de fr it

Widerstandsrecht

Widerstandsrecht meint die Ermächtigung oder Verpflichtung, einer Obrigkeit, die elementare Rechte verletzt, unter Berufung auf höhere – göttliche oder naturrechtliche – Rechtsnormen auch mit Gewalt zu widerstehen (Naturrecht). Der Rechtsstaat kann das Widerstandsrecht als Ultima Ratio zulassen, um eine Verfassungsordnung, die systematisch pervertiert wurde, wiederherzustellen, nicht aber wegen einzelner (Grund-)Rechtsverletzungen. Vom Widerstandsrecht zu unterscheiden ist ziviler Ungehorsam, der gewaltlos bestimmte politische Ziele verfolgt. Das Widerstandsrecht wurde, oft verbunden mit dem Tyrannenmord, seit der Antike moralphilosophisch erörtert und oft anhand historischer Beispiele gebilligt. Auch das Mittelalter kannte neben der grundsätzlichen Gehorsamspflicht (Römer 13) das Widerstandsrecht gegen willkürliche Herrscher.

Vignette für die Sektion Wilhelm Tell. Radierung aus Paris, 1794 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Vignette für die Sektion Wilhelm Tell. Radierung aus Paris, 1794 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

In der Eidgenossenschaft wurde der Kampf gegen rechtmässige Herrschaftsträger, insbesondere 1386 gegen Herzog Leopold III., nachträglich dadurch legitimiert, dass die Habsburger ihre vertraglichen Schutzpflichten vernachlässigt und die gefreiten Eidgenossen die Reichsordnung gegen die tyrannischen «Vögte» verteidigt hätten (Befreiungstradition). Die Schlachtensiege des 14. und 15. Jahrhunderts wurden als Gottesurteil dem Vorwurf entgegengestellt, dass Bauern durch Siege über Adlige die Ständeordnung umstürzten. Die Klage über wütende Tyrannen rechtfertigte regelmässig die Gewaltanwendung gegen Höhergestellte inner- und ausserhalb der Kantone (Peter von Hagenbach 1474, Hans Ledergerw 1621, Sebastian Peregrin Zwyer von Evibach 1653). Im Humanismus wurde die Brücke von Wilhelm Tell zu Brutus dem Älteren geschlagen (Urner Tellenspiel, Glarean, Jakob Ruf).

Neue Dimensionen erreichte die Debatte über das Widerstandsrecht durch die Reformatoren. Die grundsätzliche Gehorsamspflicht wurde bewahrt und gegenüber den Täufern auch durchgesetzt. Angesichts der Repressionen wurde aber erörtert, wann und wie Gott mehr zu gehorchen sei als den (altgläubigen) Menschen (Apostelgeschichte 5,29). Legitim erschien generell passiver Widerstand, also Gehorsamsverweigerung; Zurückhaltung bestand bei aktiver Gewaltanwendung. Für Huldrych Zwingli handelten Bürger als Werkzeuge Gottes, nicht als Wahrer ihrer eigenen Rechte, wenn sie – selbst mit Waffengewalt – gegen Tyrannen die freie Predigt verteidigten. Bei Zwingli ist das Widerstandsrecht deutlich stärker ausgeprägt als bei Martin Luther oder in den Debatten, die Heinrich Bullinger mit John Knox, François Hotman und Theodor Beza führte. Johannes Calvin entwickelte in der französischen Bürgerkriegssituation ab 1559 unsystematische Ansätze (Ephoren) eines Widerstandsrechts, indem er den Generalständen tendenziell gewaltfreien Widerstand gegen glaubensfeindliche Edikte zugestand. 1574 dehnte Beza das Widerstandsrecht nach der Bartholomäusnacht auf die magistrats inférieurs aus (Beamte, Hochadel, Städte), die legitime Herrschaft ausübten und das Volk repräsentierten. Auf Anregung Josias Simlers integrierte Beza den Widerstand der Eidgenossen gegen die habsburgische Tyrannis in seine Argumentation.

In den wiederholten Bauernaufständen reklamierten die Bauern ihr Widerstandsrecht zur Verteidigung der alten, gottgewollten, aber durch die Obrigkeit verletzten Rechte. Bis auf den Bauernkrieg von 1525 waren explizite biblische oder theologische Legitimationen selten, auf chiliastische Ideen wurde dagegen durchaus Bezug genommen (Weissagung des Bruder Klaus, nach 1653). Die Aufständischen im Bauernkrieg von 1653 stellten sich mit ihrem Untertanenbund in die Tradition des ersten Bundes der Eidgenossen, der ebenso zum Kampf für die Gerechtigkeit geschlossen worden sei. Die Luzerner Bauern verglichen – wie auch 1712 wieder – die Stadt mit «der Vögten Tyranney». Drei «Tellen» (Drei Tellen) begingen ein Attentat auf den Luzerner Schultheissen und griffen dabei auf Tells Vorbild und Gott zurück, der die falsch handelnde Obrigkeit strafe. 1712 und vor allem in der Helvetik beriefen sich Aufständische auf die Wahrung des richtigen Glaubens gegen die kompromissbereite oder aufklärerische Obrigkeit. Sie verteidigten altes Recht und alte Freiheiten, vor allem die Gemeindeautonomie, gegen absolutistische Tendenzen (vor 1798) und gegen den helvetischen Einheitsstaat und scheuten dabei auch vor dem konterrevolutionären Bürgerkrieg (Stecklikrieg von 1802) nicht zurück.

Das naturrechtlich begründete Widerstandsrecht legitimierte in politischen Konflikten wie den Unruhen in Zürich 1713 die zünftige Opposition, sofern ein pflichtvergessener Herrscher die Fundamentalgesetze verletzte und den Herrschaftsvertrag auflöste. Vor dem Hintergrund der Genfer Revolutionen entwickelte Jean-Jacques Rousseau das Recht des souveränen Volks auf Revolution, um der volonté générale eine angemessene Verfassung zu geben. Darauf beriefen sich fortan die Radikalen beim Umsturz von Verfassungen des Ancien Régime, so bereits 1798 in der Waadt gegen Bern, bei den Freischarenzügen und in Genf 1846. Konkret rezipiert wurde das Widerstandsrecht gemäss französischer Revolutionsverfassung von 1793 in der Regeneration: Ludwig Snell sah in seinem Verfassungsentwurf von 1831 ein Widerstandsrecht der bewaffneten Bürger (Milizsystem) vor. Im Züriputsch 1839 begründeten die Konservativen den Widerstand ebenfalls mit dem Volkswillen sowie der Verteidigung der göttlichen Ordnung und des Christentums. Der katholisch-konservative Sonderbund und der Widerstand gegen dessen Auflösung 1845-1847 wurden als Verteidigungsaktion souveräner Staaten legitimiert.

Der liberale Bundesstaat garantierte Grundrechte und Prozeduren als Surrogate des Widerstandsrechts. Dennoch vertrat alt Bundesrat Jakob Dubs 1877 das «natürliche Recht der Selbsthülfe» bis zur Revolution bei staatlichen Vergehen gegen die Menschenrechte. Die radikalen Berner Kantonsverfassungen von 1846 und 1893 erlaubten als einzige den Widerstand, nämlich gegen das rechtswidrige Eindringen von Beamten in Privatwohnungen (Artikel 75 bzw. 76; in der Kantonsverfassung von 1995 aufgehoben). Der Offiziersbund von 1940 war bereit, die legitime Landesregierung zu stürzen, falls diese keinen Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland leisten sollte. Der Fahneneid wurde dahingehend interpretiert, dass er auf das Vaterland und nicht auf die politische oder militärische Führung erfolgt sei. In der Nachkriegszeit wurde das Widerstandsrecht im Namen des jurassischen Volks gegen die Berner Verfassung und Behörden benutzt, von den Béliers zum Teil auch für Gewaltanwendung. Kein Widerstandsrecht als Rekurs auf eine höhere Rechtsordnung beanspruchten trotz Systemkritik jüngere Protestbewegungen (Jugendunruhen, Kaiseraugst, Globalisierungsgegner).

Quellen und Literatur

  • W. Schulze, «Zwingli, luth. Widerstandsdenken, monarchomach. Widerstand», in Zwingli und Europa, hg. von P. Blickle et al., 1985, 199-216
  • A. Kley, «Rechtsstaat und Widerstand», in Hb. des schweiz. Verfassungsrechts, 2001, 285-298
  • M. Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l'Antiquité à nos jours, 2001
  • M. Polli-Schönborn, «Frühneuzeitl. Widerstandstradition auf der Luzerner Landschaft», in JHGL 20, 2002, 3-15
  • G.P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgesch., 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Maissen: "Widerstandsrecht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.11.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016518/2014-11-11/, konsultiert am 28.03.2024.