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Arbeitervereine

Die in der Schweiz grösstenteils zwischen 1875 und 1930 entstandenen Arbeitervereine erlangten als Bewegung ihre grösste gesamtgesellschaftliche Bedeutung in den 1930er Jahren. Sie verfolgten insbesondere Bildungszwecke (Volkshäuser) und boten der (sozialistischen) Arbeiterschaft Möglichkeiten zur kollektiven Gestaltung der Freizeit (zu den christlichen, insbesondere katholischen Arbeitervereinen siehe Christlichsoziale Bewegung). Anders als ihre deutschen, italienischen und österreichischen Schwesterorganisationen, die nach 1900 zu eigentlichen Massenbewegungen anwuchsen, blieb ihre Anziehungskraft auf die schweizerische Arbeiterschaft aber vergleichsweise gering. Auf ihrem Höhepunkt zählten die Arbeitervereine insgesamt rund 125'000 Mitglieder. Die meisten davon stammten aus den städtischen Agglomerationen der deutschen Schweiz. Um 1970 waren zwar rund 200'000 Personen in Arbeitervereinen organisiert, doch besassen diese ― inzwischen weitgehend entpolitisiert ― für die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei nicht mehr den Stellenwert wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der Aufbau eines weitverzweigten Vereinsnetzes, das die Arbeiter und ihre Familien «von der Wiege bis zur Bahre» in einen umfassenden Lebenszusammenhang einzubetten versuchte, war wohl die gesellschaftliche wichtigste kulturelle Leistung der Arbeiterschaft. Die Arbeitervereine waren ein bedeutendes qualitatives Moment der Identitätsbildung, indem sie der drohenden mentalen, sozialen und materiellen Verelendung entgegenwirkten, eine Enkulturation ermöglichten und gewissermassen als «Erweiterung der einzelnen Arbeiterpersönlichkeit» fungierten. Der Forschungsgegenstand Arbeitervereine bzw. Arbeiterkulturbewegung eignet sich damit ausgezeichnet, die wissenschaftshistorisch ältere Geschichte der Arbeiterbewegung mit neueren Versuchen zur Geschichte der Arbeiter selbst zu verknüpfen und Einsichten in den konkreten Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Lage, Bewusstseinsbildung, Organisation, Bewegung und Politik der Arbeiter zu gewinnen.

Die Arbeiterkultur gab es zunächst als Gruppenkultur bzw. als einen Komplex von Gruppenkulturen, deren Anfänge sich bis in die vorindustrielle Zeit zurückverfolgen lassen. Der industrielle Konzentrationsprozess schuf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rahmenbedingungen für das Einströmen der Arbeiterbewegungskultur als organisierter Subkultur. Sie entwickelte sich spontan aus den Reihen der Arbeiterschaft heraus und konnte von den politischen und gewerkschaftlichen Führern vorerst nicht entscheidend beeinflusst werden. Erst die Verbindung mit der Sozialdemokratie legte die Arbeiterkulturbewegung auf ein gegenkulturelles, von der herrschenden, bürgerlich dominierten Gesamtkultur sich abgrenzendes Programm fest. Arbeiterkultur realisierte sich aber nie nur als Sub- oder Gegenkultur. Die kulturellen Akte der Arbeiterschaft dienten immer auch der symbolisch demonstrativen Selbstdarstellung, der Demonstration ihrer «Kulturfähigkeit» und «Kulturwürdigkeit». Die Arbeiterkultur war somit selbst in Zeiten heftiger Klassenkämpfe gekennzeichnet durch ein teils irritierendes In- und Gegeneinander von Repräsentation und Opposition.

Zwei Gründungswellen

Die ersten gesamtschweizerischen Arbeitervereine entwickelten sich aus den Unterhaltungskorporationen des 1838 gegründeten Grütlivereins heraus. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begannen sich diese ― sehr zum Unwillen der Vereinsführung ― organisatorisch zu verselbständigen (1874 Grütliturnverein, 1890 Grütlischützenbund, 1894 Grütlisängerbund). Weitere Impulse zur Herausbildung einer organisierten Arbeitersubkultur kamen von deutschen und österreichischen Arbeitern. Solche gründeten 1888 den Arbeitersängerbund und 1905 schweizerische Sektionen des deutschen Arbeiterradfahrerbundes und des internationalen, von Wien aus geleiteten Touristenvereins Die Naturfreunde. Ebenfalls ausländische Vorbilder hatte der um 1900 gegründete Sozialistische Abstinentenbund. Die insbesondere durch militante Einwanderer gepflegten Kontakte zur Linken des benachbarten Italien hatten südlich der Alpen einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung und auf deren Vereinswesen in der italienischen Schweiz. Der hohe politische und gewerkschaftliche Organisationsgrad ihrer Mitglieder hinderte aber zumindest die Grütliverbände nicht daran, zu den jeweiligen bürgerlichen Parallelorganisationen bis ins 20. Jahrhundert hinein enge Beziehungen zu unterhalten. Erst gegen 1914 war die klassenmässige Trennung der Arbeiterfreizeitvereine vollzogen. Damit hatte sich endgültig eine von der Umwelt abgesonderte Arbeitersubkultur herausgebildet, die etwa mit dem Stichwort «Ersatzheimat» versehen werden kann. Sie erfüllte damit für das sozialistische Lager eine Funktion, die derjenigen der katholischen Arbeitervereine für den politischen Katholizismus vergleichbar ist. Das Vereinsleben bewegte sich jedoch nach wie vor in den Bahnen überlieferter Geselligkeit. Die Verbandsführer waren im Wesentlichen bestrebt, der Arbeiterschaft den Zugang zu bisher dem (Klein-)Bürgertum vorbehaltenen Freizeitaktivitäten zu ermöglichen. Daran zeigt sich, dass eine radikale Aberkennung politischer Legitimität ohne weiteres mit bedingungsloser Anerkennung kultureller Legitimität einhergehen kann.

Die Gruppe "Roter Wassersport" am 1.-Mai-Umzug in Basel 1932. Fotografie Arbeiterfotobund Basel (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Die Gruppe "Roter Wassersport" am 1.-Mai-Umzug in Basel 1932. Fotografie Arbeiterfotobund Basel (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Blaskapelle an der 1.-Mai-Demonstration in Zürich 1936. Fotografie Zollinger (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Blaskapelle an der 1.-Mai-Demonstration in Zürich 1936. Fotografie Zollinger (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).

Eine zweite Gründungswelle von Arbeitervereinen setzte nach dem Landesstreik von 1918 ein, der einen tiefen Graben zwischen sozialistischer Arbeiterschaft und Bürgertum aufriss. Den Beginn machte der Arbeitermusikverband (1919), ihm folgten der Arbeiterschachbund (1922), der Arbeiter-Samariterbund (1924), die Arbeiter-Jodler (1927), der Landesverband der schweizerischen Kinderfreunde-Organisationen (1928) sowie der Arbeiter-Radio-Bund (1930). In dieser Zeit schlossen sich zudem die beiden Gesangsvereine zum Arbeiter-Sängerverband zusammen (1917). Sodann wurde aus dem Grütlischützenbund der Arbeiterschützenverband (1917), und der Grütliturnverein benannte sich 1923 nach der Fusion mit dem Schweizerischen Arbeiter-Sportverband in Schweizerischer Arbeiter-, Turn- und Sportverband (Satus) um. Ferner gründeten die Naturfreunde 1925 einen eigenen Landesverband und folgten damit den Arbeiterradfahrern, die diesen Schritt bereits 1916 vollzogen hatten und sich in den 1920er Jahren zum Arbeiter-Touring-Bund wandelten. Eine wichtige Organisation der Arbeiterkulturbewegung war im Weiteren die 1933 aus Deutschland in die Schweiz übersiedelte Büchergilde Gutenberg.

Plakat der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale, gestaltet von Dora Hauth, 1923 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Plakat der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale, gestaltet von Dora Hauth, 1923 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).

Obschon diese Vereine 1929 einen gemeinsamen Dachverband gründeten (Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Arbeiter-, Sport- und Kulturverbände), kam eine fruchtbare Zusammenarbeit nur punktuell zustande. Auch die 1912 von der SP und vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund ins Leben gerufene Schweizerische Arbeiterbildungszentrale (ab 2001 Movendo – Bildungsinstitut der Gewerkschaften), die sich einerseits der Funktionärsschulung annahm und andererseits die rund 100 lokalen Bildungsausschüsse und Arbeiterbibliotheken betreute, entfaltete nicht die erhoffte Integrationswirkung. Ebenso wenig gelang dies dem auf Initiative der SP 1934 gegründeten Sozialistischen Jugendwerk, einem Zusammenschluss der Jugendabteilungen der verschiedenen Verbände und Vereine. Der durch die föderalistischen Strukturen der Schweiz noch verstärkte Organisationspartikularismus kann geradezu als ein Spezifikum von Arbeiterkultur gewertet werden und ist einer der Gründe dafür, dass sich die sozialdemokratische Subkultur nie zu einem ernstzunehmenden gegenkulturellen Block zu formieren vermochte.

Einströmen des «Kultursozialismus»

Dabei fehlte es ab der Mitte der 1920er Jahre durchaus nicht an Versuchen, den hegemonialen Kulturformen eine oppositionelle Arbeiterkultur entgegenzusetzen. Die Impulse dazu kamen zum Beispiel aus Deutschland und Österreich, wo nach 1918 eine breite theoretische Auseinandersetzung über Fragen einer sozialistischen Gegenkultur und einer sozialistischen Massenbildung einsetzte, die auch die Programmatik und Praxis der schweizerischen Arbeiterkulturbewegung beeinflusste. Kennzeichnend für diese üblicherweise als «Kultursozialismus» bezeichnete Strömung war der Anspruch, innerhalb der Arbeiterbewegung die Rolle des ideologischen Vordenkers zu übernehmen und Handlungsanleitungen für die gesamte Bewegung, aber auch für den einzelnen Sozialisten im Sinne einer Bewahrung und Weiterentwicklung sozialistischer Utopien zu liefern. Die aktuellste Tagesaufgabe erblickten die Kultursozialisten in der sozialistischen Erziehung, mit der sie zwei zentrale, einander ergänzende Zielvorstellungen verbanden: die des «neuen Menschen» und die der «sozialistischen Gemeinschaft».

Arbeiter Schiessverein Zürich. Fotografie von Willi Willi, um 1945 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
Arbeiter Schiessverein Zürich. Fotografie von Willi Willi, um 1945 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).

Als erster schweizerischer Arbeiterführer nahm der spätere Bundesrat Max Weber kultursozialistisches Gedankengut auf. Er sprach sich in einem 1927 in der Gewerkschaftspresse erschienenen Grundsatzartikel dafür aus, im Bildungsbereich die blosse Wissensvermittlung in den Hintergrund treten zu lassen und vermehrt Gesinnungsbildung zu betreiben. Gleichzeitig richtete er an die gesamte Arbeiterbewegung die Forderung, nach «neuer Lebensgestaltung, neuen Kulturformen» zu suchen und eine «sozialistische Kultur» aufzubauen. Hintergrund dieses Postulats waren namentlich innergewerkschaftliche und innerparteiliche Mobilisierungsprobleme.

Praktisch zur selben Zeit begann auch in den Arbeitervereinen, die nach wie vor einen regen internationalen Austausch pflegten und für die der Kultursozialismus die grosse Chance bot, sich bei Partei und Gewerkschaften die Anerkennung als dritte Säule der Arbeiterbewegung zu holen, eine intensiv geführte Debatte über die neuen Ideen. In der Folge gelang es ihnen mindestens teilweise, ihre kulturellen Praxen und Ausdrucksformen zu erneuern. Im Arbeiter-, Turn- und Sportverband hielt die rhythmische Gymnastik Einzug, gefeiert als «Lied der Freiheit» und als Kontrapunkt zur Eintönigkeit einer durchrationalisierten Arbeitswelt. Die Arbeitersänger nahmen Werke der «neuen Musik» eines Hanns Eisler oder Ottmar Gerster in ihr Repertoire auf und erteilten zusätzlich entsprechende Kompositionsaufträge an junge Schweizer Musiker wie Willy Burkhard. Die Naturfreunde propagierten das «soziale Wandern», das dazu dienen sollte, Einblick in gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewinnen. Sämtliche Arbeitervereine versuchten zudem ― teils mit Erfolg ― die Wettkämpfe abzuschaffen oder zumindest einzudämmen und an ihren Festen auf Ehrengaben und Kränze zu verzichten. Diese galten als «chauvinistische Rekordstreberei» bzw. als «bürgerlicher Klimbim» und erschienen als unvereinbar mit der «Gemeinschaftsidee des Sozialismus».

Die stärksten gegenkulturellen Akzente setzten die Arbeitervereine im Kampf gegen die moderne Massenkultur, der sie eine erneuerte proletarische Festkultur entgegenstellten. Im Mittelpunkt standen die expressionistischen Vorbildern folgenden Festspiele, eine Verbindung verschiedenen, in den einzelnen Vereinen erprobter sportlichen und künstlerischen Ausdrucksformen zu oratoriumsähnlichen Montagen. Den Höhepunkt markierte dabei das 1938 für den Zürcher Wahlkampf und das Schweizerische Arbeiter-Sängerfest geschaffene Festspiel «Jemand», eine «weltliche Kantate» von Hans Sahl zur Holzschnittfolge «Passion eines Menschen» von Frans Masereel und Musik von Tibor Kasics mit rund 800 Mitwirkenden.

Erosion der gegenkulturellen Ambitionen

Die hohen Ziele der Kulturfunktionäre liessen sich aber nur teilweise erreichen. Widerstand kam einerseits von der eigenen Basis, die den neuen Praxen, sobald sie sich mit Bedürfnissen wie Erholung, Geselligkeit oder soziale Kommunikation nicht hinreichend vereinbaren liessen, mit Abwehr begegneten. Andererseits stand auch die Mehrzahl der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, zum Beispiel der langjährige SP-Präsident Ernst Reinhard, den teils mit geschwollenem Pathos vorgetragenen kultursozialistischen Ideen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie hielten fest an einem kompensatorischen Kulturverständnis und verfolgten eher die Absicht, die Arbeiterschaft im Sinne einer «Veredelung» und «Kultivierung» mit den kanonisierten Bildungs- und Kulturgütern vertraut zu machen. Zudem nahmen sie Anstoss daran, dass die Arbeitervereine in den Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten Neutralität wahrten.

Weitgehend hinfällig wurden die gegenkulturellen Ambitionen mit dem ideologiegeschichtlichen Kontinuitätsbruch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, der im Abschluss des «Friedensabkommens» in der Maschinenindustrie sowie in der Zustimmung der Arbeiterbewegung zur militärischen und kulturellen Landesverteidigung gipfelte. Daran vermochten auch verschiedene Wiederbelebungsversuche nach 1942 nichts zu ändern. Noch war damit aber die soziale und gesellschaftliche Integration der Arbeitervereine nicht vollzogen. Weit über das Kriegsende hinaus verharrten sie in einer Art subkulturellen Absonderung. Dies äusserte sich namentlich darin, dass die Mitglieder weiterhin der SP oder einer Gewerkschaft angehören mussten und dass der Verkehr mit nicht-sozialistischen Verbänden verboten blieb. Auch national gefärbten Anlässen wie Ersten-August-Feiern blieb man nach wie vor fern.

Erst um 1960 überwanden die Arbeitervereine ihre gesellschaftliche Isolation. Diese Neuorientierung kann wie die Wahl von zwei Sozialdemokraten in die Landesregierung als politisch-symbolischer Ausdruck eines sozialgeschichtlichen Kontinuitätsbruchs gewertet werden, der sich etwa in der beispiellosen Anhebung des Lebensstandards, einer Angleichung der Lebensstile oder in einer verstärkten Mobilität äusserte und arbeitertypisch sozialen und politischen Identifikationsmustern endgültig den Boden entzog. Die Arbeitervereine repräsentieren seither (wieder) eine gesamtkulturell akzeptierte und integrierte Gruppenkultur, die für die SP und die Gewerkschaften kaum mehr politische Sozialisationsleistungen vollbringt. Die meisten von ihnen haben die politische «Neutralisierung» nachträglich auch statutarisch festgehalten und in Form von Namensänderungen sichtbar gemacht. In einigen Fällen gelang es ihnen auf diese Weise, ihre Weiterexistenz zu sichern.

Quellen und Literatur

  • K. Schwaar, Isolation und Integration, 1993 (mit Dok. und Bibl.)
  • P. Jeanneret, «Aspects de la culture ouvriere en Suisse (1918-1945)», in Cahiers HMO 10, 1994, 27-51
  • Sozialgesch. und Arbeiterbewegung, hg. von B. Studer, F. Vallotton, 1997
  • La Befana rossa: memoria, sociabilità e tempo libero nel movimento operaio ticinese, hg. von M. Marcacci, 2005
  • Altre culture, hg. von N. Valsangiacomo, F. Mariani Arcobello, 2011
Weblinks

Zitiervorschlag

Karl Schwaar: "Arbeitervereine", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.03.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016477/2013-03-05/, konsultiert am 19.03.2024.