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Arbeitsfrieden

Arbeitsfrieden bezeichnet den Zustand, in dem kollektive Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf dem Verhandlungswege beigelegt werden und Kampfmassnahmen wie Streiks oder Aussperrungen unterbleiben. Der Begriff, der in der internationalen Literatur weitgehend fehlt, erlangte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz identitätsstiftende Bedeutung. Sowohl der öffentliche als auch der wissenschaftliche Diskurs ordnen ihm höchstbewertete Errungenschaften wie materieller Wohlstand, soziale Sicherheit und politische Stabilität zu. Sogar die Deutung der Vergangenheit beeinflusst er, indem er gütliche Einigung als jahrhundertealte Eigenschaft der Schweizer erscheinen lässt.

Friedliche Konfliktregelung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war und ist – auch im Ausland – die Regel. Dazu gehören auf beiden Seiten anerkannte Interessenvertretungen. Während solche für das Kapital durch das Management gegeben sind, mussten sie für die Belegschaft in Form von Arbeiterkommissionen oder Gewerkschaften erst geschaffen werden. Verbindliche Vereinbarungen zwischen ihnen, vor allem der oft auf Branchen oder Regionen ausgeweitete Gesamtarbeitsvertrag (GAV), bilden die Basis des Arbeitsfriedens. Der demokratische Staat begnügt sich in der Regel damit, den gesetzlichen Rahmen sowie subsidiär Schlichtungsinstanzen (Einigungsämter) und Schlichtungsverfahren anzubieten. Daneben fördert er mit seiner Sozialpolitik, vor allem mit Sozialversicherungen, den Arbeitsfrieden. In der Schweiz legte 1900 ein Gesetz des Kantons Genf erstmals explizit die Friedenspflicht während der Laufzeit eines GAV fest. Eine entsprechende bundesrechtliche Lösung scheiterte 1919-1920 und kam erst 1941 unter dem Vollmachtenregime mit dem Bundesbeschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von GAV zustande. In die ordentliche Gesetzgebung übertrug sie das Bundesgesetz über die AVE von GAV vom 28. September 1956 mit einer Teilrevision des Obligationenrechts (OR). Dieses verpflichtet seither die Vertragsparteien, den Arbeitsfrieden zu wahren und sich jeder Kampfmassnahme zu enthalten, soweit es sich um im GAV geregelte Gegenstände handelt (heute Artikel 357a OR). Damit gilt die relative Friedenspflicht, für die sich das Bundesgericht bereits 1919 entschieden hatte, d.h. Kampfmassnahmen zu nicht im GAV geregelten Gegenständen sind erlaubt. Allerdings ermöglicht der gleiche OR-Artikel das vertragliche Festschreiben der absoluten Friedenspflicht, die für die Vertragsdauer sämtliche Kampfmassnahmen ausschliesst. Entsprechende Klauseln enthielten 1977 67% der GAV, während 4% explizit die relative Friedenspflicht nannten und die übrigen auf eine Regelung verzichteten.

Lange spielte der Arbeitsfrieden in der Schweiz keine Rolle, registrierte man doch einerseits Streiks in mit dem Ausland vergleichbarem Ausmass und fanden andrerseits Gewerkschaften oder Arbeiterkommissionen vor allem in der Industrie noch keineswegs Anerkennung als gleichberechtigte Partner. Erst Ende der 1920er Jahre, als moderne Management-Methoden Beschäftigte stärker an ihren Betrieb zu binden begannen, setzte eine öffentliche Debatte ein. Die von Gewerkschaften und Arbeitgeberverband am 19. Juli 1937 für die Maschinen- und Metallindustrie unterzeichnete und als Friedensabkommen bekannt gewordene Vereinbarung ist ein rein schuldrechtlicher Kollektivvertrag, der die absolute Friedenspflicht mit einem mehrstufigen Schiedsverfahren untermauert. In der Folge gewann der Arbeitsfrieden, nicht zuletzt vom konsensfördernden Klima des Zweiten Weltkrieges begünstigt, breites Ansehen. Erreicht wurde er allerdings nicht mit rein schuldrechtlichen Vereinbarungen, sondern mit vollständigem GAV mit normativem Teil (Arbeitsbedingungen, Löhne, Arbeitszeit). Diese verbreiteten sich seit Kriegsende rasch und sicherten nach der schnell vergessenen Streikwelle von 1945-1949 den Arbeitsfrieden nachhaltig. Das Friedensabkommen wurde fälschlicherweise bald als entscheidender Schritt zur Durchsetzung der GAV gewertet und als Bundesbrief oder Stanser Verkommnis der Wirtschaft in der schweizerischen Mythologie verankert. Ein vollständiger GAV mit normativem Teil ist es aber erst seit 1974. Weil im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik Deutschland auch vor dem Abschluss neuer GAV kaum Kampfmassnahmen ergriffen werden, figuriert die Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regelmässig in den hintersten Regionen der Streikstatistik der Industrieländer. Unternehmer und Gewerkschaften verstanden ihr gegenseitiges Verhältnis als Sozialpartnerschaft und propagierten gemeinsam die Vorteile des Arbeitsfriedens. Kritiker blieben bis Ende der 1960er Jahre marginalisiert. Dann gewannen sie vor allem in der Gewerkschaft Bau und Holz an Bedeutung. Vorübergehend stieg in den 1970er Jahren die Streiktätigkeit an. Im Wesentlichen blieb jedoch der Arbeitsfrieden in der Praxis bis Ende des 20. Jahrhunderts unbestritten.

In öffentlicher Meinung und wissenschaftlichen Publikationen wird er meist mit wirtschaftlichem Erfolg in Zusammenhang gebracht; entsprechende empirische Untersuchungen fehlen jedoch weitgehend. Beim Wachstum des Bruttosozialprodukts pro Kopf schneidet die Schweiz seit den 1960er Jahren selbst gegenüber weit streikfreudigeren OECD-Ländern schlecht ab. Dies ist weiter nicht erstaunlich, lag doch der volkswirtschaftliche Verlust durch Kampfmassnahmen auch dort in der Regel nicht einmal im Promille-Bereich. So gesehen überwiegt die kulturelle Bedeutung des Arbeitsfriedens die wirtschaftliche bei weitem. Über seine Verankerung in der Bevölkerung orientieren regelmässig repräsentative Umfragen. Während die Zustimmung Ende der 1970er Jahre noch über 75% betrug, sank sie bis 1993 auf 60%. Überdurchschnittlich skeptisch äusserten sich Frauen und Junge; bei Gewerkschaftern dagegen lag die Zustimmung über dem Mittel.

Quellen und Literatur

  • R. Gallati, Der Arbeitsfrieden in der Schweiz, 1976
  • G. Aubert, L'obligation de paix du travail, 1981
  • A., Realität eines Mythos, 1987
  • Das Friedensabkommen in der schweiz. Maschinen- und Metallindustrie, hg. von K. Humbel, 1987
  • B. Degen, «Von "Ausbeutern" und "Scharfmachern" zu "Sozialpartnern"», in Bilder und Leitbilder im sozialen Wandel, 1991, 231-270
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Arbeitsfrieden", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.05.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016535/2010-05-06/, konsultiert am 29.03.2024.