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Klassengesellschaft

Die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene Klassen geht davon aus, dass sich die soziale Ungleichheit auch nach der Abschaffung der Standesprivilegien (Ständische Gesellschaft) auf Grund bestimmter Systemmerkmale beschreiben lässt. Infolge der grundsätzlich rechtlichen Gleichheit der Individuen beruhen die sozialen Ungleichheiten im Konzept der Klassengesellschaft nicht mehr auf der Geburt wie in der feudalen ständischen Ordnung, sondern auf funktionalen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Mitglieder einer Klasse zeichnen sich durch eine strukturell gleiche Stellung im Wirtschaftsprozess und damit durch eine ähnliche soziale Lage, durch gemeinsame Interessen und unter bestimmten Bedingungen durch ein gemeinsames Bewusstsein dieser Lage aus.

Der Begriff der Klasse stammt aus der naturwissenschaftlichen Klassifizierung der Pflanzen. Als Konzept zur Analyse der Gesellschaft tauchte er erstmals bei den Physiokraten im 18. Jahrhundert auf (Physiokratie). In ähnlicher Weise übernahm ihn zu Beginn des 19. Jahrhunderts Claude Henri de Saint-Simon zur Bezeichnung der einzig produktiven industriellen Klasse. Für Karl Marx, der den modernen Begriff der Klassengesellschaft prägte, war der Besitz an den Produktionsmitteln das entscheidende Kriterium, das in der bürgerlichen Gesellschaft die Zuordnung zur Arbeiter- oder Kapitalistenklasse bestimmte. Marx verknüpfte den Klassenbegriff zudem mit seiner Revolutionstheorie, wonach die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen sei. In Erweiterung dieses ökonomischen Ansatzes hob die soziologische und historische Forschung die Bedeutung kultureller Faktoren für die Konstituierung der Klassen hervor, vor allem Max Weber, der die subjektiven, geistigen Faktoren der Klassenbildung betonte, sowie Pierre Bourdieu mit seiner Theorie des Habitus.

Der Begriff der Klasse wurde in der Arbeiterbewegung mit der Ausbildung eines Klassenbewusstseins ab dem 19. Jahrhundert zum politischen Kampfbegriff. In der Schweiz erfolgte der Anstoss zu einem klassenbewussten Auftreten nicht von Heim- oder Fabrikarbeitern, sondern von Handwerkern, nicht zuletzt ab den 1830er Jahren dank dem Einfluss wandernder Handwerksgesellen wie Wilhelm Weitling (Deutsche Arbeitervereine). Die soziale Frage nahm man in der Schweiz weniger antagonistisch wahr als anderswo, weil die Vorstellung weit verbreitet war, die Klassengegensätze könnten durch die demokratische Ausgestaltung des Staates behoben werden. So thematisierte die demokratische Bewegung die sozialen Gegensätze als Auseinandersetzung zwischen «Volk» und «Herren». Selbst in der organisierten Arbeiterbewegung setzte sich ein klassenkämpferisches Bewusstsein erst an der Wende zum 20. Jahrhundert durch. Den Höhepunkt des auf Konfrontation ausgerichteten Verständnisses und Verhältnisses zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse bildete der Landesstreik von 1918. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, dass Robert Grimm während der ihm für die Streikführerschaft auferlegten Haft das Buch «Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen» (1920) schrieb.

Durch den nationalen Schulterschluss in den 1930er Jahren im Zug der Geistigen Landesverteidigung rückte die Wahrnehmung der Gesellschaft als Klassengesellschaft in den Hintergrund. Nach einer kurzen, aber intensiven Streikphase in der unmittelbaren Nachkriegszeit etablierte sich durch die Verbreitung von Gesamtarbeitsverträgen und dank des wirtschaftlichen Aufschwungs eine stabile Sozialpartnerschaft. Soziale Unterschiede wurden nun als schichtspezifisch und nicht mehr als durch Klassengegensätze bedingt wahrgenommen (Unterschichten). Dabei spielte eine Rolle, dass ein immer grösserer Teil der Arbeiterschaft aus Immigranten bestand.

Anstelle des Modells der Klassengesellschaft bevorzugt die Forschung heute differenzierte Schichtungsmodelle, um die vielfältigen Faktoren der sozialen Statusbildung besser fassen zu können. Gleichwohl beanspruchen Klassenmodelle auch ohne den klassischen Konflikt zwischen besitzendem Bürgertum und besitzlosem Proletariat weiterhin Gültigkeit, etwa bei der Thematisierung der Widersprüche zwischen der «neuen Armut» und den Spitzenlöhnen der Manager.

Quellen und Literatur

  • R. Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, 1965
  • Gruner, Arbeiter
  • P. Bourdieu, Sozialer Raum und "Klassen", 1985 (franz. 1984)
  • Gruner, Arbeiterschaft
  • A. Tanner, Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen, 1995
  • R. Levy, Tous égaux?, 1997 (dt. Kurzfassung, 1998)
  • H. Stamm et al., «Die Ungleichheitsstruktur der Schweiz an der Schwelle zum 21. Jh.», in Analysis of Comparative and Longitudinal Data, hg. von P. Farago, 2000, 9-51
Weblinks

Zitiervorschlag

Ruedi Brassel-Moser: "Klassengesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015984/2012-06-13/, konsultiert am 29.03.2024.