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Demokratische Bewegung

Als Demokratische Bewegung bezeichnet man die revisionistischen Kräfte der 1860er Jahre, die sich in verschiedenen Kantonen gegen die Kontrolle des Staatswesens durch das im Freisinn (Freisinnig-Demokratische Partei, Liberalismus) repräsentierte, etablierte Bürgertum richteten und das von diesem vertretene Repräsentativsystem durch direktdemokratische und staatsinterventionistische Einrichtungen ersetzen wollten. Diese sollten die Grundlage für eine harmonische Zukunft der in der Nation geeinten Gesellschaft bilden. Sozioökonomisch kann die Demokratische Bewegung als Reaktion der betroffenen Schichten auf die Auswirkungen fortschreitender Industrialisierung und freier Konkurrenz verstanden werden.

Politische Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes (Politische Rechte) wie das Veto, das Referendum und die Volksinitiative waren in einzelnen Kantonen bereits während der Regeneration verankert worden. Dagegen verlangten oppositionelle Gruppen im Kanton Zürich 1845-1854 vergeblich die Erweiterung der Volksrechte sowie staatliche Interventionsmöglichkeiten in wirtschaftlichen und sozialen Belangen. Ihre Gegner bezeichneten diese Kreise 1854 erstmals mit dem Begriff Demokratische Bewegung.

Die Demokratische Bewegung im engeren Sinn fand in den industrialisierten Kantonen der Nordwest- und der Ostschweiz statt, wo sich die Demokraten mit ihrer Forderung nach einer verstärkten direktdemokratischen Kontrolle des politischen Geschehens als Oppositionspartei von den Radikalen abspalteten. Dagegen spielten sich in der Westschweiz und im Agrarkanton Bern die Auseinandersetzungen mehrheitlich zwischen Liberalen und Radikalen bzw. zwischen Links- und Rechtsradikalen ab.

Die Träger der Demokratischen Bewegung stammten überwiegend aus dem ländlichen und kleinstädtischen Bürgertum. Sie waren Handwerker, kleine Industrielle, Bauern, aber auch Arbeiter. Die programmatische und organisatorische Führung lag weitgehend bei der ländlichen Intelligenz (Lehrer, Pfarrer, Redaktoren, Beamte, Ärzte, Juristen, Fabrikanten), die ihre Ideen in der eigenen, auch auf der Landschaft präsenten Presse propagierte.

Der Forderungskatalog enthielt politische, ökonomische und soziale Postulate. Nach dem Motto «Alles für das Volk, alles durch das Volk!» sollte die politische Kontrolle von Regierung, Parlament, Justiz und Verwaltung sowie die Beteiligung des Volkes am politischen Entscheidungsprozess über eine direktdemokratische Erweiterung der Verfassung erlangt werden. Dazu gehörten die Verfassungsinitiative, die Gesetzesinitiative und das Gesetzesreferendum, die Volkswahl nicht nur des Parlaments, sondern auch der Exekutive und Judikative, die Amtszeitbeschränkung für Beamte, die Erweiterung des Stimm- und Wahlrechts sowie die Einführung eines Taggelds für Parlamentsmitglieder. Die Reform des Schulwesens (Volksbildung, kostenloser Schulbesuch) sollte den Staatsbürger zur Ausübung seiner Rechte befähigen, die unentgeltliche Volksbewaffnung ihn auch militärisch an der Nation beteiligen.

Die wirtschaftspolitischen Forderungen entsprachen der aktuellen ökonomischen Notlage, die durch Teuerung, Verschuldung, Konkurse sowie Kapitalknappheit und hohe Zinsen für Kredite gekennzeichnet war. Abhilfe sollten ein gerechteres Steuersystem (Abschaffung indirekter Steuern, Einführung der Vermögens- und Erbschaftssteuer mit Progression), die Revision der Schuldbetreibung und die Senkung des Salzpreises schaffen, neu zu errichtende Kantonalbanken sollten günstige Kredite gewähren.

Die sozialen Forderungen wurden von der Intelligenz ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Die entschiedensten Demokraten sahen im Staatssozialismus, d.h. in der verfassungsmässig verankerten staatlichen Intervention zugunsten sozial und wirtschaftlich Benachteiligter wie der Arbeiterschaft, dem Landproletariat und den verschuldeten Bauern ein Mittel zur Lösung der sozialen Frage. Die Forderungen umfassten neben den Bildungs- und Kreditpostulaten Massnahmen zum Schutz der Arbeiterschaft (Fabrikgesetzgebung, Sozialversicherung) sowie die staatliche Finanzierung von Genossenschaften.

Sieg der Demokratie über die Bürokratie. Karikatur erschienen im Spiegel aus dem Baselbiet, Beilage der Zeitung Der Baselbieter, vom 27. August 1865 (Universitätsbibliothek Basel).
Sieg der Demokratie über die Bürokratie. Karikatur erschienen im Spiegel aus dem Baselbiet, Beilage der Zeitung Der Baselbieter, vom 27. August 1865 (Universitätsbibliothek Basel). […]

Auslösende Momente, Interessen, Ziele sowie Durchschlagskraft und Ergebnisse der Demokratischen Bewegung waren kantonal verschieden. Dagegen glichen sich Verlauf und – mit der Einberufung von Volksversammlungen sowie mit der Einreichung von Petitionen und Verfassungsrevisionsbegehren – gewählte Mittel. Es entstanden Volksbewegungen, an denen Vereine stark beteiligt waren. Die Aktionen wurden von Komitees geleitet, von der Presse unterstützt, teilweise durch Pamphlete angeheizt. Dabei wurden über tradierte Bilder des kollektiven Gedächtnisses (z.B. das «Volk» gegen die «Herren») auch überkommene Konfliktlinien wirksam.

Die Demokratische Bewegung begann 1861 im Kanton Basel-Landschaft, wo ein Landratsbeschluss über die Wiedervereinigung mit Basel-Stadt zu einem Konflikt führte, in dessen Verlauf die Opposition die Totalrevision der Verfassung verlangte. 1862 forderten im Kanton Bern die Gegner eines Grossratsentscheids zur Streckenführung der Linie Bern-Biel ein Plebiszit über die bernische Eisenbahnpolitik sowie die Einführung des Referendums. Ebenfalls im Jahr 1862 führte im Kanton Aargau ein Gesetzesvorschlag des Grossen Rats für die rechtliche Gleichstellung der Juden zu einer Protestbewegung. Dabei wurde das geplante Gesetz verworfen, der Grosse Rat abberufen und der Übergang zur (halb-)direkten Demokratie vollzogen. Im gleichen Jahr folgten auch im Kanton Luzern Bestrebungen für eine Verfassungsrevision. Im Kanton Genf kam es 1861-1864 zu ähnlichen, zum einzigen Mal blutigen und letztlich erfolglosen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen sowie den mit ihnen verbündeten Demokraten (indépendants) und der radikalen Regierung. Ihren Höhepunkt hatte die Demokratische Bewegung im Kanton Zürich im Kampf gegen das sogenannte System Escher. 1860 im kleinen Kreis begonnen, gewann sie im Sommer 1867 unter anderem in der Folge einer Choleraepidemie in Zürich eine breite Anhängerschaft; Anfang 1868 erreichte sie die Zustimmung zur Totalrevision der Verfassung. Die Zürcher Ereignisse beeinflussten 1868 auch im Kanton Thurgau die direktdemokratischen Bestrebungen.

Erfolgreich war die Demokratische Bewegung in den Kantonen Basel-Landschaft, Zürich und Thurgau, wo neue, direktdemokratische Verfassungen gutgeheissen wurden und – in Baselland nur kurzzeitig – Neuwahlen zu einem Machtwechsel führten, wobei nun Personen ohne Vermögen in politische Führungspositionen gelangten. In den anderen Kantonen vermochte die Opposition nicht all ihre Forderungen durchzusetzen: 1863 wurden in Luzern die Verfassungsinitiative und das fakultative, 1869 in Bern und 1870 im Aargau das obligatorische Gesetzesreferendum eingeführt. Im Aargau wurden zudem Einschränkungen der bestehenden Gesetzesinitiative beseitigt. Die Demokratische Bewegung führte aber auch in Kantonen ohne Volksbewegungen wie Schaffhausen, Solothurn und St. Gallen zu direktdemokratischen Verfassungsrevisionen, während in der Waadt in den 1860er Jahren liberal-konservative wie radikale Regierungen demokratische Forderungen umsetzten. Abgesehen von den Landsgemeindekantonen kannten in den 1870er Jahren nur noch das Tessin, Freiburg und Genf reine Repräsentativsysteme.

Parallel zur Demokratischen Bewegung organisierten sich ab 1865 in der sogenannten Männer-Helvetia (eine Gruppe Politiker vom linken Flügel des Radikalismus) gleichgerichtete Revisionskräfte auf Bundesebene. Die Auseinandersetzung mit den sogenannten Bundesbaronen fand – intensiviert durch aussenpolitischen Reformdruck – mit der Totalrevision der Bunderverfassung 1874 ihren erfolgreichen Abschluss. Damit waren auch auf Bundesebene direktdemokratische Forderungen umgesetzt und die Grundlagen für eine bundesstaatliche Sozial- und Wirtschaftspolitik geschaffen worden. Nachdem die Demokratische Bewegung ihre Ziele erreicht hatte, löste sie sich auf. Das politische Bündnis der unterschiedlichen sozialen Gruppen bestand jedoch mittelfristig weiter, bis sich zuerst die Arbeiter, später die Bauern und das Gewerbe selbstständig organisierten. Die demokratischen Parteien, die programmatisch an die Demokratische Bewegung anknüpften, entstanden – mit Ausnahme derjenigen im Kanton Zürich – ab den 1880er Jahren.

Quellen und Literatur

  • P. Gilg, Die Entstehung der demokratischen Bewegung und die soziale Frage, 1951
  • R. Blum, Die politische Beteiligung des Volkes im jungen Kanton Baselland (1832-1875), 1977
  • E. Gruner, Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert, 21980
  • M. Schaffner, Die Demokratische Bewegung der 1860er Jahre, 1982
  • T. Koller, Volksbildung, Demokratie und soziale Frage, 1987
  • H.U. Ziswiler, Die Demokratisierung des Kantons Aargau zwischen 1830 und 1885, 1992
  • D. Decurtins, S. Grossmann, «Still! ihr Frösche im Sumpf!» Die Bedeutung kommunikativer Vernetzung für die Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft untersucht anhand der Demokratischen Bewegung der 1860er Jahre im Kanton Zürich, Lizenziatsarbeit Zürich, 1993
  • Die Ursprünge der schweizerischen direkten Demokratie, hg. von A. Auer, 1996
  • B. Weinmann, Eine andere Bürgergesellschaft, 2002
  • A. Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte 2, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Markus Bürgi: "Demokratische Bewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.01.2020. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017382/2020-01-06/, konsultiert am 19.03.2024.