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Arbeiterwohlfahrt

Unter Arbeiterwohlfahrt wird ein breites Spektrum von Massnahmen und Leistungen subsumiert, mit deren Hilfe seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht wurde, die durch den Industrialisierungsprozess bedingten sozialen Probleme zu mildern und den «arbeitenden Klassen» ein Mindestmass an sozialer Sicherheit zukommen zu lassen. Es handelt sich dabei um freiwillige Anstrengungen privater Unternehmen mit für- und vorsorglicher Zielsetzung. Die entsprechenden Unterstützungsangebote unterscheiden sich von gesetzlichen und arbeitsvertraglichen Leistungen durch das Fehlen eines Rechtsanspruchs.

Die Entstehung der Arbeiterwohlfahrt

Titelseite des zweibändigen Pionierwerks von Victor Böhmert, erschienen in Zürich, 1873 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite des zweibändigen Pionierwerks von Victor Böhmert, erschienen in Zürich, 1873 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Der Auf- und Ausbau der Arbeiterwohlfahrt muss im breiteren Kontext einer moralish motivierten Volksaufklärung situiert werden. Dieselben unternehmerisch-bürgerlichen Oberschichten, die Wohlfahrtseinrichtungen für «ihre» Arbeiter schufen oder propagierten, engagierten sich häufig auch in gemeinnützigen Organisationen wie der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, welche die Lösung der sozialen Frage ebenfalls in der Erziehung der «arbeitenden Klassen» zu einer rationellen Lebensführung anstrebten.

Entsprechend plastisch erweist sich die Definition der statistisch während langer Zeit nicht und auch heute nicht vollständig erfassten «Wohlfahrtseinrichtungen». Ein Bericht des deutschen Nationalökonomen Viktor Böhmert über die «Arbeitsverhältnisse und Fabrikeinrichtungen in der Schweiz» (1873) zählt eine grosse Vielfalt von Institutionen auf: Arbeiterwohnungen, Kantinen und Wohlfahrtshäuser, Abgabe von Pflanzland, Kleinspitäler, verbilligte Warenangebote, Fabrikärzte, Badegelegenheiten, Kindergärten und Kinderkrippen, Schulgelder, Weihnachtsbescherungen und Firmenausflüge, Bibliotheken und Lesezimmer, Betriebskrankenkassen, Unterstützungsfonds für verschiedene Zwecke, Arbeitgeberbeiträge an Sparkassen, Lebensversicherungen für Arbeiter, Sterbegelder, Witwen- und Waisenunterstützung sowie (prototypische) Pensionskassen. In anderen Abhandlungen werden weiter dazu gerechnet: finanzielle Gratifikationen (wie z.B. ein 13. Monatslohn und Formen der Gewinnbeteiligung), Ferien, Firmensport, berufliche Weiterbildungsmassnahmen und ― als institutioneller Ausdruck für die mit der Arbeiterwohlfahrt verbundene unternehmenspolitische Zielsetzung ― die Arbeiterkommissionen, die ab 1890 vor allem in exportorientierten Branchen eine zunehmend wichtigere Rolle in den «industriellen Beziehungen» spielten.

Arbeiterwohlfahrt als «Klassenkampf von oben»

In den drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erfuhr die Arbeiterwohlfahrt auch in der Schweiz eine starke Ausdehnung. In dieser Phase gerieten ihre Wahrnehmung und ihre Funktion allerdings stark in das Spannungsfeld des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit. Auf der Seite der Unternehmer liess sich eine Mischung von paternalistischem Verantwortungsbewusstsein und kapitalistischen Nützlichkeitserwägungen beobachten. Dem auf allgemeine Lohnerhöhungen abzielenden Forderungssozialismus der aufstrebenden Arbeiterbewegung wurden spezifische Hilfsmassnahmen entgegengesetzt, die von volkspädagogischen Appellen an die Selbstverantwortung begleitet waren. Zudem sollte die Arbeiterwohlfahrt, wie sie die Unternehmer verstanden, auch dem Aufbau einer zuverlässigen Stammbelegschaft dienen und die sozialen und psychologischen Voraussetzungen für ein gutes Betriebsklima sicherstellen. Darüber hinaus sahen die bürgerlichen Politiker in diesen privatwirtschaftlich-freiwilligen Massnahmen eine Alternative zu den staatlichen, weswegen sie auch unter dem Oberbegriff «Sozialpolitik» zusammengefasst wurden.

Der linken Kritik an dieser Form der Arbeiterwohlfahrt lag ein diametral entgegengesetztes Bewertungsmuster zugrunde. Pauschalisierend war hier von «Wohlfahrtsschwindel» die Rede. Die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Presse beschwor immer wieder das Gleichnis vom armen Lazarus, der von den Abfällen vom Tisch der Reichen leben muss. Solche Bilder, die in der Vorstellungswelt der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielten, zeigen, dass «wohltätigkeitstriefende» Massnahmen offenbar besonders geeignet waren, die Inferioritätsgefühle der Lohnabhängigen zu stärken.

Die Arbeiterbewegung lehnte die Arbeiterwohlfahrt aus drei Gründen ab: Erstens erkannte sie in den entsprechenden Massnahmen «goldene Fesseln», welche die Betriebsbindung stärken, die Loyalität der Belegschaft gegenüber dem Fabrikherrn steigern und damit Streikbereitschaft, Arbeitsmarktmobilität und Lohnniveau senken sollten. Zweitens lehnte sie «Dank» bzw. «Gnade» ab und forderte statt dessen «Rechte». Der unternehmerische «Herr-im-Haus»-Standpunkt sollte mit Hilfe staatlicher Sozialpolitik und tarif- bzw. gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen gebrochen werden. Drittens befürchtete die Linke eine bewusstseinsmässige und organisatorische Schwächung des reformerischen bzw. revolutionären Potentials des Proletariats, das die Utopie einer füllhornsozialistischen Gesellschaft mit Wohlstand für alle verwirklichen sollte.

Vom «Wohlfahrtsschwindel» zum «fringe benefit»

«In der Zwischenkriegszeit zeichnete sich eine graduelle Konvergenz zwischen traditionellen Wohlfahrtsformen und neuen Verfahren eines korporatistischen Interessenausgleichs ab. Anders als in Deutschland, wo die sozialdemokratische Arbeiterbewegung den Begriff Arbeiterwohlfahrt positiv besetzte und die so genannten Massnahmen als Teil der Arbeiterkultur aus eigener Initiative zu institutionalisieren begann, setzten sich in der Schweiz betriebsparitätische Modelle durch. Die beiden Seiten eigene Aversion gegen eine «Staatseinmischung» in den Arbeitsmarkt machte die kollektivvertraglichen Regelungen zur wichtigsten Form der Lösung sozialpolitischer Aufgaben (Gesamtarbeitsvertrag). Insbesondere bei der Sorge für Alte, Hinterbliebene und Invalide boten die Gewerkschaften deshalb zu Lösungen Hand, die auf Kosten des sozialstaatlichen Versicherungsprinzips eine enge Betriebsbindung anstrebten. Die späte Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1947 und das erst Mitte der 1980er Jahre gesetzlich verankerte System der beruflichen Vorsorge (Pensionskassen) sind ebenso Ausdruck dieser Tendenz wie das 1976 eingeführte Obligatorium der Arbeitslosenversicherung (ALV).

Auf die Länge zeigte sich aber auch in der Schweiz die in allen modernen Industrieländern bemerkbare Substitution von privaten Wohlfahrtseinrichtungen durch den Sozialstaat, wodurch gesetzliche Ansprüche und feste «Lohnnebenkosten» die früheren freiwilligen Fürsorgeleistungen ablösten. So wurde seit 1931 die Gewährung bezahlter Ferien und Feiertage in mehreren Kantonen gesetzlich geregelt.

Ab den 1920er Jahren vermochte sich die Arbeiterwohlfahrt damit schrittweise aus ihrer Verklammerung mit Arbeitgeberinteressen und einer antisozialistischen Unternehmenspolitik zu lösen. Vor allem im Bereich der betrieblichen Kollektivernährung lief dies mit einer Professionalisierung der Dienstleistungsproduktion parallel. Der 1914 von Frauen gegründete und nach 1917 im Industriesektor expandierende Schweizer Verband Volksdienst (SV-Service) setzte sich zum Beispiel erfolgreich für die Umwandlung unbezahlter weiblicher Sozialarbeit in bezahlte Berufsarbeit ein. Insgesamt verloren Wohlfahrtseinrichtungen ihr früheres Disziplinierungs-Image. Entsprechend stärker wurden in vertraglichen Abmachungen eingebundene und gesetzlich abgestützte Leistungen nun als willkommene Lohnkomponenten und fringe benefits (Gehaltsnebenleistungen) begrüsst.

Wohlfahrtseinrichungen in der Wohlstandsgesellschaft

In der Nachkriegszeit kam es im Zuge eines starken Wirtschaftswachstums und steigender Kaufkraft zu einer veränderten Wahrnehmung und zu einem nachhaltigen Form- und Funktionswandel der Arbeiterwohlfahrt. Mit der Auflösung der proletarischen Sozialmilieus und zunehmendem materiellem Wohlstand in allen Bevölkerungsschichten büsste der Begriff seine karitativen Konnotationen ein. Massnahmen wie zum Beispiel die verbilligte Warenabgabe, die direkt auf subsidiäre Unterstützung armer Familien ausgerichtet war, wurden marginal. Im Gegenzug traten nun Aspekte in den Vordergrund, die sich in das Dienstleistungsangebot der modernen Konsum- und Freizeitgesellschaft einfügen liessen. Zu erwähnen sind etwa der Zeitspareffekt der zu Betriebsrestaurants aufgewerteten Fabrikkantinen und die firmeneigenen Freizeitanlagen.

Die Wohlfahrtsmassnahmen der Unternehmen dienen inzwischen stärker dem Imagemanagement und der corporate identity weltweit tätiger Grossunternehmen. Sie sind Bestandteil einer Unternehmenskultur, die das «Humankapital» systematisch zu nutzen begonnen hat. Anders als in der Entstehungsphase der Arbeiterwohlfahrt, wo rigide «Fabrikordnungen» mit hohen Strafandrohungen für Verstösse die innere Ordnung des Betriebs sicherstellten, werden heute finanzielle Anreize und ein umfassendes System materieller und psychologischer Gratifikationen als essentiell für die Mitarbeitermotivation eingestuft. Das Management moderner Firmen geht dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass die entsprechenden Ausgaben einen produktivitätssteigernden Effekt haben und sich für das Unternehmen auszahlen.

Quellen und Literatur

  • V. Böhmert, Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen der Schweiz, 2 Bde., 1873
  • B. Kaufmann, Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, 1905
  • M. Wolfensberger, Die Wohlfahrtsfonds industrieller Unternehmungen im schweiz. Recht, 1927
  • H.G. Wirz, Die Personal-Wohlfahrtseinrichtungen der schweiz. Privatwirtschaft, 1955
  • Gruner, Arbeiterschaft
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner; Jakob Tanner: "Arbeiterwohlfahrt", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.01.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016584/2010-01-27/, konsultiert am 29.03.2024.