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Mordnächte

Nächtliche Überfälle ohne vorangegangene Aufkündigung des Friedens gab es in der Geschichte immer wieder und überall, von der Sizilianischen Vesper in Palermo 1282 über die Pariser Bluthochzeit 1572 (Bartholomäusnacht) bis zur Niederschlagung des sogenannten Röhm-Putsches 1934 im Bad Wiessee (Bayern). Auch im Gebiet der Eidgenossenschaft und ihrer Umgebung ist eine Reihe solcher Ereignisse aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit überliefert. Sie berichten davon, dass Städte in verräterischer Weise bei Nacht überwältigt werden sollten (um 1240 Zofingen, 1332 Luzern, 1350 Zürich, 1368 Bern, 1382 Solothurn, 1388 Weesen und Rapperswil, 1444 Brugg, 1445 Mellingen, 1448 Rheinfelden, 1468 Lindau, 1474 Stein am Rhein, 1476 Yverdon und Neuenburg, 1602 Genf). Nur wenige der Überfälle sind quellenmässig bezeugt. Auffällig ist, dass die meisten Überfälle durch einen glücklichen Zufall rechtzeitig entdeckt und vereitelt worden sind.

Die Zürcher Mordnacht vom 23. auf den 24. Februar 1350 in der Chronik von Benedikt Tschachtlan, 1470 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Ms. A 120, S. 227).
Die Zürcher Mordnacht vom 23. auf den 24. Februar 1350 in der Chronik von Benedikt Tschachtlan, 1470 (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Ms. A 120, S. 227). […]

In der Stadtchronistik des 15. Jahrhunderts wurden solche Überfälle gebrandmarkt als «nachtes unwiderseit» (d.h. ohne vorangegangene Absage) sowie «mortlich (d.h. verräterisch) und boslich». Die Bezeichnung «mordnacht» ist erstmals in einer um 1440 redigierten Fassung der «Zürcher Chronik» fassbar, die auf Ereignisse in Zürich im Jahr 1350 Bezug nimmt. Das Wort wurde von der eidgenössischen Chronistik des 16. Jahrhunderts übernommen. In den Sprachgebrauch dürfte es durch Aegidius Tschudis um 1570 verfasste und 1734-1736 gedruckte «Schweizer Chronik» gekommen sein.

Das bereits erwähnte Geschehen in Zürich ist aus zeitgenössischen Quellen hinreichend bekannt. In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 1350 versuchten die 1336 nach der Brun'schen Zunftrevolution aus der Stadt vertriebenen Adligen «nachtes bi slafender diet» (d.h. als alles Volk schlief) Zürich wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Anschlag scheiterte, die Angreifer wurden hart bestraft. In Luzern sind am 25. Juli 1343 Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Herrschaft Habsburg und Freunden der Eidgenossen bezeugt, doch ist aus den Quellen keine Klarheit über die Vorgänge zu gewinnen. Gemäss den im Anschluss an den «uflouff» gefassten Beschlüssen von Rat und Gemeinde wurden Sonderverbindungen zwischen einzelnen Bürgern, Opposition gegen den Bund mit den Eidgenossen sowie Infragestellung der Stadtfreiheiten unter Strafe gestellt. Laut der Chronik des Johannes von Winterthur dagegen vertrieb das Stadtvolk (populares) sieben mächtige Bürger (potenciores), die dem Herzog von Österreich feindlich gesinnt waren, aus der Stadt. Später wurden diese Ereignisse in der Luzerner Geschichtstradition vorverlegt: Sie wurden mit dem Abschluss des Luzernerbunds vom 7. November 1332 in Verbindung gebracht und somit auf das gewandelte historische Selbstverständnis abgestimmt. Das Bündnis Luzerns mit den drei Waldstätten galt nunmehr als Kampfbund gegen Habsburg, dessen Zustandekommen die Anhänger der Herrschaft Österreich zu verhindern trachteten. Das Geschehen wurde zur Mordnacht erklärt und mit sagenhaften Zügen ausgestattet: Der Knabe, der die Verschwörer belauscht hatte, gab sein Geheimnis dem Ofen in der Trinkstube der Metzger preis, alarmierte damit die ahnungslosen Freunde der Eidgenossen und rettete so die Stadt. Der Luzerner Petermann Etterlin legte diese Version in seiner 1507 gedruckten Chronik vor und datierte das Geschehen auf den 29. Juni 1332. Aegidius Tschudi stützte sich weitgehend auf Etterlin, sah aber in der Mordnacht den Versuch, das Bündnis mit den Eidgenossen rückgängig zu machen und datierte sie auf den 29. Juni 1333.

Das Luzerner Beispiel zeigt, wie aus einem historischen Kern eine abgerundete Geschichtserzählung werden konnte. Eine vereitelte Mordnacht demonstrierte die wunderbare Rettung der Stadtfreiheit aus tödlicher Gefahr. Modellfälle wie die Zürcher Mordnacht waren bekannt, und nach Bedarf konnte ein analoges Geschehen an geeigneter Stelle in jede Stadtgeschichte eingefügt werden. Auch alten Fest- und Rechtsbräuchen, deren ursprüngliche Bedeutung nicht mehr bekannt war, wurden Mordnächte unterschoben, ja sogar unverständlich gewordene Nachtwächterrufe auf solche zurückgeführt. Die Mordnacht wurde zu einem Element im Motivkatalog der älteren städtischen Geschichtsschreibung und lebt vereinzelt in Form jährlich wiederkehrender Feste (Escalade) bis heute fort.

Quellen und Literatur

  • F. Vetter, «Der Übergang der Stadt Stein am Rhein an Zürich und die Eidgenossenschaft - "No e Wili" und die schweiz. Mordnächte», in ZTb NF 44, 1924, 1-61
  • H. Rindlisbacher, Mordnächte in der Eidgenossenschaft, Liz. Basel, 1979
  • Hwb. des dt. Aberglaubens 6, 1987, 574 f.
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernhard Stettler: "Mordnächte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.11.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017153/2009-11-24/, konsultiert am 28.03.2024.