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Ländliche Gesellschaft

Der Begriff der Ländlichen Gesellschaft umschreibt das gesellschaftliche Gefüge im ländlichen Raum, das sich bis über die Industrialisierung hinaus hauptsächlich, aber nicht ausschliesslich, aus in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerungsgruppen, Bauern, Taglöhnern (Tauner) und Gesinde zusammensetzte. Das Konzept der Ländlichen Gesellschaft ist umfassender als das der Agrargesellschaft, weil es nicht die wirtschaftliche Tätigkeit (die Landwirtschaft), sondern die räumliche Qualität (Land im Gegensatz zur Stadt) zum Ausgangspunkt hat. Demnach sind auch nichtlandwirtschaftliche, auf dem Land ansässige Schichten wie Landhandwerker und ländliche Heimarbeiter (Protoindustrialisierung) zur Ländlichen Gesellschaft zu zählen. Gemeinsam war den ländlichen Bewohnern vor der Helvetischen Revolution, dass sie von der Herrschaft ausgeschlossen waren (mit Ausnahme der Bewohner der Länderorte) und kaum Zugang zur (höheren) Bildung hatten. Auf dem Land waren immer auch Herrschaftsvertreter (Adlige, Stadtbürger, Pfarrherren) präsent, die einen direkten Einfluss auf das Leben der Landbevölkerung ausübten. Für die vorindustrielle Zeit ist der Begriff der Ländlichen Gesellschaft heute weit akzeptiert (und hat denjenigen der Agrargesellschaft teilweise verdrängt). Bisweilen wird er auch für die Zeit nach der Industriellen Revolution gebraucht, nämlich zur Beschreibung der sozialen Gefüge in den ländlich gebliebenen Räumen, in denen die Landwirtschaft weiterhin vorherrschte.

Ländliche Gesellschaften lassen sich in ihrer Komplexität adäquat beschreiben, indem die Dimensionen Wirtschaft, Herrschaft, soziale Ungleichheit und Mentalität und deren gegenseitige Verknüpfungen untersucht werden. Auf der wirtschaftlichen Ebene stellen sich Fragen nach den in einer Umwelt vorhandenen Ressourcen und der Art, wie die Menschen diese nutzen, ebenso nach Organisationsform der Produktion (Agrarverfassung) und nach wirtschaftlichen Spezialisierungen. In der sozialen Dimension interessieren etwa die institutionalisierten sozialen Einheiten (z.B. Haushalt), sozialen Gruppen und deren Schichtungsmerkmale oder die Mobilität zwischen denselben. In der politisch-herrschaftlichen Dimension wiederum wird die Verteilung der Macht auf verschiedene weltliche und geistliche Herrschaftsträger (Grund-, Zehnt-, Gerichts- oder Landesherrschaften), deren Verhältnis untereinander und zu den ländlichen Untertanen, aber auch die spezifischen Formen der Herrschaftspraxis untersucht. In der kulturell-mentalen Dimension bieten sich schliesslich Fragen nach Normen und Werten, nach Lebensweisen, Lebenswelten und deren Vermittlung wie auch nach gruppenspezifischen Kommunikations- und Soziabilitätsformen formeller und informeller Art an.

Im Frühmittelalter verbreiteten sich im Gebiet der heutigen Schweiz weltliche und kirchliche Grundherrschaften. Vorherrschend war der Typ der zweigeteilten Grundherrschaft, die einerseits aus dem herrschaftlichen Fronhof bestand, der im Frondienst von den abhängigen Bauern bestellt wurde, andererseits aus den von diesen bewohnten und selbst bewirtschafteten Huben.

Im Hoch- und Spätmittelalter durchlief die Ländliche Gesellschaft einen umfassenden strukturellen Wandel, in dessen Verlauf sich deren primärer Bezugspunkt vom herrschaftlichen Hofverband auf das Dorf, die Gemeinde oder die Talschaft verlagerte. Im Mittelland wurde diese Entwicklung durch das hochmittelalterliche Bevölkerungswachstum, die damit verbundene Siedlungsverdichtung und die Intensivierung des Getreidebaus – insbesondere durch die Verbreitung der Dreizelgenwirtschaft (Zelgensysteme) – gefördert, eines Anbausystems, das erstmals eine Überschussproduktion ermöglichte. In der Folge gaben immer mehr Grundherrschaften ihre Eigenwirtschaft auf und forderten statt Frondienste Renten, d.h. einen Anteil des Produktionsüberschusses, umso mehr, als ihre Hörigen in die neu gegründeten Städte abzuwandern drohten. Wahrscheinlich auf Initiative der neuen schmalen dörflichen Oberschicht, die oft in einem Dienstverhältnis zur Herrschaft stand und zwischen dieser und den Bauern vermittelte, wurde die individuelle und kollektive Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen institutionell auf Dorfebene geregelt (Flurzwang in den Zelgen, kollektive Nutzung der Allmend). Nach 1300 nahmen die Konflikte zwischen Dorf und Herrschaft zu, was deutlich zeigt, wie sich aus einem Nutzungsverband auf Dorfebene ein politischer Verband auszubilden begann. Identifikationspunkt und Ort neuer Soziabilitätsformen waren unter anderem auch die Pfarrkirchen, die durch die Aufteilung der Grosspfarreien ab dem 12. Jahrhundert vermehrt in den einzelnen Dörfern errichtet wurden.

Im Spätmittelalter herrschte zwischen den zahlreichen Städten und der Bevölkerung im ländlichen Raum eine rege Austauschbeziehung (Stadt-Land-Beziehungen). In Stadtnähe wurden einerseits Produkte wie Wein oder Gemüse angebaut, die sich auf den städtischen Märkten gut absetzen liessen. Andererseits investierten städtische Bürger Kapital im Umland, indem sie Güter und Herrschaftsrechte erwarben, hypothekarische Darlehen gewährten oder sich am Viehbesitz beteiligten. Dies förderte eine neue Stratifikation der Ländlichen Gesellschaft aufgrund ökonomischer Kriterien, während die hergebrachte ständische Ordnung im Alltag an Bedeutung verlor. Arbeitsteilige Wirtschaftsformen entstanden auch innerhalb der Ländlichen Gesellschaft. So bildete sich im Spätmittelalter ein ländliches Handwerk aus, deren Vertreter – abgesehen von den Müllern und Wirten – zur ländlichen Unterschicht gehörten.

Das territorialherrschaftliche Ausgreifen der Städte auf die Landschaft im Spätmittelalter in allen Lebensbereichen stiess auf Widerstand bei der ländlichen Bevölkerung, so etwa im Zürcher Waldmannhandel 1489 oder im frühen 16. Jahrhundert im Gefolge der Reformation. Im Verhältnis zur Grösse und Bevölkerung verzeichnete kaum ein anderes europäisches Land so viele ländliche Unruhen wie die Schweiz.

In der frühen Neuzeit verstärkte sich die soziale Differenzierung der Ländlichen Gesellschaft. Im Mittelland stand den Vollbauern eine wachsende Zahl Landarmer oder Landloser gegenüber, die sich zunehmend bei städtischen Bürgern verschuldeten. Dörfliche Führungsschichten suchten ihren Besitzstand zu wahren, indem sie die landwirtschaftliche Produktion intensivierten, Teile der genossenschaftlich genutzten Ressourcen privatisierten (Einschlagsbewegung), den Zugang der ländlichen Unterschichten zu diesen beschränkten und die Zuwanderung mit immer höheren Einzugsgebühren zu steuern suchten (Hintersassen). Landarme Schichten fanden in den fremden Diensten, ab dem 17. Jahrhundert auch in der Protoindustrie ihr Auskommen, was sich unter anderem im Siedlungsbild, im Heiratsverhalten, in der Kinderzahl und den Ernährungsgewohnheiten niederschlug. Die Ländliche Gesellschaft des Voralpenraums richtete sich auf eine marktorientierte Vieh- und Milchproduktion aus und auch in den Alpen wurde die Landwirtschaft intensiviert. Die Gemeinden bewahrten im Vergleich zum Mittelland einen hohen Grad an Autonomie. Die karge wirtschaftliche Basis bewegte einen Teil der Bewohner zur saisonalen oder lebenszyklischen Auswanderung, was eine erhebliche Auswirkung auf die Ländliche Gesellschaft der Herkunftsregionen hatte.

Flarzhäuser in Riedikon bei Uster. Postkarte, um 1900 (Stadtarchiv Uster).
Flarzhäuser in Riedikon bei Uster. Postkarte, um 1900 (Stadtarchiv Uster). […]

Mit der Industrialisierung und den politischen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Ländliche Gesellschaft tiefgreifend. Die Landbewohner wurden politisch gleichberechtigte Bürger, der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ging allmählich zurück (von ca. 54% um 1850 auf 31% um 1900). In der Frühindustrialisierung entstanden zahlreiche Fabriken entlang der Wasserläufe im ländlichen Raum und die ersten Industriearbeiter und Fabrikherren blieben mit der Ländlichen Gesellschaft verbunden. Erst mit dem Eisenbahnbau wurde die Industrie zur Wirtschaftsform der städtischen Zentren. Nicht zuletzt als Folge der Mobilität durch den Individualverkehr, welche die Trennung von Arbeits- und Wohnort über grössere Distanzen ermöglichte, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Übergänge zwischen ländlichen und städtischen Siedlungen immer fliessender, auch wirtschaftlich, sozial und mentalitätsmässig hat sich der Land-Stadt-Gegensatz stark abgeschwächt (Agglomeration).

Quellen und Literatur

  • K.S. Bader, Stud. zur Rechtsgesch. des ma. Dorfes, 3 Bde., 1957-73
  • R. Braun, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländl. Industriegebiet, 1965 (21999)
  • P. Dubuis, Une économie alpine à la fin du Moyen Age, 2 Bde., 1990
  • A. Ineichen, Innovative Bauern, 1996
  • A. Radeff, Du café dans le chaudron, 1996
  • A. Suter, «Neue Forsch. und Perspektiven zur Gesch. der Ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500-1800)», in Agrargesch.: Positionen und Perspektiven, hg. von W. Trossbach, C. Zimmermann, 1998, 73-91
  • Wirtschaft und Herrschaft, hg. von T. Meier, R. Sablonier, 1999
  • P. Blickle, Kommunalismus, 2 Bde., 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Leonhard: "Ländliche Gesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015989/2012-06-13/, konsultiert am 19.03.2024.