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Malthusianismus

Auf den Theorien des englischen Pfarrers Thomas Robert Malthus aufbauende Lehre, gemäss der das Bevölkerungswachstum die wirtschaftlichen Ressourcen nicht übersteigen sollte. Zur Begrenzung der «Überbevölkerung» forderte Malthus ein höheres Heiratsalter, sexuelle Enthaltsamkeit und die Abschaffung der Armenfürsorge. Sein Hauptwerk «An Essay on the Principle of Population» (1798) fand ab der zweiten Auflage (1803) grossen Nachhall. Für das Kapitel über die Schweiz stützte sich Malthus auf die 1766 veröffentlichten Arbeiten des Pfarrers Jean-Louis Muret und bereiste 1802 selbst das Land, insbesondere das Vallée de Joux und die Genferseeregion.

Die Verbreitung seines Werks förderte die Entwicklung der Volkswirtschaft an den Schweizer Hochschulen. Die erste französische Übersetzung (1809) verfasste Pierre Prevost, Professor an der Genfer Akademie. Zur Neuauflage 1845 steuerte der ebenfalls dort lehrende Jurist Pellegrino Rossi eine lobende Einleitung bei. Der Lausanner Professor Louis Frédéric Berger forschte zu Armut im Kanton Waadt («Mémoire sur le paupérisme dans le canton de Vaud» 1836) und der Waadtländer Pfarrer Charles Achinard schrieb einen Essay, in dem er statistische Erhebungen zur Bevölkerung forderte. Stefano Franscini, ein weiterer Pionier der wissenschaftlichen Statistik, publizierte 1827 in Lugano die Schrift «Statistica della Svizzera» und legte später als Bundesrat die Fundamente für die Schaffung des eidgenössischen Statistischen Büros 1860 (Statistik). Malthus, ein Verfechter des Laissez-faire, entfaltete in «Principles of Political Economy» (1820) weitere, auf dem Grundsatz von Angebot und Nachfrage basierende ökonomische Modelle, die jedoch erst in den 1930er Jahren von den Keynesianern beachtet wurden.

Der Neomalthusianismus – der Begriff entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Synonym für Geburtenregelung – wurde zunächst von Ökonomen und Politikern vertreten, die die Armenfürsorge abschaffen und die Bevölkerungspolitik auf die Bedürfnisse der Wirtschaft abstellen wollten. Zur Förderung der sozialen Emanzipation verbreiteten Anhänger von Malthus ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Informationen über Verhütungsmittel. In Frankreich setzte diese Entwicklung erst Ende des 19. Jahrhunderts ein. Die 1896 gegründete Ligue pour la régénération humaine wollte vor allem die Arbeiterorganisationen erreichen. In der Schweiz bewirkte sie die Gründung der Zeitschrift «La Vie intime», die der sozialistische Genfer Abgeordnete und Schriftsteller Valentin Grandjean von 1908 bis 1914 in einer Auflage von fast 10'000 Exemplaren in Genf herausgab und die häufig zensuriert wurde. Die Neomalthusianer gründeten ebenfalls in Genf das Institut Hygie, dessen Anzeigen für den Verkauf von Hygienezubehör vor dem Ersten Weltkrieg die Arbeiterpresse landesweit übersäten. In vielen Städten übernahmen fortschrittliche Ärzte die Ideen der Ligue pour la régénération humaine.

Charles Darwins Forschung verschob das Gewicht von der quantitativen Begrenzung hin zur qualitativen Selektion der «Angepassten». Dieser Ansatz wurde von sogenannten Sozialdarwinisten und Eugenikern weiterentwickelt. Der sozialistische Sexologe und Psychiater Auguste Forel propagierte die Anwendung malthusianischer Zwangsmassnahmen auf schwache und «erbkranke» Menschen (Eugenik). Der malthusianische Ausdruck «Überbevölkerung» liegt dem Begriff «Überfremdung» zu Grunde, der die Schweiz im 20. Jahrhundert nachhaltig prägte und in den statistischen Tabellen der Landesausstellung von 1939 auftauchte.

Malthus' Einfluss auf die schweizerische Volkswirtschaft, Demografie und Statistik ist noch nicht eingehend erforscht. In diesen Disziplinen ging die Trennung zwischen Wissenschaft und politischem Aktionismus nur langsam vonstatten. 1947 verfasste Wilhelm Bickel die erste grössere historische Studie über die Bevölkerungspolitik.

Quellen und Literatur

  • C. Brüschweiler, Wir als Viermillionen-Volk, 1939
  • W. Bickel, Bevölkerungsgesch. und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des MA, 1947
  • W. Rappard, Economistes genevois du 19e siècle, 1966
  • F. Preiswerk, «Auguste Forel 1848-1931», in Les annuelles 2, 1991, 25-50
  • U. Gaillard, A. Mahaim, Retards de règles, 1983, 91-158
  • E. Allegra, La propagande néo-malthusienne à Genève à travers son organe, Liz. Genf, 1995
  • H.U. Jost, Von Zahlen und Macht, 1995
  • C. Heimberg, "L'œuvre des travailleurs eux-mêmes?", 1996, 421-442
  • Malthus, Medicine & Morality, hg. von B. Dolan, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Ursula Gaillard: "Malthusianismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.03.2011, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017430/2011-03-02/, konsultiert am 28.03.2024.