Osteuropa Ende der 1980er Jahre noch verstärkt. Zwar konnte damit der westliche Sozialismus zunehmend weniger in die Nähe undemokratischer Politik gerückt werden. Auf der anderen Seite drängte der Triumph des kapitalistischen Markts in diesem Weltteil seine Kritiker weltweit in die Defensive. Zudem erleicherte der Wegfall der Systemkonkurrenz Angriffe auf soziale Errungenschaften. Ein alternatives Wirtschaftsmodell schien ferner denn je. Diesem Druck konnte sich auch die Linke nicht entziehen. Die den Sozialismus fast zwei Jahrhunderte prägende Voraussetzung, wonach der ungebändigte Kapitalismus zu einer Konzentration von Einkommen und Vermögen in den Händen weniger führe, wurde vermehrt in Frage gestellt. Welche Folgen der inzwischen auch statistisch nachweisbare Trend zur Ungleichheit für die sozialistische Debatte zeitigt, bleibt abzuwarten.

Quellen und Literatur

  • R. Grimm, Gesch. der sozialist. Ideen in der Schweiz, 1931 (21978)
  • M. Gridazzi, Die Entwicklung der sozialist. Ideen in der Schweiz bis zum Ausbruch des Weltkrieges, 1935
  • G. Pedroli, Il socialismo nella Svizzera italiana, 1963 (32004)
  • Schweiz. Arbeiterbewegung, 1975
  • Gruner, Arbeiter
  • W. Schieder, «Sozialismus», in Geschichtl. Grundbegriffe 5, 1984, 923-996
  • Les origines du socialisme en Suisse romande, hg. von C. Cantini et al., 1989
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Sozialismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017463/2013-01-08/, konsultiert am 19.03.2024.