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Anarchismus

Der Anarchismus kämpft für eine Neuorganisation der Gesellschaft, basierend auf Freiheit und Autonomie der Individuen, die sich auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene zu freien Produktionsgemeinschaften zusammenschliessen. Er strebt die Kollektivierung der Produktionsmittel an sowie, dies im Gegensatz zum Marxismus und zum Sozialismus, die Abschaffung des Staates. In der Schweiz entstand die erste anarchistische Strömung innerhalb der Fédération jurassienne der Ersten Internationalen, unter dem Einfluss von Michail Bakunin und mit der Unterstützung von Aktivisten wie James Guillaume und Adhémar Schwitzguébel. Der Untergang der Fédération jurassienne 1882 markierte einen Wendepunkt.

Der Anarchismus der 1880er und 1890er Jahre war geprägt durch eine wachsende Zahl kleiner autonomer Gruppen, denen mehrheitlich Ausländer angehörten (Italiener um Errico Malatesta, Deutsche um Johann Most) und die periodisch durch Ausweisungen dezimiert wurden. 1879-1885 verfügte die Bewegung über ein eigenes Organ, dem in Genf durch Petr Kropotkin gegründeten und durch Jean Grave weitergeführten "Le Révolté". Die anarchistischen Aktivitäten lösten schon bald staatliche Reaktionen aus: 1885 führte eine anonyme Drohung, das Bundeshaus in die Luft zu sprengen, zu einer umfassenden Untersuchung, die jedoch mit der Entlastung des Angeklagten endete. 1889 wurden einige militante Anarchisten wegen Verbreitung anarchistischer Appelle angeklagt, von den Bundesassisen aber freigesprochen. Nachdem in der Nationalversammlung in Paris eine Bombe detoniert war, billigte die Bundesversammlung 1894 eine Ergänzung des schweizerischen Strafrechts, das sogenannte Anarchistengesetz, welches eine wirksamere Verfolgung anarchistischer Straftaten zuliess. Das neue Gesetz wurde 1900 gegen den "Almanacco socialista-anarchico" von Carlo Frigerio, Luigi Bertoni und Emile Held angewandt. Heftige Emotionen löste die Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich durch einen italienischen Anarchisten im September 1898 in Genf aus. Der Bundesrat verwies einige Dutzend erklärter und mutmasslicher Anarchisten des Landes. Zudem schickte er einen Vertreter an die internationale Konferenz in Rom (November-Dezember 1898) und beteiligte sich an den dort vereinbarten technischen Massnahmen zur polizeilichen Zusammenarbeit. Ein 1904 in St. Petersburg geschlossenes Geheimabkommen präzisierte und ergänzte die in Rom getroffenen Massnahmen. Der Kampf gegen den Anarchismus diente zuweilen auch als Vorwand, gegen die Sozialisten vorzugehen (ein Gesetzesentwurf gegen den Antimilitarismus scheiterte jedoch am Referendum). Da sich Italien (Silvestrelli-Affäre) und andere Staaten über in der Schweiz erschienene Publikationen beschwerten, in denen Mord an Staatsoberhäuptern und andere anarchistische Verbrechen verherrlicht wurden, verabschiedeten die eidgenössischen Räte 1906 ein Gesetz gegen die Anstiftung zu solchen Aktivitäten. Der Anarchismus diskreditierte sich zuweilen auch selbst: zum Beispiel 1907 durch einen Überfall in Montreux oder 1907 und 1908 in Lausanne mit der Erpressung von Geld durch russische Anarchisten.

Blattkopf des Le Réveil. Holzschnitt von Alexandre Mairet (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
Blattkopf des Le Réveil. Holzschnitt von Alexandre Mairet (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).

Zum Sprachrohr der Anarchisten entwickelte sich der ab 1900 unter der Leitung von Luigi Bertoni zweimal im Monat erscheinende "Le Réveil/Il Risveglio". Nach der Jahrhundertwende traten die meisten Anarchisten Gewerkschaften bei, um diese für ihre Überzeugung zu gewinnen, und beteiligten sich aktiv an deren Kämpfen (Generalstreiks von Genf 1902, Lausanne und Vevey 1907). Sie kamen dort mit Aktivisten der sozialistischen Bewegung wie etwa Henri Baud zusammen und gründeten gemeinsam die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung Fédération des Unions Ouvrières de la Suisse romande. Ungefähr dreissig Anarchisten gründeten im Dezember 1906 die Fédération communiste anarchiste de la Suisse romande. 1908 zählte sie rund 200 Mitglieder, verteilt auf Gruppen in La Chaux-de-Fonds, Neuenburg, Saint-Julien (F), Genf, Lausanne, Vevey, Montreux sowie in den Kantonen Freiburg und Wallis. Neben der Richtung des "Le Réveil" entstanden andere Gruppierungen, die der Gewerkschaftsbewegung reservierter oder gar ablehnend gegenüberstanden. In Lausanne gründeten 1910 einige Anarchisten die Ferrer-Schule, die ein paar Dutzend Arbeiterkinder unterrichtete. Auch in der Deutschschweiz und im Tessin gab es mehr oder weniger langlebige Gruppen, in Zürich zum Beispiel um Fritz Brupbacher. 1903-1908 erschien dort "Der Weckruf", zuerst als Beilage zum "Réveil" konzipiert. Dem kleinen Kern hinter diesem Blatt gelang es jedoch nicht, es am Leben zu erhalten.

"Si vis pacem ...". Plakat der Edition du Réveil in Genf, kurz vor dem Ersten Weltkrieg (Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann).
"Si vis pacem ...". Plakat der Edition du Réveil in Genf, kurz vor dem Ersten Weltkrieg (Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann). […]

Der Erste Weltkrieg spaltete die Anarchisten: Während "Le Réveil" und Bertoni dem Internationalismus treu blieben, ergriffen andere im Gefolge von Kropotkin für die Entente Partei. Zu ihnen gehörte Jean Wintsch, der 1915-1919 in Lausanne die monatlich zweimal erscheinende Zeitschrift "La Libre Fédération" herausgab. Diese Spaltungen sowie die Zurückhaltung gegenüber der Oktoberrevolution, später die Feindseligkeit gegenüber dem bolschewistischen Regime wie auch die Inhaftierung Bertonis 1918-1919 können erklären, weshalb der Anarchismus als selbstständige Kraft 1915-1921 in der Arbeiterbewegung fehlte. Der Linksradikalismus tendierte trotz seiner libertären und antiautoritären Ausrichtung viel eher zum Kommunismus als zum Anarchismus.

In der Zwischenkriegszeit hielt sich die anarchistische Bewegung vor allem in der Westschweiz und zeichnete sich durch ihre antifaschistische Haltung aus. Einige Vertreter der neuen Generation hielten den Anarchismus innerhalb der Arbeiterbewegung zwar noch aufrecht, ihre Ernennung zu Gewerkschaftsfunktionären führte jedoch zu Spannungen mit Bertoni und seinen Leuten des "Réveil", zum Beispiel bei den Brüdern Tronchet in Genf. Das 1940 erlassene Verbot jeglicher anarchistischer Tätigkeit konnte das heimliche Erscheinen von Publikationen ("Le Réveil" erschien ohne Titel bis 1945) nicht verhindern. 1945 war die Bewegung jedoch praktisch am Ende, und als Bertoni 1947 starb, verschwand der Anarchismus als Teil der Arbeiterbewegung. Von 1960 an entstanden da und dort kleine Zirkel, darunter die Gruppe Ravachol, die an die Tradition der Attentate anknüpfte (1961 spanisches Konsulat in Genf). Die Studenten- und Jugendbewegungen nach 1968 nahmen zwar in ihrer libertären und antiautoritären Haltung gewisse Anliegen des Anarchismus auf, ohne jedoch der alten Bewegung zu neuem Leben zu verhelfen. Seit 1957 sammelt und bewahrt das Centre international de recherches sur l'anarchisme (CIRA) in Lausanne Dokumente zum Anarchismus.

Quellen und Literatur

  • J. Langhard, Die anarchist. Bewegung in der Schweiz von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und die internat. Führer, 1903, (Neudr. 1975)
  • R.R. Bigler, Der libertäre Sozialismus in der Westschweiz, 1963
  • H.U. Jost, Linksradikalismus in der dt. Schweiz, 1914-1918, 1973
  • M. Vuilleumier, «Le syndicalisme révolutionnaire en Suisse romande», in Ricerche storiche, NS 1, 1975, 43-73
  • H.U. Jost, Die Altkommunisten, 1977
  • M. Vuilleumier, Horlogers de l'anarchisme, 1988
  • I. Hutter, S. Grob, «Die Schweiz und die anarchist. Bewegung», in "Zuflucht Schweiz", hg. von C. Goehrke, W.G. Zimmermann, 1994, 81-119
Weblinks

Zitiervorschlag

HLS DHS DSS: "Anarchismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.06.2002, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017399/2002-06-17/, konsultiert am 19.03.2024.