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Intellektuelle

"Von unnutze buchern". Holzschnitt zu Sebastian Brants Narrenschiff, erschienen in Basel 1494 (Universitätsbibliothek Basel).
"Von unnutze buchern". Holzschnitt zu Sebastian Brants Narrenschiff, erschienen in Basel 1494 (Universitätsbibliothek Basel). […]

Der Begriff des Intellektuellen tauchte erstmals während der Dreyfus-Affäre in Frankreich (1894-1906) auf. Er bezeichnet eine Persönlichkeit, die sich mit dem ganzen Gewicht ihres Ansehens für eine Sache engagiert. Es handelt sich also nicht um reine Kopfarbeiter oder Akademiker, sondern um eine – nach der Definition des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci – "organische Kategorie". Ausgehend vom Definitionskriterium des Engagements lässt sich für die Schweiz sowohl eine zeitliche Verzögerung als auch ein Defizit des Phänomens feststellen: Die kleine Anzahl, der bescheidene Einfluss und die geringe gesellschaftliche Anerkennung erklären sich vor allem aus den Besonderheiten des politischen Systems (starker Föderalismus, Neutralität, direkte Demokratie). Diese Eigenheiten spiegeln sich auf soziokultureller Ebene in der Kleinheit und Vielgestaltigkeit eines stark aufgesplitterten öffentlichen Raums, in dem ausgesprochenen Hang zum Konsens und zu einer für die Streitkultur wenig förderlichen Politik des Machbaren, in einer antiintellektuellen Haltung, die auf einem bis zum Populismus abgleitenden Demokratieverständnis fusst, und in der Reserviertheit der bürgerlichen Kreise in der Deutschschweiz gegenüber jeder Form von Intellektualität.

Die Randstellung der Intellektuellen in der Schweiz hat auch damit zu tun, dass die Eidgenossenschaft im Bereich der Kulturpolitik erst spät aktiv wurde (die Stiftung Pro Helvetia wurde beispielsweise 1939 gegründet). Sie sah den Intellektuellen als Experten, der Kompetenzen und Bürgertugenden in sich vereint, der politischer Macht nahe steht und sich als Berater von deren Exponenten begreift. Dieser Typus des Intellektuellen trug die von offizieller Seite propagierte Kultur widerspruchslos mit, ebenso wie die besonders vom Ende der 1930er Jahre bis zum Ende des Kalten Krieges herrschende Geisteshaltung, die den kritischen, an die Kraft der Ideen und universellen Werte glaubenden Intellektuellen zum Aussenseiter oder Oppositionellen stempelte.

Ihrer Stellung mehr und mehr bewusst, traten die Schweizer Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine eigene soziale Gruppe unter dem Banner des Helvetismus in Erscheinung. Die kleine Gruppe, die gegenüber ihren literarischen Vorbildern avantgardistisch auftrat, die herrschende liberale Ordnung kritisierte und politisch konservative oder gar reaktionäre Positionen einnahm, setzte sich für eine schweizerische Gesinnung ein, die ein Gegengewicht zu den als zu kosmopolitisch und zu sozialistisch erachteten Modernisierungsströmungen in der Gesellschaft bilden sollte. Im Gegensatz zu ihren Vorbildern der Dreyfus-Affäre verteidigten die Schweizer Intellektuellen dabei nicht universelle Werte der Aufklärung. Ihre ersten Engagements waren vielmehr von der Beschäftigung mit der nationalen Frage und fremdenfeindlichen Überzeugungen (Fremdenfeindlichkeit) bestimmt. Deutlich ist auch der Wunsch der Elite zu fassen, ihre Vorrechte in einem Land zu bewahren, das sich auf den Weg in die Moderne machte. Auf der politischen Skala ordneten sich diese Intellektuellen klar rechts ein. Diese Position verstärkte sich nach 1918 und prägte die Zwischenkriegszeit. Zu ihren Verfechtern zählen unter anderen Gonzague de Reynold und Jacob Burckhardt sowie die Westschweizer Kreise um den Franzosen Charles Maurras und die Neuthomisten um die Ligue vaudoise. Soziologisch gesehen überwogen die Akteure aus dem Bildungsbürgertum – das Erbe einer literarischen Tradition, die auf die reformierten Eliten der Westschweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Auch viele der nachfolgenden Intellektuellen waren noch im christlich-konfessionellen Milieu verwurzelt oder standen religiösen Kreisen nahe, wie zum Beispiel Leonhard Ragaz, Charles Journet, Jules Humbert-Droz, Denis de Rougemont oder Edmond Privat. Einige dieser Persönlichkeiten sollten sich allerdings später vollständig aus diesem Umfeld lösen.

Mit der Gründung des Völkerbunds 1919 entwickelte sich im Land von Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi ein intellektuelles Milieu, das – angeregt von den zahlreichen internationalen Projekten, in denen sich der viel beschworene "Esprit de Genève" niederschlug – neue pädagogische Ansätze gedeihen liess. Aus diesem Umfeld ging ein neuer Typ des schweizerischen Intellektuellen hervor, der zwischen den Kulturen vermittelte, sich für die Menschenrechte und vor allem für die Durchsetzung der Rechte des Kindes engagierte und sich auch den Belangen der Jugendlichen annahm, wie unter anderen Carl Albert Loosli, Adolphe Ferrière, Edouard Claparède und Jean Piaget. Intellektuelle dieser Prägung setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den politischen und kulturellen Wiederaufbau Europas ein, namentlich auch im Rahmen der Rencontres internationales de Genève und der Unesco, deren Schweizerdelegation vom bereits erwähnten Piaget angeführt wurde. Auf der linken Seite des politischen Spektrums zogen Jules Humbert-Droz und Léon Nicole, die Galionsfiguren der Westschweizer Kommunisten, sowie der pazifistisch und prosowjetisch eingestellte Hellenist André Bonnard das Interesse der Historiker der Arbeiterbewegung auf sich.

Schweizer Intellektuelle orientierten sich vor allem bezüglich der Verwendung neuer politischer Ausdrucksformen am französischen Vorbild; dies illustrieren zahlreiche Petitionen und Manifeste, die anlässlich verschiedener sozialer Spannungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert publik gemacht wurden. 1893 mobilisierte der Publizist und Schriftsteller Carl Albert Loosli seine Gesinnungsgenossen über die Presse für die Befreiung des Gewerkschaftsführers Nikolaus Wassilieff, eines Exilrussen in Bern. Im Herbst 1909 unterzeichneten Westschweizer Intellektuelle aus Protest gegen die Hinrichtung des spanischen Pädagogen und Anarchisten Francisco Ferrer eine öffentliche Petition. Ein Engagement im Antifaschismus hielt nur eine Minderheit der Intellektuellen für lohnend, die vor allem während des Spanischen Bürgerkriegs in der Deutschschweiz aktiv war, in der Öffentlichkeit aber kaum wahrgenommen wurde. Wie die schweizerischen Germanistikprofessoren, für welche die Idee einer kulturellen Angleichung der Schweiz an Nazideutschland schon eine gewisse Versuchung darstellte, stellten sich die Schweizer Intellektuellen grösstenteils in den Dienst der offiziellen, vom Bundesrat in den 1930er Jahren propagierten Kulturpolitik und enthielten sich jeglicher Kritik an derselben (Geistige Landesverteidigung).

Nur wenige wichen von dieser offiziellen Linie ab wie der sozialistische Genfer Professor André Oltramare, der sich im Antifaschismus engagierte, oder der Liberale David Lasserre, ein Vertreter föderalistischen Gedankenguts, der pazifistische, internationalistische und philosemitische Aktionen in die Wege leitete. Im geistigen Widerstand gegen die totalitären Ideologien zeichneten sich ferner der Germanist Albert Béguin sowie der Verleger und Diplomat François Lachenal, während des Kriegs der führende Kopf der Revue «Traits», besonders aus. Der Theologe Karl Barth fiel durch seine mutigen antinazistischen Äusserungen auf, der Zürcher Buchhändler und Verleger Emil Obrecht durch seine Unterstützung der antifaschistischen Exilliteratur und Peter Surava durch seinen Kampf in der Wochenzeitung «Die Nation». Das Tessin schliesslich war Fluchtort für zahlreiche antifaschistische Emigranten aus Italien. Diese gruppierten sich vor allem um den Sozialistenführer Guglielmo Canevascini und trugen zur Gründung und Wiederbelebung mehrerer Zeitungen, Zeitschriften und schweizerischer Verlagshäuser bei.

Nach 1945, als die Werte der Geistigen Landesverteidigung allmählich unter Beschuss gerieten, rückten viele Intellektuelle unter dem dominierenden Einfluss Paul Sartres in die politische Mitte oder wandten sich gar nach links. Im Kontext des Kalten Kriegs trat Mitte der 1950er Jahre eine neue Generation an, deren Leitfiguren in der Deutschschweiz Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt waren (Nonkonformismus). In ihrem Kielwasser prangerten weitere Intellektuelle mit spitzer Feder den Immobilimus und den selbstgefälligen Wohlstand der Schweiz an, die – unversehrt aus dem Krieg hervorgegangen – sich sogleich bedingungslos dem McCarthyismus verschrieben habe (Antikommunismus). Die linken Westschweizer Intellektuellen äusserten ihre Gesellschaftskritik hauptsächlich in den Zeitschriften «Rencontre», «La Voix ouvrière» oder dem Genossenschaftsorgan «Servir», wobei in Letzterem vor allem Schweizer Anhänger des Personalismus aus dem Umfeld der Revue «Esprit» zu Wort kamen. Am Rand des helvetischen Kulturspektrums bekämpften einige Schweizer Intellektuelle den Leitgedanken der Neutralität und befürworteten im Rahmen eines abendländischen Liberalismus die Integration der Schweiz in Europa. François Bondy, Herbert Lüthy und Denis de Rougemont veröffentlichten Beiträge zu dieser Debatte in der Zeitschrift «Preuves», dem Organ des Kongresses für kulturelle Freiheit.

Europaweit erlebten die linken Intellektuellen im Gefolge der 1968er-Bewegung ihr goldenes Zeitalter: Jean Ziegler, Niklaus Meienberg (auch als Filmschaffender), Jean-Baptiste Mauroux, Hans Küng, Freddy Buache und viele andere in den Medien weniger präsente Intellektuelle stellten die Grundlagen der – ihrer Ansicht nach in hohem Mass militarisierten – schweizerischen Gesellschaft in Frage. Sie verurteilten zudem die Verbindungen von Hochfinanz und Grossindustrie zu den Unterdrückungsregimes in den Entwicklungsländern. Ideen linker Intellektueller wie zum Beispiel von Otto F. Walter, Peter Bichsel, Arnold Künzli und François Masnata flossen in das 1982 revidierte Parteiprogramm der Sozialdemokraten ein.

Der landesübliche Antifeminismus brachte es mit sich, dass sich nur wenige Frauen als Intellektuelle profilierten. Zu erwähnen sind immerhin Jeanne Hersch, Jenny Humbert-Droz, Yvette Zgraggen oder Anne Cuneo. Über den Einfluss der zahlreichen sozialdemokratischen oder liberal-konservativen Intellektuellen, die als Lehrer im Schul- und Hochschulwesen oder als Medienschaffende (z.B. Pierre Béguin, Ernest Paul Graber) an der öffentlichen Meinungsbildung mitwirken, liegen bis heute noch kaum Forschungsarbeiten vor. Für die Schweiz sind aber gerade diese konsens- und reformorientierten Intellektuellen typisch.

Quellen und Literatur

  • P. Chenaux, «Situation des intellectuels en Suisse», in Lettre d'information du Groupe de recherche en histoire intellectuelle, 1992, Nr. 18, 9-11
  • H.U. Jost, Die reaktionäre Avantgarde, 1992
  • A. Clavien, Les helvétistes, 1993
  • H.U. Jost et al., «A propos des intellectuels en Suisse romande», in SZG 44, 1994, 410-417
  • Intellektuelle von rechts, hg. von A. Mattioli, 1995
  • B. Studer, «Jalons pour l'étude du cas suisse 1890-1945», in Histoire comparée des intellectuels, hg. von M.-C. Granjon et al., 1997, 31-36
  • S. Birrer et al., Nachfragen und Vordenken, 2000
  • Y. Lamonde, «L'Alpe et la vallée laurentienne», in Regards croisés entre le Jura, la Suisse romande et le Québec, hg. von C. Hauser, Y. Lamonde, 2002, 317-340
  • C. Hauser, «L'histoire des intellectuels en Suisse», in L'histoire des intellectuels aujourd'hui, hg. von M. Leymarie, J.-F. Sirinelli, 2003, 379-407
  • Jean Rudolf von Salis, die Intellektuellen und die Schweiz, hg. von P. Ducrey, H.U. Jost, 2003
  • Les intellectuels antifascistes dans la Suisse de l'Entre-deux-guerres, hg. von A. Clavien, N. Valsangiacomo, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Claude Hauser: "Intellektuelle", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.08.2011, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016383/2011-08-24/, konsultiert am 17.04.2024.