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Neoliberalismus

Unter Neoliberalismus versteht man unterschiedliche Wirtschaftstheorien und -politiken, die auf gemeinsamen Prinzipien basieren: Privateigentum an Produktionsmitteln (Eigentum), freier Markt, effektive Wettbewerbsordnung (Wettbewerb) sowie entsprechende gesetzliche und institutionelle Ordnung. Der Markt wird, anders als im alten Liberalismus, nicht mehr als naturgegeben, sondern als politisch konstruiert und stabilisiert gesehen. Die Ansichten zur Rolle des Staats divergieren stark, sie gehen vom Laisser-faire bis zur weitreichenden Intervention für die Marktordnung. Langfristig wird zwar von einer Harmonie von Marktwirtschaft und politischer Demokratie ausgegangen; autoritäre Systeme oder gar Diktaturen, die die angestrebte Wettbewerbsordnung fördern, werden aber als Übergangsmassnahmen nicht abgelehnt. Entscheidend ist der Widerspruch zwischen liberaler Wirtschaftsordnung und Staatsintervention (Etatismus), unabhängig davon, ob es sich um Sowjetkommunismus oder demokratische Formen wie Keynesianismus handelt. Der Sozialstaat hat keinen Wert an sich, sondern ist allenfalls ein Faktor im Standortwettbewerb.

Der Begriff Neoliberalismus tauchte in der Zwischenkriegszeit auf, zum Beispiel 1925 in der Studie «Volkswirtschaftliche Gedankenströmungen» des Zürcher Ökonomen Hans Honegger. Ab Anfang der 1930er Jahre mehrten sich Versuche, einen neuen Liberalismus zu begründen. Unterstützung bot nicht zuletzt das von William Emmanuel Rappard geleitete Institut universitaire de hautes études internationales in Genf. Die Bemühungen verdichteten sich 1938 beim Colloque Walter Lippmann, wo dessen Werk «The Good Society» (1937) diskutiert wurde und sich die künftigen Protagonisten auf die Bezeichnung Neoliberalismus für ihr Projekt einigten. Sie gründeten 1947 auf dem Mont Pèlerin bei Vevey die Mont Pèlerin Society (MPS), die ein weltweites Netzwerk von bestehenden Institutionen und Neugründungen, vor allem Stiftungen und sogenannte Thinktanks, aufbaute. Die Schweizer Rappard und Albert Hunold beteiligten sich massgeblich an deren Organisation und Finanzierung. Letzterer führte im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung in Zürich 1948-1960 das Sekretariat der MPS. Diese tagte mehrmals in der Schweiz, so 1949 und 1953 in Seelisberg, 1957 in St. Moritz und 1972 in Montreux. In der MPS stellten die Schweizer eines der grössten Kontingente, wozu meist Redaktoren der «Neuen Zürcher Zeitung» gehörten.

In der MPS rivalisierten lange vor allem die anglo-amerikanische Richtung der Chicagoer Schule (u.a. Milton Friedman) und der österreichischen Schule (u.a. Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises) mit den Ordo-Liberalen der Freiburger Schule (u.a. Walter Eucken, Wilhelm Röpke). Lange verfügten nur Letztere über politischen Einfluss, mussten dafür aber ihre Doktrin als soziale Marktwirtschaft verwässern. Der weltweite Durchbruch des Neoliberalismus erfolgte in den 1970er Jahren, als das interventionistische Instrumentarium nicht mehr die gewünschte Wirkung zeitigte. Wissenschaftlich manifestierte sich der Erfolg in einer Reihe von Nobelpreisen (1974 Hayek, 1976 Friedman usw.). In der Schweiz verbreitete sich der Neoliberalismus an den Universitäten und in einigen wirtschaftsnahen Parteien wie denjenigen der Freisinnigen, der Liberalen und später in der SVP. Wirtschaftspolitisch etablierte er sich ab 1975 in Chile unter Augusto Pinochet und ab 1979 in Grossbritannien unter Margaret Thatcher. Mit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft im Osten Europas gewann er geografisch und politisch stark an Einfluss. In der Schweiz erregten vor allem die beiden von namhaften Wirtschaftsführern getragenen Weissbücher «Schweizerische Wirtschaftspolitik im internationalen Wettbewerb» (1991) und «Mut zum Aufbruch» (1995) Aufsehen, die eine weitgehende Deregulierung (Marktregulierung) verlangten. Zum seit 1979 mit bescheidenen Mitteln arbeitenden Liberalen Institut kam 1999 der von Grossunternehmen gut ausgestattete Thinktank Avenir Suisse hinzu. Gegen Ende der 1990er Jahre mehrten sich negative Bewertungen, es war sogar vom Ende des Neoliberalismus die Rede. Ideologisch ist dieser aber in Wissenschaft und Politik solide verankert, wenn auch oft pragmatisch entschärft. Die sich ab 2008 zunächst im Zusammenbruch der Finanzmärkte manifestierende Krise scheint seine Stellung allerdings schwer zu erschüttern.

Quellen und Literatur

  • Globalisation, néo-libéralisme et politiques publiques dans la Suisse des années 1990, hg. von A. Mach, 1999
  • B. Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft, 2004
  • Triumph und Elend des Neoliberalismus, hg. von K. Imhof, T.S. Eberle, 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Neoliberalismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.04.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017462/2010-04-20/, konsultiert am 28.03.2024.