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Sittenmandate

Doppelseite aus den Zürcher Stadtbüchern (Staatsarchiv Zürich, B II 2, fol. 16v und 17r).
Doppelseite aus den Zürcher Stadtbüchern (Staatsarchiv Zürich, B II 2, fol. 16v und 17r). […]

Sittenmandate sind Vorschriften, die in Orten der Eidgenossenschaft den sittlichen Bereich und das tägliche Leben zu regeln versuchten (Gesetze). Sie entsprechen der «Polizey»-Gesetzgebung in anderen Teilen Europas und dienten unter anderem der Sexual- und Sozialdisziplinierung (Unzucht). Die Bezeichnungen sind uneinheitlich: Ordnung und Satzung, Mandat und Vermahnung, Ehemandat, Grosses Bussmandat, Polizeimandat, Sitten- und Aufwandmandat, Sabbatsmandat, Stadtmandat, Landmandat.

Formen, Motive und Verbreitung

Sittenmandate wurden vom 14. bis 18. Jahrhundert erlassen und blieben stark an die Kirchenherrschaft der einzelnen Orte gebunden. Die Tagsatzung übte nur marginalen Einfluss auf die Sittenmandate aus, zum Beispiel im (erfolglosen) Kampf gegen das Rauchen. Im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung (Konfessionalismus) weiteten sich die Sittenmandate von isolierten Einzelmassnahmen zu ganzen Politikkomplexen aus. Sittenmandate galten nicht nur für einzelne Statusgruppen oder Herrschaftsbereiche, sondern für ein gesamtes Territorium und waren ein Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft und ein erster Gesetzgebungsbereich mit breiterem Anspruch. Sie gründeten in der Sorge des väterlichen Regiments, die Bewohner in christlichen Sinn zu erziehen, zur Arbeit anzuhalten und jeglichen Luxus, der zu Armut führen könnte, zu unterbinden. Zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Motiven kamen religiöse: Die christliche Obrigkeit trug mit den Sittenmandaten dem zeitgenössischen endzeitlichen Denken Rechnung. Eine straffere Verwaltung, der Buchdruck und die Reformation förderten die Verbreitung der Sittenmandate. Für die 757 effektiv erlassenen Zürcher Mandate wurde folgende Verteilung nachgewiesen: 14. Jahrhundert 3; 15. Jahrhundert 23; 16. Jahrhundert 201; 17. Jahrhundert 272; 18. Jahrhundert 97.

Titelseite aus der Sammlung der Mandat vnd Ordnungen Vnserer gnedigen Herren, Burgermeister, klein vnd grosser Raehten der Statt Zürich, gedruckt 1650 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite aus der Sammlung der Mandat vnd Ordnungen Vnserer gnedigen Herren, Burgermeister, klein vnd grosser Raehten der Statt Zürich, gedruckt 1650 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Auszug aus der Sammlung der Mandat vnd Ordnungen Vnserer gnedigen Herren, Burgermeister, klein vnd grosser Raehten der Statt Zürich, gedruckt 1650 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Auszug aus der Sammlung der Mandat vnd Ordnungen Vnserer gnedigen Herren, Burgermeister, klein vnd grosser Raehten der Statt Zürich, gedruckt 1650 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Bis um 1530 wurden Sittenmandate handschriftlich abgefasst und in Gebotsbüchern überliefert. Dann erschienen zuerst Einblattdrucke, später Broschüren mit bis zu 90 Seiten Umfang. Letztere trugen ein verziertes Titelblatt und waren klar strukturiert: Einleitung mit Anlass und Zweckbestimmung, Vorschriften mit Bussandrohung, Ermahnungen an die Vollzugs- und Kontrollorgane. Zwischen 1530 und 1798 änderten die Inhalte, da aktuelle Begebenheiten einflossen und der Wandel im gesellschaftlich-kulturellen, christlich-moralischen und politischen Bereich zu neuen Schwerpunkten führte. Im 16. Jahrhundert standen religiöse Aspekte im Vordergrund, im 17. Jahrhundert die Aufwandgesetze, im 18. Jahrhundert die Hoffartartikel.

Die Kleidung und "andere unnötige Ausgaben" betreffende Luxusordnung, gerichtet an die Freiburger Stadt- und Landbevölkerung. Publikation der Kanzlei Freiburg von 1721 (Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, Sammlung Alte Drucke, FRIB 1721/1).
Die Kleidung und "andere unnötige Ausgaben" betreffende Luxusordnung, gerichtet an die Freiburger Stadt- und Landbevölkerung. Publikation der Kanzlei Freiburg von 1721 (Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg, Sammlung Alte Drucke, FRIB 1721/1).

Anlass von Sittenmandaten war oft ein bestimmtes Ereignis: Nach Vorfällen wie Erdbeben oder Anregungen und Klagen der Geistlichkeit – etwa zu den Umtrieben an der Fasnacht – beschloss der Rat, ein entsprechendes Sittenmandat zu erlassen oder ein bestehendes zu aktualisieren. Mit der Redaktion war ein Ratsausschuss, in Zürich ab 1650 die Reformationskammer, beauftragt. Die nach der Bestätigung durch den Rat gedruckten Mandate wurden den Land- und Obervögten zugestellt, die sie zur Bekanntmachung an die Ortspfarrer weiterleiteten. Wie die Stadtpfarrer hatten diese die Sittenmandate vor oder nach dem Gottesdienst von der Kanzel zu verlesen. Durch das enge Zusammenwirken von Staat und Kirche bei der Abfassung und Durchsetzung kam den Sittenmandaten eine Mittelstellung zwischen Staats- und Kirchenrecht zu.

Inhalte und Durchsetzung

Verbote des Gotteslästerns, Fluchens, Schwörens, des Meineids, von Schmähreden und Schmähschriften, Erlasse gegen den Aberglauben, die Pflicht zu Messe- oder Predigtbesuch und strenge Vorschriften wie das Arbeitsverbot zur Heiligung des Sonntags sollten ein moralisch einwandfreies, im christlichen Glauben verankertes Leben ermöglichen. Als Grundlagen dazu galten Arbeit und Fleiss; Müssiggang und liederlicher Lebenswandel mussten demnach verboten werden. Aufwendige Taufen, Hochzeiten, Leichenmähler, Ehrenmahlzeiten (Ess- und Trinksitten), lange Wirtshausbesuche, Alkoholkonsum, Badenfahrten, teure Kleidung und sonstiger Luxus konnten zu Armengenössigkeit und damit zu staatlicher Belastung führen und waren deshalb eingeschränkt oder untersagt. Ausgelassener und zu häufiger Tanz sowie manche Glücksspiele galten als unmoralisch. Das Treiben an Kirchweihen und Märkten, das Fahrende und Dirnen anzog, wurde beschnitten. Sittlichkeitsempfinden und soziale Überlegungen prägten die Kleidermandate und Hoffartsgesetze. Sie schützten das einheimische Gewerbe vor fremder Konkurrenz, zementierten die Geschlechter- und Standesunterschiede und sollten dafür sorgen, dass das Konsumverhalten einer standesspezifischen Lebensführung angemessen blieb. Im 18. Jahrhundert richteten sich die immer detaillierteren Verbote selbst gegen Mobiliar und Inneneinrichtungen, Accessoires wie Schmuck, Uhren oder Tabatièren. Die dem Traditionalismus verpflichteten Sittenmandate sollten neue Modeströmungen fernhalten: im 18. Jahrhundert zum Beispiel das Schlittenfahren oder die Genussmittel Kaffee, Tee und Schokolade.

Staat und Kirche überwachten die Einhaltung der Sittenmandate. In mehreren Städten gab es Reformationskammern (z.B. ab 1627 in Zürich, ab 1646 in Genf, ab 1676 in Bern), die für die Bevölkerung der Stadt und des näheren Umlandes zuständig waren und Übertretungen ahndeten. Auf der Zürcher Landschaft übernahmen Land- und Obervögte, in den Dörfern Untervogt, Pfarrer und Stillständer (Kirchenpfleger) diese Aufgabe. Behördenmitglieder und Wirte waren verpflichtet, Verstösse anzuzeigen. In Bern gab es das lokale Chorgericht (Sittengerichte), in Genf das Consistoire, und in Graubünden waren sowohl das lokale Niedergericht als auch das kirchliche Konsistorium zuständig. Abgesehen von Luzern fehlen Studien über die Bedeutung der Sittenmandate in der katholischen Innerschweiz.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts häuften sich die obrigkeitlichen Klagen, die Sittenmandate würden schlecht eingehalten. Ausschweifende Feste und übermässigen Luxus konnte sich nur die Oberschicht leisten. Viele Ratsmitglieder verstiessen selbst gegen die Vorschriften und missachteten vor allem die Hoffartsartikel; wer erwischt wurde, bezahlte die Busse. In der Anwendung und Auslegung der Sittenmandate gab es immer wieder Unsicherheiten. Dies führte dazu, dass die Artikel laufend ergänzt und präziser gefasst werden mussten. Vielfach drückte sich die Bevölkerung um Anweisungen, indem sie zwar den Wortlaut befolgte, aber trotzdem gegen Sinn und Zweck der Vorschrift handelte. Die Sittenmandate bestimmten nur das äussere Verhalten der Menschen, die innere Einstellung beeinflussten sie kaum. Denunziation säte Misstrauen unter der Bevölkerung; Modeströmungen liessen sich zwar verzögern, aber nicht aufhalten. Verschiedene Verbote überlebten sich zudem selbst. Im 18. Jahrhundert stellten Republikaner und Patrioten im moralphilosophischen und politischen Diskurs das Anliegen der Sittenmandate und die Zulässigkeit von Aufwandgesetzen bereits zur Diskussion. Mit dem Ende des Ancien Régime wurden die Sittenmandate 1798 ausser Kraft gesetzt. Manche Bestimmungen fanden indessen in anderer Form wieder Aufnahme in die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts.

Quellen und Literatur

  • I.M. Vincent, Costume and Conduct in the Laws of Basel, Bern, and Zurich, 1370-1800, 1935
  • A. Staehelin, «Sittenzucht und Sittengerichtsbarkeit in Basel», in ZRG GA 85, 1968, 78-103
  • P. Ziegler, Zürcher Sittenmandate, 1978 (mit Bibl.)
  • E. Ziegler, Das grosse Mandat der Stadt St. Gallen von 1611, 1983
  • Berner Mandate, hg. von F. Limbach, 1985
  • C. Walker, «Images du luxe à Genève: douze années de répression par la Chambre de la Réformation (1646-1658)», in Revue du Vieux Genève 17, 1987, 21-26
  • B. Höchli, Sittengesetzgebung in Luzern (17. und 18. Jh.), Liz. Bern 1988
  • C. Walker, «Les lois somptuaires ou le rêve d'un ordre social: évolution et enjeux de la politique somptuaire à Genève (XVIe-XVIIIe siècle)», in Equinoxe 11, 1994, 111-129
  • H.R. Schmidt, Dorf und Religion, 1995
  • U. Pfister, «Ref. Sittenzucht zwischen kommunaler und territorialer Organisation: Graubünden, 16.-18. Jh.», in Archiv für Reformationsgesch. 87, 1996, 287-333
  • I. Spillmann-Weber, Die Zürcher Sittenmandate 1301-1797, 1997 (mit Bibl.)
  • H. Bühler-Bättig, «Verwalteter Tanz: ein Beitr. zur Luzerner Sittengesch. des 18. Jh.», in Gfr. 157, 2004, 5-70
  • C. Casanova, Nacht-Leben: Orte, Akteure und obrigkeitl. Disziplinierung in Zürich, 1523-1833, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Peter Ziegler: "Sittenmandate", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.12.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016552/2012-12-19/, konsultiert am 28.03.2024.