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Sesshaftigkeit

Sesshaftigkeit definiert sich durch einen festen Wohnsitz. Die sesshafte Lebensweise entstand im Neolithikum, als die Jäger und Sammler zu Ackerbau und Viehhaltung übergingen. Im Jungneolithikum entstanden Ufersiedlungen als neue Form der Sesshaftigkeit, später folgten die keltischen Oppida, römische Gutshöfe und Vici. Bei den Coloni ist die Bindung an die Scholle bzw. eine rechtliche Definition der Sesshaftigkeit erkennbar. Die Leibeigenschaft des Früh- und Hochmittelalters führte zum Verlust der Freizügigkeit und zu erzwungener Sesshaftigkeit. Eigenleute der mittelalterlichen Grundherrschaft waren mit Schollenzwang an ihr Lehengut gebunden. Bei Hofverkäufen kamen sie als Zubehör an den neuen Herrn. Die erzwungene Sesshaftigkeit hatte im Spätmittelalter die Landflucht der Bauern in die Stadt zur Folge. Obschon sich der Schollenzwang im 15. Jahrhundert nicht mehr durchsetzen liess, blieb Sesshaftigkeit bis heute ein Kennzeichen der bäuerlichen Welt.

Ab dem 16. Jahrhundert gewann Sesshaftigkeit aus der Konfrontation der sesshaften mit der migrierenden Lebensweise (Fahrende, Wanderarbeit) neue Bedeutung. Sesshaftigkeit war sowohl in der Stadt als auch auf dem Land an den Besitz eines Hauses oder Hausteils gebunden. Dieser feste Wohnsitz bzw. die Zugehörigkeit zu einer städtischen oder ländlichen Gemeinde, in welcher der Sesshafte sein Heimat- oder Bürgerrecht hatte, verschaffte ihm nebst Pflichten vielerlei politische, soziale und wirtschaftliche Rechte. Als Bürger kamen ihm Nutzungsrechte an den Gemeindegütern Allmend, Wald, Weide und Wasser, das Recht auf freie Berufsausübung und bei Notlagen das Recht auf Fürsorge durch die Gemeinde zu. Als Stimmberechtigter nahm er an Gemeindeversammlungen politisch aktiv und passiv teil und war so an der Regelung der örtlichen Niederlassung beteiligt. Unter dem Bevölkerungsdruck verschlossen sich ab dem 16. Jahrhundert zuerst Städte, danach auch Dörfer Neuzuzügern zum Schutz der Nutzungsprivilegien von Eingesessenen; Niederlassungen wurden erschwert und insbesondere armen Zuzügern verweigert. Wer als Hintersasse zu minderem Recht aufgenommen worden war, konnte als eigentlicher Fremder bei Fehlverhalten und Armengenössigkeit nach Ausweis seines Heimatscheins an seinen Heimatort verwiesen werden. In Städten bekämpften vor allem Zunfthandwerker aus Konkurrenzdenken die Niederlassung fremder Berufsleute. Fremdenfeindlichkeit schuf erneut eine Mobilitätsschranke, die jeglichen Wohnsitzwechsel erschwerte und Sesshaftigkeit erzwang. Das Bürgerrecht, das bei Abwesenheit verfiel, wenn es nicht periodisch erneuert wurde, verhinderte oft die Gesellenwanderung der Handwerker. Nutzungs- und Berufsprivilegien und die gemeindliche Fürsorge verleiteten zu früher Sesshaftigkeit und häuslicher Einrichtung ohne genügende Ausbildung. Verdienst aus der Heimarbeit verhalf auch jenen zur Sesshaftigkeit, die ohne Bürgerrecht waren.

Im 19. Jahrhundert brachte die Niederlassungsfreiheit im Verein mit der Industrialisierung die Mobilität zurück. Nun bestimmte der Arbeitsplatz die Wahl des Wohnsitzes. Der Schutz der Sesshaftigkeit verlor an Bedeutung, als ab Ende des 19. Jahrhunderts Sozialversicherungen die gemeindliche Fürsorge ersetzten. Schon 1860 wohnten nur noch 59% der Schweizer in ihren Heimatgemeinden, 1910 noch 34%. Mit dem sozioökonomischen Wandel, vor allem besseren Verdienstmöglichkeiten, wuchs im 20. Jahrhundert die soziale Mobilität. Die Zunahme ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er Jahren rief indes erneut xenophobe politische Strömungen in der Überfremdungsbewegung, ab den 1980er Jahren in der Asylpolitik hervor. Anfang des 21. Jahrhunderts stand in der Schweizer Bevölkerung die mobile Lebensführung des sogenannten Jobnomaden der als unflexibel geltenden Sesshaftigkeit gegenüber.

Quellen und Literatur

  • E. Meyrat-Schlee, Mobil sind die anderen, 1993
  • Vom Schwinden der Sesshaftigkeit, 2000
  • B. Mischler, Die Sesshaftigkeit der Zürcher Stadtbevölkerung, 2006
  • A.-M. Dubler, «Die Landsassenkorporation», in BEZG 71, 2009, 28-53
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Sesshaftigkeit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 21.04.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016554/2011-04-21/, konsultiert am 28.03.2024.