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Anstand

Anstand meint das von einer Gesellschaft mehr oder weniger ausdrücklich verlangte äussere Verhalten sich selbst und anderen gegenüber. Nichtbeachtung kann Missbilligung, Spott und andere soziale Sanktionen nach sich ziehen. Das «Conversationslexikon» von 1851 definierte Anstand als äusserliches Benehmen, als körperliche Haltung, die jedem Menschen je nach Alter, Geschlecht und seinen Lebensverhältnissen «ansteht oder auch von diesen erzeugt und so zum äussern Erkennungszeichen» wird.

Eine wohlhabende Zürcher Familie nimmt eine Mahlzeit gemäss den Vorgaben der «Tischzucht» ein. Radierung von Conrad Meyer, erschienen 1645 im Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Eine wohlhabende Zürcher Familie nimmt eine Mahlzeit gemäss den Vorgaben der «Tischzucht» ein. Radierung von Conrad Meyer, erschienen 1645 im Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Zu einem eigenen Verhaltensideal entwickelte sich der Anstand erst in der frühen Neuzeit, als tugendhafte Moral (honestum) und äussere Formen des Verhaltens (decorum) allmählich getrennt und ausdifferenziert wurden. Sowohl in den mittelalterlichen Tugendlehren und sogenannten Zuchten für die höfisch-ritterlichen Eliten als auch in den Zunftordnungen waren Tugenden und äusseres Benehmen als Einheit verstanden worden. Im 15. Jahrhundert lösten sich mit dem Niedergang der höfischen Kultur die an das Rittertum gebundenen Vorstellungen von gesittetem bzw. höflichem Verhalten von der alten Trägerschaft und verwandelten sich in allgemeine Ideale, die über den Adel hinaus auf die weitere Bevölkerung ausstrahlten. Ein Anstoss, vor allem das Benehmen des städtischen Bürgertums intensiver zu regulieren, ging vom Humanismus aus. Um eine gleichmässige und stabile Kontrolle des Verhaltens zu erreichen, setzte er verstärkt auf Selbst- statt auf Fremdzwang. Grosse Wirkung kam dabei der Schrift «De civilitate morum puerilium» von Erasmus von Rotterdam zu, dessen Anweisungen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder kopiert oder den jeweiligen Forderungen der Zeit angepasst wurden. Rasch fanden sie Eingang in die frühbürgerlichen Tisch- und Kinderzuchten, zum Beispiel in jene Zürichs von 1539 (Ess- und Trinksitten). Inbegriff des zivilisierten Menschen blieb aber bis Ende des 18. Jahrhunderts der höfische Mann, der Cortegiano, der sich dank seiner Technik anmutiger Repräsentation, durch kluge Beherrschung der sozialen Kontakte und Höflichkeit in der Gesellschaft zu behaupten und seine Interessen durchzusetzen wusste. Anmut, Klugheit und Höflichkeit behielten in abgewandelter Form im Ideal des Honnête homme bzw. Gentleman bis ins 19. Jahrhundert ihre Gültigkeit ― in der republikanischen Schweiz mangels einer höfischen Kultur allerdings weniger ausgeprägt als im übrigen Europa.

Zusammen mit der Etikette und dem Zeremoniell mit ihren eindeutigen Vorgaben für das Handeln und Sprechen bei gesellschaftlichen oder politischen Anlässen bildeten die höfischen wie bürgerlichen Anstandsregeln in der frühen Neuzeit so etwas wie eine Grammatik des Verhaltens: Sie definierten die korrekte Form und die Bedeutung von Handlungen in Interaktionen. Die totale Reglementierung des Verhaltens bis zur Wahl der richtigen Eingangs- und Schlusskomplimente in Briefen sollte dem Benutzer in allen Situationen Umgangssicherheit und Situationsroutine vermitteln. Die Verpflichtung der verschiedenen Stände zu einem gewissen Anstand war asymmetrisch. Während Ranghöhere gegenüber Geringeren nicht an alle Regeln gebunden waren, hatten Rangtiefere Höheren gegenüber die Anstandsregeln strikter zu beachten. Diese Asymmetrie äusserte sich auch in unterschiedlichen Schamgrenzen, etwa beim Entblössen, das vor Dienstboten unproblematisch war, nicht aber vor seinesgleichen.

Ein neues Verhaltenskonzept entwickelte die Aufklärung mit ihrem Interesse für die Gleichheit und das Glück aller Menschen. Wider das pessimistische Menschenbild der Barockzeit legte sie Geselligkeit und Menschenliebe allen Beziehungen als natürliche Bestimmung zugrunde und verlangte, dass äussere Höflichkeit dem Prinzip der Offenheit und Natürlichkeit weiche. So sprachen sich zum Beispiel auch die Mitglieder der 1762 gegründeten Helvetischen Gesellschaft mit «Freunde, Brüder und Eidgenossen» an und legten auf einen freundschaftlichen Umgangsstil Wert (Titel). Doch die mit diesen neuen Prinzipien verbundene Infragestellung der hierarchischen Ordnung war für die Aufklärer wie für die aufstrebenden bürgerlichen Klassen ambivalent und führte im sozialen Kontakt zu Unsicherheit und Ungewissheit. Diesen Erfahrungen nahm sich die im ausgehenden 18. Jahrhundert entstehende Gesellschaftsliteratur an. Indem sie Ratschläge für das Fortkommen in einer Welt gab, die weiter nach Herkunft, Rang, Vermögen und Geschlecht hierarchisiert war und blieb, versuchte sie dem bürgerlichen Mann – die Frauen waren noch kaum angesprochen – zu helfen, seine Anstandspflichten so zu erfüllen, dass er damit nicht nur selbst an gesellschaftlichem Ansehen gewann, sondern auch die Reputation und Respektabilität der mittleren Klassen insgesamt anhob. Mit dem Ziel der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen, versuchte sie ihren Lesern das Verhältnis zwischen abstrakter (bürgerlicher) Gleichheit aller Menschen und konkreter Verschiedenheit bzw. Freiheit zur Differenz zu erklären und gleichzeitig praktikable Verhaltensstile und Umgangsformen zu vermitteln. Paradigmatisch fassbar ist dieser Zwiespalt zwischen aufklärerisch-utopischer Weltsicht und konkreten Handlungsanleitungen in Adolph von Knigges Buch «Über den Umgang mit Menschen» (1788).

Mit dem Rückgang der Aufklärungseuphorie, mehr noch aufgrund der negativen Bilanz oder der Suche nach relativer Sicherheit verloren offene Umgangsformen schon im frühen 19. Jahrhundert an Gewicht. Die Forderungen nach Beherrschung von Körper, Mimik und Gesten verstärkten sich wieder und die von programmatisch-aufklärerischen Zielen gereinigte neue Anstandsliteratur suggerierte dem ambitionierten Kleinbürger, mit Ehrgeiz, Willenskraft und erlernbaren guten Sitten aufsteigen zu können. Anstand wurde in ideologischer Überhöhung zu einem selbstbestimmten und intentionalen Unternehmen. Ganz besonders galt dies für die Schweiz, wo mit dem Aufstieg der bürgerlichen Mittelklassen um die Mitte des 19. Jahrhunderts die von der bürgerlichen Elite im gesellschaftlichen wie privaten und geschäftlichen Umgang vorgelebten Verhaltensweisen und propagierten Werte wie Bescheidenheit, Zurückhaltung oder Sparsamkeit explizit als Vorbilder empfohlen wurden. Als Mass und Ziel allen Verhaltens bedeutete bürgerlicher Anstand zuerst, Haltung zu zeigen und zu bewahren, d.h. seinen Körper, seine Affekte und Emotionen zu beherrschen. Wer in der bürgerlichen Gesellschaft reüssieren wollte, musste bis ins Erwachsenenalter eine korrekte Haltung und gemässigte Körpersprache erlernt haben. Vor allem an das Benehmen der Frauen und an ihre Selbstkontrolle wurden höhere Anforderungen gestellt als an die Männer, nicht nur in den spezifisch an Frauen und Töchter gerichteten Manierenbüchern, die nach 1850 das Schwergewicht vermehrt auf äussere Formen, Konversation und Etikette, auf Mode- und Gesellschaftsfragen legten und die Geistes- und Herzensbildung anderer Literatur überliessen. Haltung und gute Manieren im Umgang mit Gleich- oder Höhergestellten symbolisierten im Bürgertum Selbstbeherrschung, Standfestigkeit, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit, kurz Anständigkeit und Respektabilität. Bürgerliches Benehmen und korrekte Haltung dienten aber auch als Mittel der Selbstdarstellung und Abgrenzung gegen unten. Mit dem Anspruch, dass die unteren Klassen ihr Verhaltensrepertoire bürgerlichen Vorstellungen angleichen sollten, behielt Anstand einen universellen Charakter.

Die Anstandsregeln waren jedoch auch ein wichtiges Mittel zur Sozialdisziplinierung, gerade in der Schweiz, wo republikanisch-demokratische Einfachheit im Benehmen schon nach 1850 in Familienratgebern als eigenständiger Wert hervorgehoben wurde und in nationaler Abhebung eine gewisse Distanz zur vornehmen Welt der aristokratisch-grossbürgerlichen Eliten bzw. der internationalen Highsociety signalisierte. 1933 erschien dann der erste schweizerische Knigge. Die allgemein einsetzende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verstärkte auch im übrigen Europa nach 1918 eine gewisse Homogenisierung und Vereinfachung der Anstandsregeln. Trotz gleichbleibender (klein-)bürgerlicher Ausrichtung gaben sich die Anstandsbücher nun völlig klassenlos, apolitisch und ahistorisch und beanspruchten allgemeine Gültigkeit. (Klein-)bürgerliche Anstandsnormen wurden damit noch stärker als im 19. Jahrhundert nach unten verlagert. Die Kulturrevolution der 1960er Jahre lockerte mit ihren an die Aufklärung mahnenden Idealen von Natürlichkeit und Spontaneität im Verhalten sich selbst wie anderen gegenüber die traditionellen Anstands- und Verhaltensregeln auf und verstärkte die Tendenz zur Individualisierung und Pluralisierung im äusseren Benehmen.

Quellen und Literatur

  • Die kluge und einsichtige Schweizerin vom bürgerl. Stande, 1865 (61880)
  • F. Rathgeb, Allg. Haus- und Familiensekr., 61868
  • E. Rocco, Der Umgang in und mit der Gesellschaft, 51885
  • R.S. Müller-Müller, Goldene Regeln für den Verkehr in der Guten Gesellschaft, 1903
  • A. Guggenbühl, Der schweiz. Knigge, 1933 (2001, überarbeitete und erweiterte Aufl.)
  • N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., 21969 (181993)
  • H. Heckendorn, Wandel des Anstands im franz. und im dt. Sprachgebiet, 1970
  • U. Im Hof, F. de Capitani, Die Helvet. Ges., 2 Bde., 1983
  • H.-V. Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden, 1984
  • M. Beetz, Frühmoderne Höflichkeit, 1990
  • U. Döcker, Die Ordnung der bürgerl. Welt, 1994
  • A. Tanner, Arbeitsame Patrioten ― wohlanständige Damen, 1995
  • V. D'Urso, Le buone maniere, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner: "Anstand", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.08.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017436/2012-08-23/, konsultiert am 18.03.2024.