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Aristokratisierung

Aristokratisierung bezeichnet hier – in Anlehnung an die antike Staatsformenlehre (Aristokratie = griechisch "Herrschaft der Besten", im Gegensatz zur Monarchie bzw. Demokratie) – die frühneuzeitliche Entwicklung zur Herrschaft eines Standes, der sich durch Herkunft, Funktion oder Besitz als Kollektiv abhob.

Das fast vollständige Verschwinden des alten Adels aus der politischen Führung der eidgenössischen Orte im Spätmittelalter liess eine neue Schicht von herrschenden Familien heranwachsen, die von den Zeitgenossen als "Ehrbarkeit" und nach Max Weber als Honoratioren bezeichnet werden: Personen, die dank ihrer ökonomischen Lage im Stande waren, andauernd nebenberuflich zu regieren, und die eine solche soziale Schätzung genossen, dass sie bei formal unmittelbarer Demokratie kraft Vertrauens der Genossen zunächst freiwillig und schliesslich traditionell die Ämter einnehmen konnten. Die im 16. Jahrhundert einsetzende Abschliessung des Bürgerrechts in den Städten wie auch in den Länderorten begrenzte die Zahl derjenigen, die eine Teilhabe an der Macht beanspruchen konnten. Die Vorteile des Bürgerrechts überwogen nun bei weitem die damit verbundenen Bürden. Aber auch innerhalb der Bürgerschaften begann sich eine kleine Zahl von Familien abzuheben, die sich de facto die politischen Ämter teilten. Oft komplizierte Kooptationsverfahren (Kooptation) verhinderten weitgehend, dass neue Familien in den Kreis der Regierenden vorstossen konnten. Der Prozess der Aristokratisierung erfasste auch die kleineren Städte und Dörfer, so dass die Eidgenossenschaft als ein System von hierarchisch gestuften Aristokratien bezeichnet werden kann.

Der Ausbau der Staatsaufgaben in der frühen Neuzeit erforderte in immer stärkerem Masse gut ausgebildete Berufsmagistraten, die sich aus den sich bildenden Patriziaten oder Aristokratien rekrutierten. Die sich zur Aristokratie zählenden Familien strebten nun im Lebensstil – besonders im Heiratsverhalten – dem Vorbild des europäischen Adels nach, ohne allerdings eine völlige Ebenbürtigkeit zu erlangen und ohne die republikanischen Grundwerte der eidgenössischen Staaten in Frage zu stellen. Als Hochburgen eines aristokratischen Selbstverständnisses galten die patrizischen Orte Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern. Auch in den sogenannten Zunftstädten prägten aristokratische Formen den Habitus der Führungseliten, die sich allerdings weniger abschlossen als diejenigen der patrizischen Orte.

Denkschrift, in der die politische Gleichberechtigung aller in Genf Ansässigen gefordert wurde. Gedruckte Broschüre von 16 Seiten (Archives d'Etat de Genève, A 219).
Denkschrift, in der die politische Gleichberechtigung aller in Genf Ansässigen gefordert wurde. Gedruckte Broschüre von 16 Seiten (Archives d'Etat de Genève, A 219). […]

Die Abschliessung des Bürgerrechts und die Beschränkung der Macht auf wenige Familien führte im 17. und 18. Jahrhundert zur Oligarchie. Da stets Familien ausstarben, aber keine neuen hinzukamen, verengte sich der Kreis der regierenden Familien immer mehr. Zaghafte Reformversuche in den meisten eidgenössischen Städten Ende des 18. Jahrhunderts brachten keine Entspannung des Problems. Die zunehmende Aristokratisierung stiess immer wieder auf den erbitterten Widerstand der von der Macht ausgeschlossenen Kreise. Besonders in den grossen Städten treffen wir zwischen 1650 und 1750 auf städtische Unruhen, deren Ziel es war, die Macht innerhalb der Bürgerschaft ausgeglichener zu verteilen. Sie konnten aber keine Erfolge verzeichnen. Die inneren Unruhen, die Genf von 1707 bis 1782 erschütterten (Genfer Revolutionen), wurden europaweit zum Symbol der Auseinandersetzung zwischen Aristokraten und Demokraten – Genf wurde zum "Laboratorium der Revolution".

In den letzten Jahrzehnten vor der Revolution wurde das aristokratische Prinzip aus philosophischer Sicht grundsätzlich in Frage gestellt und der Sturz der Aristokratien des Ancien Régime zum wichtigsten – durch die Helvetische Revolution schliesslich auch weitgehend erreichten – Ziel der revolutionären Kräfte. Das aristokratische Prinzip blieb indes im politischen Kampf noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein wichtiges Thema der Polemik für oder gegen staatliche Modernisierungstendenzen.

Quellen und Literatur

  • K. Messmer, P. Hoppe, Luzerner Patriziat, 1976, 1-28
  • M. Guisolan, Aspekte des Aussterbens in polit. Führungsschichten im 14. bis 18. Jh., 1981
Weblinks

Zitiervorschlag

François de Capitani: "Aristokratisierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.09.2001. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016377/2001-09-17/, konsultiert am 19.03.2024.