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Geburtenregelung

Die Geburtenregelung umfasst alle die Fortpflanzung beeinflussenden institutionellen oder individuellen Praktiken. Dazu gehören Heiratsbräuche (Ehe, Ehelosigkeit), soziale Praktiken (Stilldauer, periodische Enthaltsamkeit), empfängnisverhütende Methoden (nicht zur Schwangerschaft führender sexueller Verkehr durch Coitus interruptus oder Verhütungsmittel, Abtreibung, Sterilisation) und Kindesmord.

Wie im übrigen Europa bildeten auch in der Schweiz ab dem 16.-17. Jahrhundert die späte Eheschliessung, eine lange Stillzeit und die Enthaltsamkeit die am meisten verbreiteten (und zum Teil bis in jüngster Zeit angewendeten) Methoden, um die Geburtenzahl zu beschränken. Parallel dazu ist der Coitus interruptus und das Einnehmen abtreibender Arzneimittel seit dem Altertum belegt: Der «Trésor de Santé» (1276) von Papst Johannes XXI., der 26 Rezepte zur Empfängnisverhütung enthält, war in der Schweiz ebenso bekannt wie das Herbarium «Macer floridus» (Ende 11. Jh.) von Odo von Meung, das hier kopiert wurde. Letzteres beschreibt die abtreibende Funktion der Raute, des Absinth und des Sadebaums. Thomas Platter wies im 16. Jahrhundert darauf hin, dass man sich magischen Formen der Fruchtbarkeitskontrolle zuwandte.

Lange hatte die Kirche eine regulierende Rolle inne, da sie während der drei jährlichen Fastenperioden und der Sonn- und Feiertage Enthaltsamkeit vorschrieb. Vom Ende der Reformation bis 1874 fiel zudem der Ehegesetzgebung eine gewisse öffentliche Kontrolle der Fruchtbarkeit zu.

Ab Ende des 17. Jahrhunderts ist die freiwillige Geburtenregelung in den reformierten Städten belegt, hauptsächlich in Genf und Zürich, wo die Fruchtbarkeitsquoten und das Alter bei der letzten Schwangerschaft unablässig sanken. In den katholischen Städten scheint die Kontrolle der Fruchtbarkeit erst zu einem späteren Zeitpunkt und in geringerem Ausmass eingesetzt zu haben, zum Beispiel in Luzern mit einem Verzug von rund hundert Jahren. Der zeitliche Vorsprung der Reformierten ist auf deren Theologie zurückzuführen, die eine hauswirtschaftliche Familienpolitik förderte. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an war dieser Vorsprung auch in ländlichen Gegenden erkennbar: Sowohl in Genf als auch im Waadtländer und Neuenburger Jura, im freiburgischen Vully und auch in gewissen reformierten Glarner Gemeinden war die freiwillige Geburtenregelung wirksam, obwohl mehrere Pfarrer (1707 Jean-Frédéric d'Ostervald, 1760 Jean-Philippe Dutoit) und Ärzte (1765 Auguste Tissot) den Coitus interruptus öffentlich wiederholt verurteilt hatten.

Die Broschüre der Ärztin Paulette Brupbacher, die 1936 in Zürich erschien, ist eine der vielen Veröffentlichungen auf dem Weg zur modernen Empfängnisverhütung (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).
Die Broschüre der Ärztin Paulette Brupbacher, die 1936 in Zürich erschien, ist eine der vielen Veröffentlichungen auf dem Weg zur modernen Empfängnisverhütung (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).

Nach 1870 fiel der unaufhaltsame Rückgang der Fruchtbarkeit mit der Zunahme der Abtreibungen, der Vermarktung von Verhütungsmitteln und den Aktivitäten von Verfechtern des Malthusianismus zusammen. Bis anhin in ausserehelichen Verbindungen getroffene Vorkehrungen zur Geburtenregelung kamen nun vermehrt auch zwischen Ehepartnern zum Zuge: Kondome, die zuvor als Schutz gegen Geschlechtskrankheiten in Coiffeurgeschäften erworben wurden, fanden nun einen grösseren Absatz. Ausserdem wurden Pessare und samentötende Mittel eingesetzt, zusammen mit Vaginalduschen mit Zusätzen von Alaun, Essig oder sulfathaltigen Produkten, die zuvor nur in der französischen Schweiz im Versandhandel vertrieben worden waren. Diese gelten als Vorläufer der massenhaft verbreiteten Verhütungsmittel, wie sie um 1980 von 80-90% der verheirateten Paare benutzt wurden. Schon kurz nach 1900 gaben aufgeklärte Ärzte (Auguste Forel, Fritz und Paulette Brupbacher, Minna Tobler usw.) dieses Wissen mittels zahlreicher Publikationen und in Vorträgen über Sexualaufklärung in Arbeiterquartieren weiter. Die Entdeckung der fruchtbaren Tage der Frau (1930), die Erfindung der Pille (1960) und ihre rasche Kommerzialisierung sowie die gleichzeitige Entwicklung der Spirale ermöglichten es den Frauen, ihre Fruchtbarkeit zu kontrollieren. Um 1950 erlebten die Kampagnen zur Förderung der Empfängnisverhütung auch dank der Unterstützung eines Grossteils der Frauenvereine neuen Aufschwung; unabhängige oder an Spitäler angeschlossene Familien-Beratungszentren wurden 1954 in Basel, 1963 in Lausanne, 1965 in Genf, 1966 in Zürich, 1974 in Freiburg und 1976 in Pruntrut eröffnet. Ausserdem entwickelte sich die Sexualaufklärung für Jugendliche, die seit dem Auftauchen von Aids immer weniger in Frage gestellt wird.

Quellen und Literatur

  • A. Perrenoud, «Malthusianisme et protestantisme», in Annales: économies, sociétés, civilisations, 1974, Nr. 4, 975-988
  • Les centres de planning familial en Suisse, 1976
  • U. Gaillard, A. Mahaim, Retards de règles, 1983
  • H.-J. Hoffmann-Nowotny et al., Planspiel Fam., 1984
  • U. Pfister, Die Anfänge von Geburtenbeschränkung, 1985
  • A. Perrenoud, «Espacement et arrêt dans le contrôle des naissances», in Annales de démographie historique, 1989, 59-78
  • A.-L. Head-König, «Démographie et histoire des populations de la Suisse de l'an mil au XIXe siècle», in Geschichtsforschung in der Schweiz, 1992, 114-136
Von der Redaktion ergänzt
  • Praz, Anne-Françoise: De l’enfant utile à l’enfant précieux, 2005.
  • Ruckstuhl, Brigitte; Ryter, Elisabeth: Zwischen Verbot, Befreiung und Optimierung. Sexualität und Reproduktion in der Schweiz seit 1750, 2018.
Weblinks

Zitiervorschlag

Ursula Gaillard: "Geburtenregelung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.09.2009, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016115/2009-09-10/, konsultiert am 29.03.2024.