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Bürokratisierung

Der von Max Weber systematisch entwickelte Begriff der Bürokratie und Bürokratisierung bezeichnet ein zentrales Strukturprinzip moderner Gesellschaften. Unter Bürokratie ist sowohl eine Schicht von Beamten im Rahmen einer Instanzenhierarchie als auch die von dieser Gruppe ausgeübte Macht bzw. Herrschaft zu verstehen. Bürokratisierung bezeichnet die Entwicklung, in deren Verlauf Entscheidungsprozesse bürokratischer Art sich ausweiten und zur Basis einer Machtstellung über Menschen und Organisationen werden. Zu den Merkmalen bürokratischer Verwaltung zählen: geregelte Kompetenz, klare Über- und Unterordnung, Trennung von der privaten Lebensführung, Schriftlichkeit, Fachschulung (Prüfungen, Laufbahnprinzip), Vollberuflichkeit und Amtsführung nach festen Regeln. Diese Merkmale sind im staatlichen Berufsbeamtentum am ausgeprägtesten, treten aber auch in privaten Verwaltungen, in Unternehmen, Verbänden oder Massenmedien auf. Die mit der bürgerlich-kapitalistischen Verkehrswirtschaft entstehenden gesellschaftlichen Grossgebilde stellten den Boden dar, auf dem es zur Entfaltung der Bürokratisierung in immer neuen Formen kam. Trotz des schon von Weber konstatierten säkularen Trends stellt Bürokratisierung keinen uniformen Prozess dar. Sie stand stets in widerspruchsvollem Verhältnis zu weiteren gesellschaftlichen Kräften, welche sie zum Teil begünstigten, zum Teil bremsten. Die Bürokratisierung war und ist immer wieder ein Brennpunkt gesellschaftlicher Konflikte.

Bürokratisierung in der Schweiz

Die Herausbildung bürokratischer Herrschaft ist historisch eng mit der Entwicklung des frühneuzeitlichen Staates verbunden, der in der Eidgenossenschaft in vielfältigen Formen in Erscheinung trat. Zentrale Elemente waren: der Verfügungsanspruch über ein geografisch eindeutiges Territorium, die Zurückdrängung anderer Herrschaftsinhaber, das Gewaltmonopol, die Erschliessung wirtschaftlicher Ressourcen (Zölle, Steuern), die Übernahme gerichtlicher, militärischer und wirtschaftlicher Aufgaben, der Aufbau überpersönlicher, dauerhafter Strukturen zu deren Verwaltung. Letzteres bedingte eine Zunahme von Schriftlichkeit, die Herausbildung von Kanzleien, die Spezialisierung der dort tätigen Beamten, zu deren Aufgaben die sorgfältige Registrierung und Archivierung der immer umfänglicher werdenden Aufzeichnungen gehörte (Archive).

Derartige Ansätze finden sich am ehesten in den grösseren Städten, schwächer ausgeprägt in den geistlichen Territorialstaaten (St. Gallen, Basel), sehr schwach nur in den Länderorten. Die mit der Bürokratisierung verbundene Sozialdisziplinierung weckte vielfältige Widerstände, die sich bis zur sozialen Rebellion steigern konnten. Der neuen, systematisierten Herrschaftsform stand typischerweise die Berufung auf das alte Gewohnheitsrecht entgegen.

Insgesamt blieb die auf das Ancien Régime zurückzuführende Tradition zentraler bürokratischer Herrschaft in der Schweiz schwach. Auch die seit der Helvetik entstehenden Kantone wiesen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bescheidene Verwaltungsapparate auf. Erst recht galt dies für den Bundesstaat von 1848, der erst allmählich die Mittel und Kompetenzen zum Aufbau grösserer Verwaltungsstäbe gewann (Bundesverwaltung). Eine beschleunigte Entwicklung setzte in den 1880er Jahren ein, als der Bund die mit der Verfassung von 1874 gegebenen Chancen nutzte und neue Verwaltungszweige aufbaute. Hinzu kamen die öffentlichen Unternehmen und Regiebetriebe wie die Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe und die Schweizerischen Bundesbahnen. Zu Schrittmachern staatlicher Verwaltungstätigkeit wurden der Übergang zum wirtschaftspolitischen Interventionismus und die Sozialgesetzgebung. Namentlich die beiden Weltkriege begünstigten eine kaum mehr umkehrbare Ausweitung der Staatstätigkeit.

Nach 1945 stagnierte der weitere Ausbau zentralstaatlicher Verwaltungen; in den 1960er und 1970er Jahren folgte jedoch, unter dem Druck angestauter Infrastruktur- und Sozialaufgaben, eine Interventions- und Planungseuphorie, die mit einem Wachstum der Staatsquote (Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandprodukt) einherging. Im internationalen Vergleich blieb das Ausmass staatlicher Bürokratisierung in der Schweiz aber weiterhin bescheiden. Seit 1975 verschoben sich die Relationen infolge knapper werdender staatlicher Mittel kaum mehr.

Unternehmen und Verbände

Parallel zum Ausbau staatlicher Bürokratie entstand seit den 1880er Jahren jene der Verbände, ihrerseits staatlich begünstigt durch die Subventionierung hauptamtlicher Sekretariate, welche als Gegenleistung den Bund mit statistischen Daten zu beliefern hatten (Schweizerischer Handels- und Industrieverein 1882, Schweizerischer Gewerbeverband 1886, Schweizerischer Arbeiterbund 1887, Schweizerischer Bauernverband 1897-1898). Dieser Vorgang kennzeichnet die Schwäche staatlicher Bürokratie in der Schweiz. Die aufkommenden Gewerkschaften blieben im Interessenkampf vorerst am Rand; sie schufen sich ihrerseits in den nach 1900 rasant wachsenden Verbänden vollamtliche Sekretariate, zentralisierten die Entscheidungsprozesse und strebten nach effizienter Verwaltung.

Helvetia bekämpft die Bürokratie. Karikatur aus dem Nebelspalter, 1904, Nr. 26 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica).
Helvetia bekämpft die Bürokratie. Karikatur aus dem Nebelspalter, 1904, Nr. 26 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica).

Dies galt auch für die Wirtschaft, die seit den 1880er Jahren von einem verstärkten Übergang zur Fabrikindustrie und vom Aufstieg grösserer Unternehmen und Betriebe namentlich in den neuen Exportbranchen (Metallindustrie, Maschinenbau und Chemische Industrie) und im Finanzsektor (Banken und Versicherungen) bestimmt war. Bis gegen 1920 wuchsen die durchschnittlichen Betriebsgrössen, dann trat eine langfristige Stabilisierung ein. Mittlere und kleine Betriebe behielten in der Schweiz eine ungewöhnlich starke Position, was allerdings nicht verhinderte, dass die Büroabteilungen (Büro) der Industrie weiterhin wuchsen und ihre Kompetenz gegenüber den Werkstätten ausweiteten. Einzelne Grossunternehmen (dies blieb eher die Ausnahme) bauten rigorose bürokratische Entscheidungsabläufe auf.

Konflikte um Bürokratisierung

Bürokratisierung war zu keinem Zeitpunkt ein beliebter Vorgang. Quer durch alle politischen Lager zog und zieht sich die Kritik. Die Entwicklung in der Schweiz zeichnet sich durch besonders virulente antibürokratische Kräfte, Bewegungen und Polemik aus, die sich vor allem auf politischer Ebene zu entfalten vermochten.

Honoratiorenverwaltung und Milizsystem kennzeichneten die Gemeinwesen des 19. Jahrhunderts, woran namentlich konservative Kräfte festhielten, die sich gegen professionalisierte Verwaltung (mit vollberuflicher Amtsführung) und grössere Verwaltungseinheiten (z.B. durch Gemeindezusammenschlüsse) wehrten. Indes griffen auch demokratische und populistische Bewegungen seit den 1860er Jahren zur Waffe antibürokratischer Polemik. Die demokratische Bewegung attackierte das Prinzip des Berufsbeamtentums, an dessen Stelle sie die Beamtenwahl setzte, bei möglichst reduzierten formellen Bildungsvoraussetzungen. Diese Vorstösse richteten sich in gleicher Weise gegen die Bürokratisierung wie gegen gewisse Aspekte der Professionalisierung, so zum Beispiel die alleinige Amtskompetenz akademisch gebildeter Rechtsanwälte. Auch die politischen Revolten der kleinbäuerlichen Bewegungen in den 1890er Jahren (besonders im Kanton Zürich) waren nicht nur gegen die Stadt, sondern auch gegen Bürokraten und Professionisten (die «Federhelden» der städtischen Amtsstuben) gerichtet. Ein teilweiser Wechsel der Sichtweisen und politischen Konstellationen erfolgte mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung und den Auseinandersetzungen um Fragen der Sozialgesetzgebung. Der soziale Kontrolle ausübende (Fabrikgesetze) und Leistungen erbringende Staat (Sozialversicherungen) war auf einen Ausbau der Verwaltung angewiesen. Damit gerieten die Konflikte um die anschwellende Bürokratisierung in den Sog des Klassengegensatzes. Während Jahrzehnten kämpften die Gegner sozialstaatlicher Entwicklung mit antibürokratischen Parolen gegen entsprechende Gesetzes- und Verfassungsvorlagen. Sie konnten häufig auf die Unterstützung konservativ-föderalistischer Kräfte aus der katholischen und der französischsprachigen Schweiz zählen, was ihre Kampagnen oftmals zum Erfolg führte. Ambivalenter war die Einstellung auf der politischen Linken, die nach einem Ausbau des Sozialstaates rief, um die sozialen Gegensätze zu entschärfen. «Mehr Bürokratie» mochte auch hier niemand fordern, zu eindeutig negativ besetzt war der Begriff. «Gerechtigkeit» und «Solidarität» boten sich als positiv darstellbare Begriffe an, in deren Namen «bürokratisierende», d.h. einen Ausbau staatlicher Verwaltungsapparate implizierende Massnahmen politisch vertretbar waren. Andererseits wurden die Organisationen der Arbeiterbewegung, namentlich die gewerkschaftlichen Grossverbände, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg selbst von Konflikten um die Herausbildung professionalisierter und bürokratisierter Verbandsspitzen erfasst. Die Grossverbände, die ihrer Klientel, zum Beispiel auch im Bereich des genossenschaftlichen Wohnens, gewisse Leistungen zuhielten, sie aber auch einer disziplinierenden Kontrolle unterwarfen, hatten periodisch gegen «antibürokratische» Revolten mehr oder weniger militanter Basis-Aktivisten zu kämpfen. Ab 1920-1921 waren diese vielfach kommunistisch orientiert, was ihre politische Diskreditierung durch die Zentralen erleichterte. Die Bürokratisierung und Zentralisierung der Entscheidungsabläufe namentlich innerhalb jener Gewerkschaftsverbände, die in besonders scharfer Weise mit solchen Konflikten zu tun hatten (z.B. der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband), machten in der Folge kräftige Fortschritte. Die verbandsinterne Demokratie blieb dabei vielfach auf der Strecke. Die definitive Etablierung eines korporativen Verbandsstaates in der Schweiz während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (Ausweitung des Vernehmlassungsverfahrens, Einbezug der Arbeiterbewegung) schuf vielfältige Ansatzpunkte für die weitere Bürokratisierung im parastaatlichen, demokratisch schwach kontrollierten Raum von Verbänden und Verwaltung. Die Folgen mangelnder demokratischer Kontrolle in der Nachkriegszeit traten überaus deutlich hervor mit dem sogenannten Fichenskandal von 1989 (Staatsschutz) um die politische Überwachung missliebiger Bürgerinnen und Bürger, der bürokratische Willkür, Dilettantismus und Wirrwarr der Kompetenzen offenbarte.

Demokratisierung und Öffentlichkeit als säkulare Gegenkräfte gegenüber einer überbordenden Bürokratisierung: diese den demokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts geläufigen Zusammenhänge fanden erst in den jüngsten Jahrzehnten wieder vermehrt Beachtung. Seit den 1970er Jahren übernahmen einige Kantone und Städte die aus Skandinavien stammende Einrichtung des Ombudsmanns, der Schutz vor Verwaltungswillkür bieten soll. Es gehört zu den Paradoxen der Entwicklung, dass aus der Kritik an der Bürokratie eine neue Amtsstelle hervorgegangen ist. Im Lauf der 1990er Jahre wurden die bürgerorientierten Argumente der Bürokratiekritik zusehends von wirtschaftlichen übertönt. Die Vorschriftenfülle der Bürokratie und die ausgeweitete Staatstätigkeit wurden von neoliberaler Seite als Gefahr für die Markteffizienz kritisiert. Deregulierung und Privatisierung (Reduktion der Staatstätigkeit auf die «Kernaufgaben») waren Forderungen, die von bürgerlichen Parteien erhoben und zum Teil auch durchgesetzt wurden.

In der Wirtschaft hat das Modell des Ombudsmanns vereinzelt Nachahmung gefunden (zuerst 1972 bei den Privatversicherungen). Unternehmensleitungen kämpfen im Zeichen der Effizienzsteigerung gegen immer wieder einreissende bürokratische Tendenzen in Grossunternehmen, sind aber kaum bereit, die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei einzubeziehen, da sie den zu erwartenden zusätzlichen bürokratischen Aufwand fürchten. Forderungen nach institutionalisierter Mitbestimmung in der Wirtschaft, die aus «Wirtschaftsuntertanen» «Wirtschaftsbürger» machen sollten, wurden schon nach dem Ersten Weltkrieg besonders von Seiten der Angestelltenorganisationen formuliert. Die Gewerkschaften, die vorerst um vertraglich geregelte Beziehungen kämpften, griffen die Forderung erst nach 1945 auf. Insgesamt mangelt es indes bis heute an verbindlichen Mitbestimmungsregelungen in den Unternehmen. Diese würden, einmal ins Leben gerufen, an dem unausweichlichen Trend zur Bürokratisierung aller Lebensvollzüge teilhaben, könnten aber auch dazu beitragen, diesen Prozess demokratisch auszugestalten.

Quellen und Literatur

  • M. König et al., Warten und Aufrücken, 1985
  • R. Jaun, Management und Arbeiterschaft, 1986
  • H. Geser, Kommunales Regieren und Verwalten, 1987
  • R. Scheurer et al., Histoire du Conseil d'Etat neuchâtelois, 1987
  • H. Ruf, Zwischen Demokratie und Bürokratie, 1994
  • I.E. Schäfer, Bürokrat. Macht und demokrat. Gesellschaft, 1994
Weblinks

Zitiervorschlag

Mario König: "Bürokratisierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.07.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015996/2014-07-17/, konsultiert am 28.03.2024.