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Gewerkschaften

Gewerkschaften sind dauerhafte Vereinigungen von Unselbstständigerwerbenden (Erwerbstätigkeit) zum Zweck der Aufrechterhaltung oder Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Nicht unter den Begriff fallen spontane Zusammenschlüsse mit beschränkten Zielsetzungen. Gewerkschaften unterscheiden sich von paritätischen Berufsverbänden, indem sie nur Lohnarbeiter organisieren. Weiter muss die Vereinigung freiwillig erfolgen und darf nicht von Aussenstehenden abhängen. Zur Konstituierung braucht es ein berufs-, schicht- oder klassenspezifisches Bewusstsein, das erlaubt, Forderungen gemeinsam zu definieren und in kollektives Handeln umzusetzen. Gewerkschaften besitzen Doppelcharakter: Da sie Bewegungen für bessere Arbeitsbedingungen führen, bilden sie die Gegenmacht der Arbeiter und später auch der Angestellten. Zugleich leiten sie als Ordnungsfaktor Protest in geregelte Bahnen. Ihre Macht beruht auf zwei Faktoren: Der Organisationsgrad rechtfertigt den Vertretungsanspruch auf Betriebs- und Branchen- oder regionaler und nationaler Ebene. Das Mobilisierungspotenzial, d.h. die Fähigkeit, Streiks oder andere Arbeitskonflikte zu führen, die den Ablauf der Produktion oder den Ruf eines Betriebes beeinträchtigen, verleiht ihren Forderungen das nötige Gewicht.

Gewerkschaften wirken auf drei Ebenen: Erstens begründen sie eine innere Solidarität durch die gegenseitige Versicherung mittels Unterstützungsinstitutionen wie Kranken-, Unfall-, Sterbe- und Arbeitslosenkassen sowie durch die Ausrichtung von Reise- und Notlagenentschädigungen (Sozialversicherungen). Diese Funktion trat im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund, zum Teil weil Grundlagen entfielen (ohne Wanderschaft keine Reisekasse), vor allem aber weil nach dem Zweiten Weltkrieg der Sozialstaat zunehmend Verantwortung für die soziale Sicherheit übernahm. Zweitens führen sie eine kollektive Vertragspolitik, die von informellen Absprachen über Verhandlungen auf mehreren Ebenen bis zu Streiks verschiedene Massnahmen beinhaltet. Drittens nehmen sie politischen Einfluss auf den Gesetzgeber. In ihrem Handeln müssen sie auch Interessen von Aussenstehenden berücksichtigen (Trittbrettfahrer), weil deren Verhalten die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt mitprägt.

Unselbstständigerwerbende organisierten sich zunächst vor allem nach Berufen, seltener nach Branchen oder Ortschaften. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Status und Weltanschauung als wichtige Dimensionen dazu. Entlang diesen gliederte sich die Gewerkschaftsbewegung in Arbeiter- und Angestellten- bzw. in freie (d.h. der Sozialdemokratie nahe stehende), christliche oder liberale Organisationen. Die "gelben Gewerkschaften" – so werden Gewerkschaften bezeichnet, die stark von Unternehmern abhängig sind – spielten in der Schweiz keine grosse Rolle. Status und Weltanschauung vermochten die Dachorganisationen im Inland lange zu trennen; auf internationaler Ebene dagegen gehörten die drei bedeutendsten zum Europäischen Gewerkschaftsbund: der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) seit 1973, der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) seit 1974 und die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA, Angestelltenorganisationen) seit 1991. In der Mitgliedschaft überwogen bisher die Männer. In jüngster Zeit holten die Frauen allerdings auf, was sich auch im Repräsentativ- (Kongress, Vorstand usw.) und im Administrativsystem (Sekretariat) auswirkte.

Anfänge der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung

Die Anfänge der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung lassen sich nicht nur mangels Forschung bloss grob skizzieren; auch die Abgrenzung zu Gesellenorganisationen (Gesellen) des zünftigen Handwerks bietet Probleme. Inwiefern nach Aufhebung der Zünfte personelle und institutionelle Kontinuitäten zu Hilfsvereinen bzw. Hilfskassen (Typografen in Aarau 1818, Zürich 1819, Bern 1824) führten, ist nicht bekannt. Um diese bildeten sich Frühformen von Gewerkschaften, zunächst lokal begrenzte, äusserst zerbrechliche Gebilde, die oft nach einem Misserfolg oder der Abreise eines begabten Organisators wieder verschwanden. Neben den Typografen organisierten sich früh Handwerker wie Schreiner, Zimmerleute, Steinmetze, Schneider und Schuhmacher, wobei Anstösse auch von deutschen Gesellenvereinen ausgingen (Arbeitervereine, Deutsche Arbeitervereine). Im industriellen Bereich wirkten Uhren- und Bijouteriearbeiter als Pioniere. Förmliche gewerkschaftliche Aktivitäten begannen sich gegen die Jahrhundertmitte zu verdichten. Als erste nationale Gewerkschaft entstand 1858 der Schweizerische Typographenbund (STB), der anfänglich auch Prinzipalen offen stand (Gewerkschaft Druck und Papier, GDP). Bis in die 1860er Jahre schränkten kantonale Koalitionsverbote das Wirken der Gewerkschaften ein. Sie konnten das Vereinsrecht der Bundesverfassung 1848 im Gegensatz zu politischen Organisationen nur beschränkt beanspruchen, weil kollektive Forderungen die liberale Auffassung, wonach jeder auf dem Arbeitsmarkt einen individuellen Vertrag aushandelt, in Frage stellten. In der Praxis hemmten aber lange weniger rechtliche Hindernisse als Repressalien von Unternehmern sowie fehlende Ressourcen der Arbeiter die Entfaltung der Gewerkschaften

Einband der Statuten der Société typographique, Sektion Lausanne, 1852 (Musée historique de Lausanne, Collection Bridel).
Einband der Statuten der Société typographique, Sektion Lausanne, 1852 (Musée historique de Lausanne, Collection Bridel). […]

Eine erste breite Gewerkschaftsbewegung, verbunden mit einer bisher nicht gekannten Streiktätigkeit, formierte sich in den späten 1860er Jahren im Rahmen der Internationalen Arbeiter-Assoziation (Internationale). Von deren 1868 ca. 10'000 Mitgliedern in der Schweiz organisierte sich ein beachtlicher Teil zumindest vorübergehend wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten. In den frühen 1870er Jahren bestand allerdings nur noch ein bescheidener Rest dieser Organisation. Bald aber vereinigten sich – zum Teil unterstützt vom (Alten) Schweizerischen Arbeiterbund – neben den Typografen weitere Berufe in überregionalen Verbänden, so 1871 die Goldschalenmacher, 1872 die Emailzifferblattmacher, 1873 die Leder- und die Holzarbeiter, 1876 die Schneider, die Buchbinder und die Lokomotivführer sowie 1877 die Glaser und die Spengler. Als dauerhaft erwiesen sich aber nur die Gründungen der Lokomotivführer, Schneider und Spengler. 1873 konstituierte sich auch der Schweizerische Kaufmännische Verband (SKV), die später bedeutendste Privatangestelltengewerkschaft.

Aufstieg im Zeichen des Klassenkampfs

Ab Mitte der 1880er Jahre erlebte die Arbeiterbewegung, begünstigt durch anhaltendes Wirtschaftswachstum, einen beachtlichen Aufschwung. Diesen begleitete eine funktionale Differenzierung, als deren Folge sich gewerkschaftliche klarer von politischen und kulturellen Organisationen abhoben. Das zunehmende Streben nach besseren Arbeitsbedingungen äusserte sich auch in der stark steigenden Streiktätigkeit; selbst koordinierte überregionale Aktionen wurden möglich (Typografenstreik 1889). Obwohl ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend umfassendere Tarife zustande kamen, breiteten sich Gesamtarbeitsverträge erst Anfang des 20. Jahrhunderts zögerlich aus.

Plakat für die Versammlungen des Schweizerischen Verbands des Personals öffentlicher Dienste im Volkshaus Zürich, gestaltet 1935 von Walter Käch (Museum für Gestaltung, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für die Versammlungen des Schweizerischen Verbands des Personals öffentlicher Dienste im Volkshaus Zürich, gestaltet 1935 von Walter Käch (Museum für Gestaltung, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Die gewerkschaftliche Organisation erfolgte auf verschiedenen Ebenen: Als langfristig erfolgreichste Gründung erwies sich die des SGB (1880), der allerdings zunächst ein bescheidenes Dasein fristete. Die Verbreitung weiterer stabiler, vorerst auf beruflich begrenzte Teilarbeitsmärkte ausgerichteter Zentralverbände begann kurz darauf, so in den Branchen Uhren (1883 Uhrfedermacher), Eisenbahn (1885 Zugpersonal), Holz (1885 Glaser, 1886 Schreiner), Metall (1886 Giesser), Bau (1888 Steinhauer) und Lebensmittel (1889 Müller). In den 1890er Jahren folgten Organisationen im Bereich der Textilindustrie (1890 Seidenbeuteltuchweber) und der PTT (1890 Depeschenträger). Zum SKV gesellten sich weitere Angestelltenverbände (1886 Union Helvetia, 1893 Werkmeisterverband). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand ausserdem eine christliche Gewerkschaftsbewegung (1901 Holz-, 1904 Textil-, 1905 Metall-, 1906 Bau-, 1907 Transport- und Lebensmittelarbeiter), die sich 1907 mit dem Christlichsozialen Gewerkschaftsbund der Schweiz (CSG, 1921 CNG) eine eigene Dachorganisation gab. Schliesslich bildeten sich autonome Berufsverbände (1883 Buchhandlungsgehilfen, 1899 Metzgerburschen, 1906 Konditorengehilfen, 1907 Polizeibeamte). Vor allem in der Westschweiz wandte sich um die Jahrhundertwende ein Teil der Gewerkschaften vorübergehend dem revolutionären Syndikalismus zu, schloss sich aber noch vor dem Ersten Weltkrieg dem SGB an. Neben den Berufsverbänden erlangten bis Ende des Ersten Weltkriegs Arbeiterunionen grosse Bedeutung. Sie koordinierten die Gewerkschaftsbewegung auf lokaler Ebene und traten als Träger von politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten auf (z.B. Zürcher Generalstreik 1912).

Umschlag des Festprogramms der Genfer Gewerkschaften für den Ersten Mai 1938. Holzschnitt von Alexandre Mairet (Privatsammlung).
Umschlag des Festprogramms der Genfer Gewerkschaften für den Ersten Mai 1938. Holzschnitt von Alexandre Mairet (Privatsammlung).

Nach der Jahrhundertwende fusionierten Berufsverbände in bedeutendem Masse, so 1903 bzw. 1908 zum Textilarbeiterverband (Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier, GTCP), 1904 zum Verband der Lebens- und Genussmittelarbeiter, 1905 zum Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter (Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste), 1912 zum Uhrenarbeiterverband, 1915 zum Verband der Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter (Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel, VHTL) und zum Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (Smuv, Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen). Durch Wachstum und Fusionen erreichten sie die nötige Grösse zur Einrichtung ständiger Sekretariate, als erster 1894 der Verband schweizerischer Eisenbahnangestellter, dem 1897 der SGB, 1900 STB und Smuv und dann vor allem 1904-1906 der Grossteil der freien Gewerkschaften folgten. Ausländer, vorab Deutsche, spielten bis zum Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Anders als im politischen System waren sie in der Wirtschaft in vielerlei Hinsicht gleichberechtigt und konzentrierten deshalb ihre Aktivitäten auf diesen Bereich.

Partielle Integration in Wirtschaft und Staat

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs brachen die Gewerkschaften zunächst weitgehend zusammen, weil Ausländer heimkehrten und Schweizer in die Armee einberufen wurden. Ab 1917 setzte aber ein gewaltiger Aufschwung ein. Gewerkschaftliches Bewusstsein verbreitete sich selbst unter Angestellten, was sich in der Radikalisierung bestehender und in der Gründung neuer Verbände äusserte, so 1917 des Zentralverbands des Staats- und Gemeindepersonals, 1918 der Verbände der Angestellten der Maschinenindustrie und des Bankpersonals und vor allem der Dachorganisation VSA. Die Organisation des Zürcher Bankpersonals war von 1919-1923 gar dem SGB angeschlossen. Einen Wendepunkt der Gewerkschaftsgeschichte bedeutete der Landesstreik im November 1918. In seinem Gefolge zeigten verschiedene Industrien erstmals Bereitschaft zu offiziellen Verhandlungen auf nationaler Ebene, vor allem zur Einführung der 48-Stunden-Woche. Im Gewerbe wurden in einem bisher nicht gekannten Ausmass Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen. Auf politischer Ebene bezog vor allem das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement zunehmend Vertreter der Gewerkschaften in Entscheidungsprozesse ein. Nach Auflösung des vom (Neuen) Schweizerischen Arbeiterbund getragenen Arbeitersekretariates gingen dessen Bundessubventionen ab 1921 an die gewerkschaftlichen Dachorganisationen. Auf organisatorischer Ebene erfolgte eine weitgehende Umgruppierung, deren Ergebnisse bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts Bestand hatten. 1919 vereinigten sich bisher stark zersplitterte Organisationen im Schweizerischen Eisenbahnerverband (Schweizerischer Eisenbahn- und Verkehrspersonalverband) und schlossen sich dem SGB an. Weitere Fusionen führten 1922 zum Bau- und Holzarbeiter-Verband (Gewerkschaft Bau und Holz, GBH), 1923 zum Verband der Bekleidungs- und Lederarbeiter (VBLA) und 1928 zur PTT-Union. Die Arbeiterunionen dagegen verloren rasch ihre Bedeutung. In Abgrenzung zum SGB entstanden 1919 der freisinnige Landesverband Freier Schweizer Arbeitnehmer (LFSA) und 1920 der Schweizerische Verband evangelischer Arbeitnehmer (SVEA), die trotz geringen Gewichts den Status von Dachorganisationen beanspruchten. Die christliche Gewerkschaftsbewegung dehnte sich in den öffentlichen Dienst aus (1919 Verkehrs-, 1922 Gemeinde- und Staats-, 1923 PTT-Personal) und nannte ihre Dachorganisation ab 1921 zur deutlicheren ideologischen Positionierung christlich-national statt christlich-sozial.

Demonstrierende der Gewerkschaft Bau und Holz in der Zürcher Bahnhofstrasse am Ersten Mai 1978 © KEYSTONE/Photopress.
Demonstrierende der Gewerkschaft Bau und Holz in der Zürcher Bahnhofstrasse am Ersten Mai 1978 © KEYSTONE/Photopress.

Die Zahl der Streikenden überschritt nach den bewegten Jahren 1917-1922 erst 1946 wieder die Grenze von 10'000. Gewerkschaftsintern setzten sich in der Zwischenkriegszeit Bürokratisierung, Zentralisierung und Hierarchisierung durch. Ausgaben für Streiks machten nur mehr einen Bruchteil derjenigen für Versicherungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit) aus. Die zuvor von heftigen Auseinandersetzungen geprägten Kongresse verkamen zu Ritualen. Sekretäre, einst regelmässig scharfer Kritik der Basis ausgesetzt und gelegentlich von der Abwahl bedroht, standen nun in sicheren Arbeitsverhältnissen. Die radikale Richtung, die sich in den freien Gewerkschaften mit zum Teil fragwürdigen Mitteln gegen die Entmachtung der Basis wehrte, wurde marginalisiert und zum Teil ausgeschlossen (1921 Auflösung von Smuv-Sektionen, 1927 Ausschluss des Gewerkschaftskartells Basel und 1930 des VBLA aus dem SGB). Die Weltwirtschaftskrise mit ihrer Massenarbeitslosigkeit schwächte die Stellung der Gewerkschaften erheblich. Nach wie vor sperrte sich die Industrie gegen Gesamtarbeitsverträge; das Friedensabkommen in der Metall- und Maschinenindustrie von 1937 markierte als rein schuldrechtlicher Vertrag keine Wende in den industriellen Beziehungen (Arbeitsfrieden). Im Gewerbe dagegen stieg die Bedeutung der Gesamtarbeitsverträge nicht zuletzt deshalb, weil Meister und Gewerkschaften gemeinsam für staatliche Arbeitsbeschaffung eintraten. Auf Bundesebene trug die vor allem von SGB und VSA getragene Kriseninitiative (1935), obwohl vom Volk abgelehnt, nicht unwesentlich zur Abkehr von der Abbaupolitik bei.

Die schweizerische Form der Sozialpartnerschaft

Im Zweiten Weltkrieg erlitten die Gewerkschaften nur einen bescheidenen Rückschlag, und 1945 setzte erneut ein massiver Aufschwung ein. Die Position der Gewerkschaften verbesserte sich entscheidend, als 1945 mit der Basler Chemie erstmals eine wichtige Exportindustrie einen Gesamtarbeitsvertrag abschloss. Dieser folgten, zum Teil unter dem Druck einer Streikwelle, weitere Branchen, sodass ein breites Vertragsnetz entstand. Verhandlungen wurden zunehmend unter Ausschluss der Basis geführt. Kollektive Konflikte führten nur noch selten zu Streiks; kritische Stellungnahmen und sporadische Demonstrationen blieben fast die einzigen Kampfmittel. Der Wirtschaftsboom ermöglichte bis Mitte der 1970er Jahre die weitgehende Erfüllung materieller Forderungen ohne erbitterte Verteilungskämpfe. In politische Entscheidungsprozesse, vor allem ins vorparlamentarische Verfahren, waren die Gewerkschaften stark eingebunden. Der Ausbau des Sozialstaates entschärfte viele ihrer Forderungen. Es bildete sich eine schweizerische Form der Sozialpartnerschaft heraus, für die eine – verglichen mit Deutschland oder Österreich – schwächere Stellung der Gewerkschaften charakteristisch ist.

Angesichts der gelungenen Integration vernachlässigten die Gewerkschaften ihre Strukturprobleme. Der Frauenanteil im SGB blieb bei einem Zehntel, im CNG fiel er von einem Viertel auf das gleiche Niveau und in der VSA stagnierte er bei ca. 15%. Mit Ausländern hatte anfänglich vor allem der SGB seine Mühe, was ihn bei der Schwarzenbach-Initiative 1970 in erhebliche Schwierigkeiten brachte. Im stark wachsenden Angestelltenbereich blieb die Verankerung schwach. Schliesslich repräsentierten die Gewerkschaften bis in die 1990er Jahre weitgehend die Branchenstruktur der 1910er und 1920er Jahre und passten sich den Veränderungen der Berufsfelder und -bilder nie an.

Gewerkschaftliche Dachorganisationen und Einzelgewerkschaften 1975
Gewerkschaftliche Dachorganisationen und Einzelgewerkschaften 1975 […]
Gewerkschaftliche Dachorganisationen und Einzelgewerkschaften 2005
Gewerkschaftliche Dachorganisationen und Einzelgewerkschaften 2005 […]

Mitte der 1960er Jahre erreichten die Gewerkschaften einen Höhepunkt ihrer Anerkennung in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Danach machte ihnen der Wertewandel, vor allem die Individualisierung, schwer zu schaffen. Die Zahl der Mitglieder stagnierte, deren Bindung lockerte sich. Das Festhalten an starren Regelungen und das Misstrauen gegenüber sozialen Innovationen trug den Gewerkschaften den Ruf konservativer Organisationen ein. Die Krise Mitte der 1970er Jahre verlieh ihnen vorübergehend wieder Auftrieb und einen Mitgliederzustrom. Im starken wirtschaftlichen Strukturwandel entwickelten die Gewerkschaften aber nur beschränkt eigene Initiativen und wurden mehr und mehr in die Rolle der Verteidiger bestehender Errungenschaften gedrängt. In der Krise der 1990er Jahre setzte ein massiver Mitgliederschwund ein. Unter diesem Druck beschleunigte sich der gewerkschaftliche Strukturwandel nach zaghaften Anfängen im vorangegangenen Jahrzehnt (SVEA, GDP). Gewerkschaften aller Richtungen suchten mit Fusionen den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen (Travail.Suisse, Gewerkschaft Kommunikation, Comedia, Unia). Zudem traten verschiedene von ihnen wieder deutlicher als soziale Bewegungen in Erscheinung. Symbolische Aktionen sowie Kundgebungen unter Einsatz moderner Werbemittel (z.B. Fahnen, T-Shirts und Mützen mit Logo und Parolen) fanden ein breites Medienecho. Ab den späten 1990er Jahren nahm auch die Streiktätigkeit beträchtlich zu.

Eine umfassende Untersuchung identifizierte 1987 insgesamt 82 Arbeitnehmerorganisationen, die Vertragsverhandlungen führten und mindestens eine Sprachregion abdeckten. Davon waren sechs Föderationen und drei Dachorganisationen. Die 73 Mitgliederverbände zählten insgesamt 912'113 Organisierte, davon 599'664 in der Privatwirtschaft.

Mitglieder der gewerkschaftlichen Dachorganisationen 1910-1999a

 SGBCNGVSA
191075 3443 782 
1920223 57216 67755 182
1940212 58236 78760 564
1950377 30847 09475 198
1960437 00679 755102 503
1970436 66993 680123 364
1980459 852103 234144 742
1990443 885116 482135 574
1999380 184102 274104 861

a Daten nur bis 1999, weil die Zahlen ab 2000 wegen tief greifendem Strukturwandel bei verschiedenen Organisationen nicht mehr vergleichbar sind.

Mitglieder der gewerkschaftlichen Dachorganisationen 1910-1999 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik

Quellen und Literatur

  • J. Siegenthaler, Die Politik schweiz. Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, 1968
  • F. Höpflinger, Industriegewerkschaften in der Schweiz, 1976
  • Un siècle d'Union syndicale suisse, 1880-1980, 1980
  • B. Degen, Richtungskämpfe im Schweiz. Gewerkschaftsbund, 1918-1924, 1980
  • P. Garbani, J. Schmid, Le syndicalisme suisse, 1980
  • Gruner, Arbeiter
  • F. Höpflinger, Die anderen Gewerkschaften, 1980
  • W. Keller, Zeittabellen von 1800-1978, 1980
  • E. Ribbe-Ochsner, Der Schweiz. Gewerkschaftsbund und seine Verbände, 1980 (mit Bibl.)
  • R. Jenatsch-Walker, Der christlichnationale Gewerkschaftsbund und seine Verbände, Diplomarbeit Zürich, 1983 (mit Bibl.)
  • Arbeitsfrieden – Realität eines Mythos, 1987
  • E. Kobelt, Die Wirtschaftspolitik der Gewerkschaften, 1920-1950, 1987
  • Gruner, Arbeiterschaft 2
  • B. Degen, Abschied vom Klassenkampf, 1991
  • R. Fluder et al., Gewerkschaften und Angestelltenverbände in der schweiz. Privatwirtschaft, 1991
  • R. Fluder, Interessenorganisationen und kollektive Arbeitsbeziehungen im öffentl. Dienst der Schweiz, 1996
  • K. Armingeon, S. Geissbühler, Gewerkschaften in der Schweiz, 2000
  • J. Steinauer, M. von Allmen, Weg mit den Baracken! Die Immigranten in den schweiz. Gewerkschaften 1945-2000, 2000 (franz. 2000)
  • Vom Wert der Arbeit, hg. von V. Boillat et al., 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Gewerkschaften", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016481/2015-02-17/, konsultiert am 19.03.2024.