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Ehegenossame

Als Ehegenossame bezeichnet man vertragliche Vereinbarungen zwischen Herrschaften, in denen diese ihren Eigenleuten wechselseitig Ehefreiheit einräumten und damit im Geltungsbereich des Vertrags die Heiratsbeschränkungen für Ehen zwischen Personen mit unterschiedlichem Rechtsstatus aufhoben. In den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen finden sich die Ausdrücke comparitas, concordia, consortium in contrahendo matrimonio, genossami oder genoschaft, roub, wechsel; in der wissenschaftlichen Sprache ist die Rede von Eheerleichterungsabkommen, Eheraubrecht, Freizügigkeits- oder Gegenseitigkeitsvertrag, Heiratskartell oder -konkordat, Reziprozitätsvertrag, Unterzug.

Die Ehegenossame ist eine Folge der mittelalterlichen Eigenverfassung (Leibeigenschaft, Grundherrschaft). Diese war auf Eheschliessungen innerhalb eines Verbandes von Eigenleuten angewiesen, denn solche sicherten den Fortbestand des Verbandes und somit die Existenz der Herrschaft. Heirateten Eigenleute ausserhalb des Verbandes und schlossen sogenannte ungenossame Ehen, gefährdete dies den Verband. Zugleich entstanden rechtliche Probleme, da die Ehepartner einem jeweils anderen Recht unterstanden. Ungenossame Ehen wurden deshalb von den Herrschaften verboten. Andererseits konnten sie aber, da sie kirchlich geschlossen wurden, nicht für ungültig erklärt werden. Die Herrschaften versuchten sie zu unterdrücken, indem sie solche Ehen mit Vermögensstrafen belegten oder aber den einheiratenden Ehepartner zwangen, in den Verband der Eigenleute einzutreten.

Mit der im Spätmittelalter zunehmenden Mobilität häuften sich die ungenossamen Ehen. Die Herrschaften reagierten erst von Fall zu Fall. Schliesslich kam es zu sogenannten Raub- und Wechselverträgen; als Raubverträge wurden sie bezeichnet, weil die Frau in der Regel als «geraubt» galt. Im alemannischen Raum wurden diese Verträge Ehegenossame genannt. Sie entwickelten sich von zweiseitigen Vereinbarungen zu Vertragswerken mit mehreren wechselnden Beteiligten. Bedeutend waren für das Gebiet der heutigen Schweiz zwei einzigartige, sich überschneidende Vertragswerke, das der 7 und das der 12½ Gotteshäuser. Ersteres umfasste Einsiedeln, Pfäfers, Reichenau, Säckingen, St. Gallen, Schänis und das Fraumünster Zürich; der Vertragstext ist nicht überliefert. Fassbar hingegen ist der 1560 erneuerte, 1589 redigierte und 1764 aufgehobene Vertrag der 12 ½ Stifte Bischofszell, Fischingen, Ittingen, Konstanz (Dompropstei, Hochstift, St. Stephan), Kreuzlingen, Münsterlingen, Oehningen, Petershausen, Reichenau, St. Gallen und Wagenhausen. Die Ehegenossame erlaubten den Leibeigenen dieser geistlichen Herrschaften innerhalb der vertraglich gebundenen Gebiete Ehen einzugehen. Aus der Westschweiz sind sehr frühe, über die Sprachgrenzen hinweg geschlossene Verträge bekannt, wie zum Beispiel jener von 1150 zwischen dem Bischof von Basel und dem Prior von Romainmôtier, jener von 1195 zwischen dem Bischof von Lausanne und dem Grafen von Greyerz oder jener von 1238 zwischen Letzterem und dem Domkapitel von Lausanne.

Quellen und Literatur

  • D. Anex, Le servage au Pays de Vaud, 1973, 161-179
  • W. Müller, Entwicklung und Spätformen der Leibeigenschaft am Beispiel der Heiratsbeschränkungen, 1974
Weblinks

Zitiervorschlag

Bruno Schmid: "Ehegenossame", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.01.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016084/2010-01-27/, konsultiert am 28.03.2024.