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Sozialer Wandel

Bodenreinigung in der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) in Zürich 1958. Fotografie im Ausstellungskatalog Saffa 58 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Bodenreinigung in der zweiten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) in Zürich 1958. Fotografie im Ausstellungskatalog Saffa 58 (Schweizerische Nationalbibliothek). […]

In einer eng gefassten Definition des Begriffs meint sozialer Wandel «die Gesamtheit der in einem Zeitabschnitt erfolgten Veränderungen in der Struktur einer Gesellschaft» (Peter Heintz) oder, wie es Morris Ginsberg formulierte, «a change in a structure». Sozialer Wandel bezieht sich also auf die Veränderung sozialer Strukturen und bzw. oder sozialen Verhaltens: zum Beispiel auf Veränderungen in der sozialen Schichtung und Lage, im Rollenverhalten, in den Organisationsmustern und den Lebensverhältnissen. Er zielt jedoch nicht auf die blosse Geschichtlichkeit sozialer Systeme und Verhältnisse, sondern auf Umbrüche, die eine neue Qualität des Sozialen hervorbringen. Eine solche Betrachtungsweise setzt einen sozialen Hintergrund mit einer gewissen Ordnung und Regelmässigkeit voraus, so dass sozialer Wandel auch als Abweichung von relativ stabilen Zuständen und deren Neuformierung aufgefasst werden kann. In einer weit gefassten Definition beinhaltet der Begriff auch die Prozesse des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels (z.B. Veränderungen in den Denkinhalten, in den Mentalitäten).

Die Kategorien Geschwindigkeit, Reichweite, Antriebskräfte, Richtung und Steuerbarkeit benennen Dimensionen des sozialen Wandels, welche die sozialwissenschaftlichen Theorien unterschiedlich erklären. Veränderungen verlaufen revolutionär oder evolutionär, nehmen einen linearen, diskontinuierlichen oder zyklischen Gang, erfassen die Gesamtgesellschaft oder Einzelbereiche, gründen auf endogenen oder exogenen Ursachen, bewegen sich zielgerichtet oder planlos fort, gehorchen Gesetzen, die den Menschen allenfalls einen gewissen Gestaltungsspielraum zubilligen, oder erfolgen spontan und nicht durch menschliches Verhalten intendiert. Da jede Untersuchung des sozialen Wandels im Schnittpunkt von Statik und Dynamik angesiedelt ist, erweisen sich Krisen und Konflikte (Soziale Konflikte) als besonders ergiebige Forschungsfelder.

Während Soziologen wie Karl Marx, Herbert Spencer, Emil Durkheim und Max Weber sozialen Wandel geschichtsphilosophisch untermauert als zielgerichteten Fortschritt hin zur klassenlosen Gesellschaft, zu höherer Anpassungsfähigkeit, Differenzierung oder Rationalisierung deuteten, die Ursachen der Dynamik suchten und die moderne Gesellschaft antithetisch von der traditionalen Gemeinschaft abhoben, liegt heute der Schwerpunkt auf der Kontingenz sozialen Wandels, auf dessen ambivalenten Folgen für die Menschen und auf den Funktionszusammenhängen. Der Geltungsverlust sozialer Regeln sowie die Durchsetzung neuer Werte und Praktiken werden als schwieriger Lernprozess dargestellt, der zu einem spannungsreichen Nebeneinander des Ungleichzeitigen führt, in dem Interessengegensätze mitunter hart aufeinanderprallen (so bei Hansjörg Siegenthaler).

Der Begriff sozialer Wandel tauchte erstmals in den 1920er Jahren in der amerikanischen Soziologie auf, obschon sich fast alle Klassiker der Disziplin mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Veränderungen beschäftigt hatten. Sein Aufkommen reflektiert selbst die sozialen Umbrüche im Zug der Industrialisierung, aber auch die Erfahrung, dass sozialer Wandel zu einem konstitutiven Element moderner Gesellschaften wurde.

Die Schweizer Geschichtsschreibung griff bis auf ganz wenige Ausnahmen – so beschäftigten sich etwa Eduard Fueter und William Emmanuel Rappard mit wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wandel, während Robert Grimm und Valentin Gitermann marxistische Ansätze einbrachten – erst ab den 1960er Jahren strukturgeschichtliche Fragestellungen auf, als die Sozialgeschichte die bis anhin dominierende politische Geschichte mit ihrem Fokus auf Personen und Ereignissen immer mehr zurückdrängte. Das Aufkommen der Kulturgeschichte in den 1980er Jahren verlieh der Auseinandersetzung mit dem sozialen Wandel zusätzliche Impulse. Dabei rückte die enge Begriffsdefinition zugunsten eines weit gefassten Verständnisses von Veränderungen in den Hintergrund.

Quellen und Literatur

  • Grundbegriffe der Soziologie, hg. von B. Schäfers, 1986, 365-370
  • Wb. der Soziologie 3, hg. von G. Endruweit, G. Trommsdorff, 1989, 798-805
  • P. Burke, Soziologie und Gesch., 1989, v.a. 111-148
  • G.G. Iggers, Geschichtswiss. im 20. Jh., 1993
  • Soziologie-Lex., hg. von G. Reinhold, 42000, 596-598
  • L. Gallino, Dizionario di sociologia, 22004
  • R. Boudon, F. Bourricaud, Dictionnaire critique de la sociologie, 72006, 86-89
Weblinks

Zitiervorschlag

Roger Sidler: "Sozialer Wandel", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.08.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015993/2009-08-20/, konsultiert am 28.03.2024.