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Bürgerliche Gesellschaft

Bürgerliche Gesellschaft bezeichnete von Aristoteles bis Mitte des 18. Jahrhunderts das Ideal einer rechtlich geordneten Gemeinschaft von Bürgern, die im Unterschied zu Herr-Knecht-Beziehungen als Freie und Gleiche miteinander verbunden und einer, in der Regel von ihnen selber getragenen, politischen Herrschaftsform unterworfen waren. Eine Trennung zwischen Personenverband und Herrschaftsorganisation bestand nach diesem Verständnis nicht.

In der Aufklärung änderte sich dieses Verhältnis grundsätzlich. Staat und bürgerliche Gesellschaft wurden nun einander entgegengesetzt. Nach dem theoretischen Muster des frühbürgerlichen Liberalismus bildete die bürgerliche Gesellschaft jene staatsfreie und politikferne Sphäre bürgerlicher Privatleute (Privatsphäre), in der anstelle politischer Herrschaft über Menschen nur noch ökonomische Herrschaft über Sachen zulässig ist. Das Ideal dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft war, in Absetzung vom Absolutismus, von staatlichen Regulierungen, geburtsständischen Privilegien und klerikaler Dominanz, eine sich selbst steuernde Gesellschaft freier, in rechtlicher und politischer Hinsicht gleicher, öffentlich diskutierender und vernünftig entscheidender Staatsbürger (Bürger). Von der politischen Philosophie als eine Art neues Sozialmodell entwickelt, umfasste die bürgerliche Gesellschaft sowohl eine neue politische Ordnungsidee (Volkssouveränität, Selbstverwaltung) als auch eine neue Wirtschaftstheorie (Marktwirtschaft) und Strukturvorstellung für die Gesellschaft (freie Interessenformierung, Leistungsprinzip). Alle drei Faktoren stimmten mit den Interessen des aufkommenden Wirtschafts- und Bildungsbürgertums (Bürgertum) überein oder konnten zur Legitimierung derselben dienen und so die Vergesellschaftung von Besitz und Bildung begründen. Welche Sprengkraft in diesen Prinzipien steckte, zeigte sich in der Amerikanischen und der Französischen Revolution.

In der Schweiz verhalfen neben der Helvetik vor allem auch die liberalen Revolutionen von 1830-1831 und der Bundesstaat von 1848 dem bürgerlichen Sozialmodell in fast idealtypischer Weise zum Durchbruch. In dieser Zeit wurde eine neue Ordnung errichtet, die den Grundsatz rechtlich geregelter individueller Freiheit realisierte, das Zusammenleben der Menschen nach Massgabe der Vernunft gewährleistete, die Ökonomie auf der Grundlage rechtlich geregelter Konkurrenz nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisierte, die Lebenschancen aufgrund von Leistung und Verdienst verteilte, die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates einerseits begrenzte und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentativorgane sowie Abstimmungen an den Willen mündiger Bürger zurückband und Kunst, Wissenschaft und Religion zwar im Sinne der bürgerlichen Kultur strukturierte, aber doch ein hohes Mass an Selbstbestimmung gewährte. Obwohl dieses Modell die Frauen weitgehend diskriminierte und die Juden zeitweise ausschloss, übte es in der Schweiz auf alle Bevölkerungsschichten eine hohe Attraktivität aus und genoss breite Unterstützung. Selbst grosse Teile der Arbeiterbewegung (Grütliverein) hielten am Ideal der bürgerlichen Gesellschaft als einer klassenlosen Gesellschaft fest, in der alle Männer, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen und sozialen Status, also auch die Arbeiter, freie und gleichberechtigte Bürger sind.

Die bürgerlichen Freiheitsrechte und die Selbststeuerungsmechanismen der Gesellschaft führten jedoch mit fortschreitender Industrialisierung und Durchsetzung des Kapitalismus auch in der demokratischen Schweiz nicht zu einem gerechten Interessenausgleich, sondern zur Ausbildung einer Klassengesellschaft. Erst dem modernen Sozialstaat sollte es wenigstens teilweise gelingen, die Grenzen des bürgerlichen Sozialmodells zu überwinden und die Arbeiterschaft stärker in Gesellschaft und Staat zu integrieren.

Quellen und Literatur

  • M. Riedel, «Bürgerliche Gesellschaft», in Gesch. Grundbegriffe 2, hg. von O. Brunner et al., 1975, 719-800
  • U. Haltern, Bürgerliche Gesellschaft, 1985
  • J. Chevallier et al., La société civile, 1986, 9-32
  • D. Grimm, Recht und Staat der Bürgerlichen Gesellschaft, 1987
  • A. Tanner, Arbeitsame Patrioten ― wohlanständige Damen, 1995
  • N. Bobbio et al., Il dizionario di politica, 2004, 893-897
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner: "Bürgerliche Gesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.10.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015983/2011-10-20/, konsultiert am 29.03.2024.