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Sittlichkeitsbewegung

Titelseite einer von Amélie Humbert-Droz 1895 vorgelegten Studie über die Beziehungen zwischen dem Internationalen Verein der Freundinnen junger Mädchen und der Sittlichkeitsbewegung, im gleichen Jahr in Neuenburg veröffentlicht (Schweizerische Nationalbibliothek).
Titelseite einer von Amélie Humbert-Droz 1895 vorgelegten Studie über die Beziehungen zwischen dem Internationalen Verein der Freundinnen junger Mädchen und der Sittlichkeitsbewegung, im gleichen Jahr in Neuenburg veröffentlicht (Schweizerische Nationalbibliothek). […]

Die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstandene Sittlichkeitsbewegung verschrieb sich dem Kampf gegen die Prostitution, die als Bedrohung der Familie und als Symptom des Zerfalls der bürgerlichen Ordnung galt. Die 1875 von der Engländerin Josephine Butler initiierte Internationale Föderation zur Abschaffung der Prostitution (FAI, Abolitionismus) mit Sitz in Genf lehnte die im 19. Jahrhundert in vielen europäischen Staaten eingeführte Regulierung der Prostitution zur Eindämmung der Geschlechtskrankheiten und die gesetzliche Tolerierung von Bordellen ab. Insbesondere stellte sie sich gegen eine einseitige Kontrolle der Prostituierten bei gleichzeitiger Schonung der Freier. Als Mittel gegen die Prostitution forderte sie die aussereheliche Keuschheit für Männer und Frauen, ein Ende der Doppelmoral und die gesellschaftliche Besserstellung der Frau (Frauenbewegung).

Titelblatt des Vortrags, den die Ärztin Marie Heim-Vögtlin an der Jahresversammlung des Zürcher Frauenbunds zur Hebung der Sittlichkeit am 19. Mai 1904 gehalten hat (Schweizerische Nationalbibliothek).
Titelblatt des Vortrags, den die Ärztin Marie Heim-Vögtlin an der Jahresversammlung des Zürcher Frauenbunds zur Hebung der Sittlichkeit am 19. Mai 1904 gehalten hat (Schweizerische Nationalbibliothek).

Die Westschweizer Vereine (Dames de l'œuvre de secours, Dames de la Fédération) richteten sich weitgehend nach diesen Vorgaben und schlossen sich bereits 1875 im Comité intercantonal de dames de la Suisse zusammen. Die Deutschschweizer Vereine verlangten hingegen auch repressive Massnahmen gegen Prostitutierte. 1901 trennten sie sich als Verband deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit von der Föderation und entwickelten sich bis 1912 zur grössten Frauenorganisation der Schweiz (25'772 Mitglieder). Die Sittlichkeitsbewegung war in den protestantischen Kirchgemeinden und den freikirchlichen Zirkeln verankert. In den Männervereinen der Sittlichkeitsbewegung waren Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Juristen und Beamte übervertreten, in den Frauenvereinen deren Ehefrauen und Schwestern. Männer agierten auf der politischen Ebene, Frauen waren unter anderem für Hauskollekten und die Streuung von Petitionen zuständig. Männer und Frauen der Sittlichkeitsbewegung waren oft gleichzeitig in der Abstinenz- und der gemeinützigen Frauenbewegung aktiv. In katholischen Gebieten arbeiteten katholische Frauenvereine, der Klerus und konservative sowie christlich-soziale Politiker bei der Gründung von Mädchenschutzvereinen zusammen.

Bis um 1900 kämpfte die Sittlichkeitsbewegung hauptsächlich für die Schliessung von Bordellen und, vor allem in der deutschen Schweiz, für die Kontrolle und Kriminalisierung der Strassenprostitutierten. Sie verlangte die Ausweitung des Tatbestandes der Kuppelei auf den Bereich der Wohnungsvermietung, die Ausweisung von ausländischen Prostituierten und arbeitete mit Polizei und Gesundheitsbehörden zusammen. Nach erfolgreichen Abstimmungskampagnen wie zum Beispiel 1897 im Kantone Zürich gewannen Aufklärung (Referate, Broschüren), Fürsorge und Prävention ab 1900 an Gewicht. Die erzieherischen Massnahmen zielten vor allem auf das weibliche Geschlecht. Mütter aus Arbeiterquartieren wurden bei Teerunden instruiert, gefährdete oder sogenannte gefallene Frauen in Heimen mittels Haus- und Gartenarbeit diszipliniert, Obdachlose in Asylen oder bei christliche Familien untergebracht. Neuzuzügerinnen in die Stadt wurden Unterkunft und Stellen vermittelt (Freundinnen junger Mädchen, FJM), aus dem Gefängnis Entlassene betreut, als «unrettbar» Eingestufte in Arbeitsanstalten (Anstaltswesen) eingewiesen und (mehrheitlich uneheliche) Kinder in Pflegefamilien platziert.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs dehnten die Frauen- gemeinsam mit den Männervereinigungen ihre erzieherische Bemühungen auf die Soldaten und die breite Bevölkerung aus (u.a. Einführung der Polizeistunde, Einschränkung öffentlicher Tanz- und Vergnügungsveranstaltungen, Publikationskontrollen, Film- und Reklamezensur). Erste Erfolge auf bundespolitischer Ebene verbuchten die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit gemeinsam mit anderen Frauenorganisationen beim Zivilgesetzbuch von 1912, das ihre Eingabe für die Erhöhung des weiblichen Heiratsalters auf 18 und der Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen auf 20 Jahre berücksichtigte. Bei der Mitarbeit in der Kommission für das 1938 angenommene Strafgesetzbuch setzten sie die Anhebung des Schutzalters auf 18 Jahre durch. Der Verband deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit nannte sich ab 1921 evangelische Frauenhilfe und schloss sich 1947 dem Evangelischen Frauenbund der Schweiz (EFS) an.

Quellen und Literatur

  • B. Mesmer, Ausgeklammert – Eingeklammert, 1988, 157-168
  • A.-M. Käppeli, Sublime croisade, 1990
  • D. Puenzieux, B. Ruckstuhl, Medizin, Moral und Sexualität, 1994
  • S. Janner, Mögen sie Vereine bilden, 1995
  • B. Mesmer, «Pflichten erfüllen heisst Rechte begründen», in SZG 46, 1996, 332-355
  • D. Brodbeck, Hunger nach Gerechtigkeit, 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Elisabeth Joris: "Sittlichkeitsbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.01.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016444/2013-01-24/, konsultiert am 29.03.2024.