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Geburt

Die Geburt ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand von Untersuchungen in den Bereichen der historischen Demografie (Natalität), der Geschichte der Familie und der Frauen (Geschlechterrollen, Geschlechtergeschichte, Mutterschaft). Als biologische Erscheinung gilt die Geburt in allen Zivilisationen als Übergangsritus, mit dem das Neugeborene in die Gesellschaft aufgenommen wird. In der Schweiz sind historische Studien zu Schwangerschaft und Geburt noch dünn gesät und meist vorwiegend auf die medizinischen Aspekte ausgerichtet.

Schwangerschaft

lllustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werks Regimen sanitatis des Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 108r).
lllustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werks Regimen sanitatis des Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 108r). […]

In der Schweiz wie in ganz Westeuropa beruhten die Kenntnisse über das vorgeburtliche Leben während Jahrhunderten auf medizinischem Volkswissen, das von magischen Vorstellungen durchdrungen war. Die Entwicklung der Leibesfrucht wurde an der auftretenden Übelkeit, der Bauchform der Schwangeren und der Wahrnehmung der Bewegungen in der Gebärmutter gemessen. Die Tatsache, dass das Geschlecht und die Zahl der ungeborenen Kinder unbekannt waren, gab zu zahlreichen Spekulationen Anlass, die durch die Volkstradition überliefert wurden. Die Schwangerschaft war eine Periode der Hoffnung und der Freude (die Schwangere war «guter Hoffnung» und sah dem «freudigen Ereignis» entgegen), aber auch der Beklemmung (Angst, dass die Gebärende sterben oder das Kind Missbildungen aufweisen könnte). Im einfachen Volk wurde die Ankunft eines weiteren zu ernährenden Kindes oft als Fluch empfunden, sodass zu den Mitteln der Abtreibung oder häufiger noch des Kindesmords gegriffen wurde. Erst seit der Zwischenkriegszeit wird die Schwangerschaft im städtischen Gebiet – durch die hohe Sicherheit, welche die Entbindung in einer Klinik bietet – als Ankündigung eines freudigen Ereignisses überwiegend positiv gewertet.

lllustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werks Regimen sanitatis des Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 111v).
lllustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werks Regimen sanitatis des Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 111v). […]

In den sogenannten Hebammenbüchern – die ältesten stammen aus dem Zürich des 16. Jahrhunderts – finden sich zahlreiche Ratschläge und Verbote, etwa über die Ernährung und das Sexualleben. Diese Abhandlungen über Geburt und Wochenbett dienten der Unterweisung der Hebammen. In der Westschweiz veröffentlichten Jean-André Venel (1778) und Mathias Mayor (1828) populärwissenschaftliche Werke zu einer Zeit, als die Mediziner die traditionelle Geburtshelferin durch eine ausgebildete Hebamme zu ersetzen suchten. So wies etwa Mayor den Volksglauben zurück, wonach die Geburtsmale auf unbefriedigte Lüste zurückzuführen seien. Er stellte die Schwangerschaft zwar nicht als Krankheit dar, untersagte den Frauen jedoch zur Vermeidung von Fehlgeburten anstrengende Arbeiten, das Tragen schwerer Lasten, Tanzen, Reiten und die ehelichen Freuden in den ersten Schwangerschaftsmonaten. So gut wie alle Verfasser empfahlen den Schwangeren das Tragen weiter Kleider, um die gute Entwicklung des werdenden Kindes zu gewährleisten. Ausserdem sollten die Schwangeren die Wohnräume lüften, in den letzten Wochen vor der Schwangerschaft heftige Gemütsbewegungen vermeiden und das Baden unterlassen. Die empfohlenen Speisen und Getränke (Wein bzw. Bier) variierten je nach der landwirtschaftlichen Produktion in den verschiedenen Regionen der Schweiz. Die Hebammen gaben diese Ratschläge an ihre Patientinnen weiter. 1956 wandte sich die Französin Laurence Pernoud in ihrem Buch «J'attends un enfant» («Ich freue mich auf mein Kind», deutsch 1963) direkt an die werdenden Mütter, die sich zu dieser Zeit fast ausnahmslos von einem Gynäkologen betreuen liessen. Schwangerschaftsmode, Babykurse (an denen auch die Väter teilnahmen) und Schwangerschaftsgymnastik bürgerten sich allmählich ein.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann mit der allgemeinen Verbreitung der medizinischen Betreuung schwangerer Frauen eine neue Ära. Die vorgeburtlichen Konsultationen fanden nun in der Arztpraxis statt und umfassten Blutdruckmessung sowie Urin- und Blutuntersuchung bei der Schwangeren und das Abhorchen der Herztöne des Kindes. Untersuchungen, die ursprünglich für pathologische Fälle vorgesehen waren (Ultraschall, Gentest), wurden nun bei den meisten Schwangeren durchgeführt, wodurch sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind grundlegend veränderte. Diese Medikalisierung, die zu einer beträchtlichen Senkung der perinatalen Sterblichkeit führte, wird allerdings zum Teil von den Gebärenden selbst in Frage gestellt.

Geburt

Vom Mittelalter bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die meisten Geburten zu Hause statt. In selteneren Fällen, wenn die Wehen die Schwangere überraschten, wurde diese an Ort und Stelle entbunden. Spitäler verfügten manchmal über spezielle Gebärsäle; erwähnt werden solche im 14. Jahrhundert in Lausanne, 1419 in Mont-Joux, im 16. Jahrhundert in Genf und im 17. Jahrhundert in Sitten. In Bern und Zürich dienten Krankenhäuser vom 18. Jahrhundert an als Pflegestätten für Gebärende. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die ersten Geburtskliniken auf, die vor allem mittellose und unverheiratete Frauen aufnahmen. Mit den neuen Desinfektionsmöglichkeiten wurde die Spitalentbindung sicher, sodass sie nach dem Ersten Weltkrieg von den Stadtbewohnerinnen der gehobenen Schichten bevorzugt wurde. Bald begannen sich Privatkliniken auf diesen Bereich zu spezialisieren. Auf dem Lande nahmen sich Hebammen der werdenden Mütter an. In den 1960er Jahren entwickelte sich die Hospitalisierung der Gebärenden zur Regel, da die Krankenversicherung allen Frauen den Zugang zur Geburtsklinik ermöglichte. Seit 1970 ist allerdings eine Rückkehr zur Hausgeburt zu beobachten, obwohl diese von Ärzten als riskant erachtet wird. Sogenannte Geburtshäuser, das erste 1984 in Lenzburg, öffneten ihre Tore. Ihre Vereinigung zählte 2008 insgesamt 20 Mitglieder, wobei das Tessin solche Einrichtungen nicht kennt.

Säuglings- und Mütterheim in der Berner Elfenau von den Architekten Otto Rudolf Salvisberg und Otto Brechbühl, 1929-1931 (gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Otto Rudolf Salvisberg).
Säuglings- und Mütterheim in der Berner Elfenau von den Architekten Otto Rudolf Salvisberg und Otto Brechbühl, 1929-1931 (gta Archiv/ETH Zürich, Nachlass Otto Rudolf Salvisberg). […]

Die Gebärenden wurden herkömmlicherweise von den Frauen ihrer Umgebung begleitet, Unterstützung bot eine Geburtshelferin. Die Männer waren vom Geburtsvorgang meistens ausgeschlossen, ebenso die Kinder. Sie liess man im Glauben, dass Babys in Kürbissen oder Kohlköpfen (Westschweiz und Tessin) wüchsen, vom Storch (Deutschschweiz und Tessin) oder vom Einsiedler (Wallis) gebracht würden oder aus den Nebelschwaden der Rhone kämen. Ausgebildete Hebammen (z.B. vom 18. Jahrhundert an in der Stadt Bern) übernahmen nach und nach die Funktion der Geburtshelferinnen. Noch im 19. Jahrhundert wurde der Arzt vor allem in ländlichen Gegenden nur bei sehr grossen Schwierigkeiten beigezogen, da die Beteiligung männlicher Personen noch längst nicht akzeptiert und die Arztkosten erheblich waren. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts verminderte die Medikalisierung der Geburt den Einfluss der Hebamme zu Gunsten des Gynäkologen. Die systematische technische Kontrolle des Geburtsvorgangs führte zur Vernachlässigung der psychologischen Unterstützung Gebärender. Seit den 1960er Jahren dürfen auch die Väter bei der Geburt anwesend sein.

Frauen haben lange Zeit kniend, in Hockstellung, stehend (Lötschental, Kanton Glarus) oder auf Gebärstühlen sitzend geboren. Letztere wurden laut den Schilderungen des Zürcher Chirurgen Jacob Rueff von 1554 vor allem im deutschsprachigen Raum verwendet. Die Hebamme kauerte vor der Gebärenden, was sich in der Bedeutung des lateinischen Wortes obstetrix manifestiert, während das deutsche Wort Hebamme, das italienische levatrice sowie die alten französischen Ausdrücke leveuse und levandière daran erinnern, dass das Neugeborene emporgehalten werden muss. Die Geburt selbst fand in manchen Fällen auf einem strohbedeckten Boden statt, weshalb das Gebären in den schweizerdeutschen Dialekten des Berner Oberlands, des Wallis und Graubündens auch als «ins Stroh fallen» bezeichnet wurde. Aus Aberglauben – man fürchtete, weisse Wäsche würde Blutungen begünstigen – verwendete man weder für die Geburt noch für das Wochenbett saubere Tücher. Die Austreibung des Kindes aus dem Geburtskanal erfolgte in der von der Mutter gewählten Position. Mit der Beteiligung von Ärzten bei der Geburt kam der Gebrauch eines speziell konstruierten Bettes (sogenanntes lit de misère) auf, das den Ärzten erlaubte, in aufrechter Haltung tätig zu sein, während die Frau auf dem Rücken lag. Häufig verwendete man auch ein gewöhnliches Bett. Mit der Erweiterung der medizinischen Kenntnisse entwickelten sich neue Entbindungstechniken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam das 1853 bei der englischen Königin Victoria angewendete Chloroform in der Schweiz in Gebrauch. In den 1950er Jahren eingeführte Verfahren für eine schmerzlose Geburt wurden im Lauf der 1960er Jahre wieder aufgegeben. Erst 1980 hielt die nach dem Zweiten Weltkrieg praktizierte Methode der Periduralanästhesie in sämtlichen Geburtskliniken Einzug. In diversen Spitälern wird die sogenannte Geburt ohne Gewalt oder Wassergeburt durchgeführt. Seit den 1990er Jahren wird es grundsätzlich der werdenden Mutter überlassen, für welche Entbindungsmethode sie sich entscheidet. Der Kaiserschnitt, früher ausschliesslich Notfällen vorbehalten, entwickelt sich allmählich zur Wahloperation. 1581 berichtete Caspar Bauhin, dass der Thurgauer Jakob Nufer, Schweinekastrierer von Beruf, im Jahr 1500 seine Ehefrau erfolgreich mittels Kaiserschnitt entbunden hatte. Dies ist wohl der erste historisch belegte Fall einer solchen Operation. In den 1960er Jahren entwickelte sich die Neonatologie und gelangte im Bereich der Pflege von Frühgeburten und Neugeborenen zu völlig neuen Erkenntnissen.

Nach der Geburt sollte die Wöchnerin eine spezielle Kost zu sich nehmen, um den Milchfluss zu unterstützen. Ausserdem wurden ihr einige Ruhetage empfohlen, die sie jedoch nicht immer beziehen konnte. In katholischen Gebieten diente der erste Kirchgang der Wöchnerin – praktiziert in Anlehnung an ein jüdisches Gesetz, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet – der Reinigung ihres Körpers. Danach durfte sie mit ihrem Gatten erneut intimen Umgang pflegen. Das Neugeborene brachte man so rasch wie möglich zur Taufe, seiner zweiten Geburt.

Quellen und Literatur

  • E. Olivier, Médecine et santé dans le pays de Vaud au XVIIIe siècle (1675-1798), 2 Bde., 1939
  • Encycl.VD 10, 5-30
  • L'éveil médical vaudois 1750-1850, hg. von G. Saudan, 1987
  • M. Borkowsky, Krankheit Schwangerschaft? Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett aus ärztl. Sicht seit 1800, 1988
  • Terres de femmes, Ausstellungskat. Genf, 1989
  • M. Meyer-Salzmann, Frühe Medizin in der Schweiz: von der Urzeit bis 1500, 1989
  • P. Dubuis, Les vifs, les morts et le temps qui court, 1995, 19-45
  • M.-F. Vouilloz Burnier, L'accouchement entre tradition et modernité, 1995
  • Gesch. des Ungeborenen: zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgesch. der Schwangerschaft, 17.-20. Jh., hg. von B. Duden et al., 2002
  • A. Favre, Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d'Anniviers, 102002 (franz. 1981)
  • C. Pancino, J. d'Yvoire, Formato nel segreto: Nascituri e feti fra immagini e immaginario dal XVI al XXI secolo, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Marie-France Vouilloz Burnier: "Geburt", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.11.2010, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016114/2010-11-02/, konsultiert am 16.04.2024.