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Kindesaussetzung

Nordeuropa scheint lange nicht von einem Phänomen betroffen gewesen zu sein, das in den romanischen Ländern ein erhebliches Ausmass erreichte: die Kindesaussetzung (Kindheit). Eltern, die ihre Kinder nicht aufziehen wollten oder konnten, setzten sie meist kurz nach der Geburt aus. Diese Form des Umgangs mit unerwünschtem Nachwuchs kam parallel zur Abtreibung und zum Kindesmord vor.

Vor dem 19. Jahrhundert

Von der Renaissance an verfügte Italien über spezialisierte Heime für verstossene Kinder. In der Schweiz existierte vor dem 16. Jahrhundert nichts dergleichen. Kindesaussetzung scheint selten gewesen zu sein: In den von Pierre Dubuis untersuchten 2523 Texten des 14. bis 15. Jahrhunderts zur Situation in den Westalpen fanden sich elf Fälle, alle aus der Diözese Aosta. In Genf wurden die ausgesetzten Kinder von der sogenannten Boîte de Toutes-Ames, einer Art amtlicher Wohltätigkeitsinstitution, aufgenommen. 1523 waren ungefähr 40 Kinder (davon drei Findelkinder aus jenem Jahr) in ihrer Obhut. Nach der Reformation wurden die Kinder im Hôpital général untergebracht; es waren etwa zehn pro Jahr, mehrheitlich Waisen und Uneheliche, die von ihrer Mutter hergebracht wurden (Illegitimität). In Bern führten die «Ammkinder Rodel» ab 1685 jene Kinder auf, die von der Stadt in Ammenpflege gegeben wurden; einige davon waren Findelkinder.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Kindesaussetzung in den romanischen Ländern zu einem grossen sozialen Problem. Die Schaffung von Aufnahmeinstitutionen (Anstaltswesen) sowie die systematische Einrichtung des sogenannten Drehladens, der die anonyme Abgabe von Kindern erleichterte, können die starke Zunahme der Kindesaussetzung erklären. Die Schweiz hielt sich von diesem System weitgehend fern. Die rigorose Verfolgung der Kindesaussetzung, der geringe Anteil unehelicher Kinder und die Überschaubarkeit der Städte trugen dazu bei, dass nur wenige Kinder ihrem Schicksal überlassen wurden. In Luzern (4000 Einwohner im 18. Jh.) waren während des ganzen Jahrhunderts nur zwölf Findelkinder zu verzeichnen. Folglich gab es auch keine Institution für deren Aufnahme. Eine Ausnahme bildeten das Tessin und Genf. Hier waren die Verhältnisse ähnlich wie in Italien und in Frankreich. Im Tessin wurden die unehelichen Kinder in die Spitäler von Como, Mailand oder Novara gebracht. In Genf nahm das Hôpital 1745-1785 690 Kinder auf, darunter 458 ausgesetzte, wovon die Hälfte weniger als eine Woche alt war. Während der französischen Herrschaft stieg deren Zahl stark an: 1799-1813 559 Kinder, 1814-1823 noch 96, in den folgenden Jahrzehnten 25, 25 und 19.

Der Schutz der ausgesetzten Kinder in der Schweiz im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert verfügten die Schweizer Kantone (mit Ausnahme von Graubünden, Wallis, Tessin und Freiburg) über eine Gesetzgebung zur Kindesaussetzung (Kindesrecht). In den meisten Kantonen wurden Kinder, deren Eltern ihre materiellen und moralischen Familienpflichten vernachlässigt hatten und daher der elterlichen Gewalt enthoben worden waren, den Waisen gleichgestellt. Die Kinder kamen bis zum vollendeten 16. Altersjahr in die Obhut der Fürsorge, die von der Gemeinde, seltener von der Pfarrei organisiert wurde. Nur die Waadt und Genf schufen kantonale Institutionen. Das bernische Gesetz von 1848 legte fest, dass der Staat die nötigen Anstalten gründen und unterhalten müsse. Doch auch gemeinnützige, wohltätige und philanthropische Gesellschaften entfalteten eine rege Aktivität. In der Schweiz wurden die Kinder meist in Familien platziert, auch wenn einige Kantone (Appenzell Ausserrhoden, Bern, Zürich, Neuenburg) fast in jedem Bezirk ein Waisenhaus besassen (Pflegekinder).

Im 20. Jahrhundert verschwand die Kindesaussetzung fast vollständig. Im Jahr 2000 jedoch eröffnete eine Anti-Abtreibungsorganisation in Einsiedeln einen neuen Drehladen, das sogenannte Babyfenster, das 2002 erstmals benützt wurde und sogleich ethische und rechtliche Probleme aufwarf.

Quellen und Literatur

  • G. Moynier, Histoire de l'assistance des enfants trouvés, abandonnés ou orphelins dans le canton de Genève, 1860
  • A. Gavard, L'enfance abandonnée et les moyens de la protéger, 1892
  • V. Gilardoni, «Creature, trovatelli, venturini in un mazzo di schede del Museo dell'arte e delle tradizioni popolari», in AST 80, 1979, 271-332
  • D. Aquillon, «Hélène Chambras, Marie Passant, Georges Parvis… ou le don et l'abandon d'enfants à l'Hôpital au XVIIIe siècle», in Sauver l'âme, Nourrir le corps, hg. von B. Lescaze, 1985, 203-228
  • P. Dubuis, «Enfants refusés dans les Alpes occidentales (XIVe-XVe siècle)», in Enfance abandonnée et société en Europe (XIVe-XXe siècle, 1991, 573-590
  • G. Gerber-Visser, "Dan mein muter wot nicht muter sein, und der vatter nicht vatter", 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Alfred Perrenoud: "Kindesaussetzung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.12.2006, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016116/2006-12-09/, konsultiert am 29.03.2024.