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Sozialenqueten

Vom Ancien Régime bis Anfang des 20. Jahrhunderts befassten sich vor allem die philanthropischen Gesellschaften mit der Beobachtung der sozialen Verhältnisse, allen voran die 1810 gegründete Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. Doch auch die zu Steuer- und Militärzwecken von den Behörden durchgeführten Volkszählungen konnten Massnahmen der öffentlichen Fürsorge zur Folge haben, etwa in der Preispolitik und in der Getreideversorgung während Krisenjahren. Die 1764 von Bern organisierte Volkszählung sollte neben demografischen Daten einen Überblick über den Pauperismus im Kanton vermitteln. Demgegenüber erfassten die grossen Sozialenqueten der Helvetischen Republik zu den Schulen und Kirchgemeinden soziale Probleme nicht direkt.

Im 19. Jahrhundert wurde das Sozialleben zunehmend gesetzlich und reglementarisch normiert. Um die nötigen Informationen zu beschaffen, beauftragten die Behörden entweder eigens eingesetzte Ad-hoc-Kommissionen oder Experten. So wurde im Kanton Waadt vor der Ausarbeitung eines Fürsorgegesetzes 1835 und 1836 eine Enquete zum Pauperismus durchgeführt. Die Sozialenqueten des 19. Jahrhunderts behandelten verschiedene Bereiche, wobei solche zu den Fabriken und zur Wohnsituation (Arbeitersiedlungen) besonders häufig und umfangreich waren.

Bericht für die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Zürich von Victor Böhmert, 1868 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Bericht für die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Zürich von Victor Böhmert, 1868 (Schweizerische Nationalbibliothek).

Ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessierten sich die Behörden vor allem für die Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Sozialenqueten lieferten die Grundlagen für neue Gesetze, zum Beispiel 1834 und 1868 in Zürich und 1868 in St. Gallen. Das Eidgenössische Statistische Bureau machte 1868 eine landesweite Umfrage zur Kinderarbeit in den Fabriken, mit Fragen zu Arbeitszeiten, Lohn, Schulbildung, Art der Arbeiten und gesundheitlicher Versorgung. Gleichzeitig wurden anlässlich der Weltausstellungen in Paris und Wien 1867 bzw. 1873 im Auftrag des Bundes zwei weitere Sozialenqueten durchgeführt. Die erste, von Gustave Moynier koordinierte Enquete befasste sich mit den Arbeiterinstitutionen, die zweite, von Victor Böhmert geleitete erhob Daten zu Fabriken und Arbeitsbedingungen. Beide Autoren stützen sich auf ein weites Korrespondentennetz und arbeiteten rein qualitativ. Die regelmässige und systematische Kontrolle der Arbeitsbedingungen in den Fabriken wurde 1878 eingeführt, nachdem das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 in Kraft getreten war und drei Fabrikinspektoren dessen Vollzug überwachten.

Bericht über die Wohnsituation in Lausanne, verfasst von André Schnetzler, 1894 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Bericht über die Wohnsituation in Lausanne, verfasst von André Schnetzler, 1894 (Schweizerische Nationalbibliothek).

Ende des 19. Jahrhunderts führten Urbanisierung und Landflucht zu einem starken sozialen Gefälle in den Städten. Verschiedene Stadtregierungen sahen sich angesichts von Elendsquartieren und drohenden Cholera-, Typhus- und Tuberkuloseepidemien zum Handeln gezwungen und organisierten Gesundheitsinspektionen, um die Mängel aufzuzeigen. Politisch erfuhren diese Inspektionen aus unterschiedlichen Motiven breite Unterstützung: Die einen sahen sie als Möglichkeit, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und zu erziehen, die anderen als Mittel, die stossenden sozialen Probleme anzuprangern. 1889 liess Basel unter der Leitung von Karl Bücher eine Enquete mit Modellcharakter durchführen; es folgten 1894 Lausanne, 1896 Zürich, Bern und Winterthur, 1897 St. Gallen und Luzern sowie 1900 Vevey. Zur Auswertung der statistischen Daten wurden Informationen beigezogen, die bei Besuchen vor Ort eingeholt werden konnten, so zum Beispiel zum allgemeinen Zustand der Häuser und Wohnungen oder zur Nutzung der einzelnen Zimmer. Diese Sozialenqueten hatten jedoch nur wenig greifbare politische Folgen.

Die grossen Sozialenqueten wurden mit der allmählichen Institutionalisierung von Wirtschafts- und Sozialstatistiken sowie der Verwendung neuer statistischer Instrumente (Statistik), zum Beispiel des Lebenskostenindex, hinfällig. Auch das Misstrauen der bürgerlichen Elite gegenüber der Soziologie in der Zwischenkriegszeit trug zum Verschwinden der Sozialenqueten bei.

Quellen und Literatur

  • G. Heller, "Propre en ordre", 1979
  • B. Fritzsche, «Vorhänge sind an die Stelle der alten Lumpen getreten», in Schweiz im Wandel, 1990, 383-396
  • B. Koller, "Gesundes Wohnen", 1995
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Busset: "Sozialenqueten", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.03.2011, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016605/2011-03-02/, konsultiert am 29.03.2024.