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Feudalgesellschaft

Der Begriff Feudalgesellschaft, ein Schlüsselbegriff der mittelalterlichen Geschichte und wie Feudalismus und Lehnswesen Gegenstand lebhafter historiografischer Debatten, ist mit drei grossen Definitionsproblemen behaftet. Zunächst stellt sich die Frage nach dem Sinn und Gebrauch des Wortes: Ist das Adjektiv feudal in seiner engen juristischen Bedeutung oder – in der Nachfolge von Marc Bloch und Georges Duby – in einem umfassenderen gesellschaftlich-mentalen Sinne zu verstehen? Eine weitere Schwierigkeit ist die Periodisierung: Welche sind die goldenen Jahrhunderte dieser Gesellschaftsform? Vom 9. bis zum 15. Jahrhundert wiesen die Feudalbeziehungen nicht immer den gleichen Stellenwert auf. Schliesslich bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Zuordnung: Auf welche Gruppen treffen die feudalen Charakteristiken der mittelalterlichen Gesellschaft zu? Gegenwärtig geht man davon aus, dass ohne die Huldigung, das Lehen, den Schutz des senior (d.h. in seiner ursprünglichen Bedeutung: des Älteren) und die Vasallität von Feudalgesellschaft nicht gesprochen werden kann.

In der mittelalterlichen Schweiz ist die lehnsrechtliche Terminologie in die Prozesse der longue durée eingeschrieben: von den vassi dominici (Kronvasallen) Karls des Grossen 885 bis zu den Lehnsrittern (chevaliers fieffés) des Herrn von Cossonay 1096, von den vasallitischen Ministerialen der Ostschweiz des 13. Jahrhunderts bis zum Lehnstag Rudolfs IV. von Habsburg, einer 1361 in Zofingen einberufenen Versammlung zur Einrichtung eines Lehnsverzeichnisses. Die Protagonisten wie auch die Quellen änderten sich über die Jahrhunderte hinweg in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Die Quellen legen eine Periodisierung in drei Abschnitte nahe: in das ausgehende Frühmittelalter der karolingischen und nachkarolingischen Zeit (9. und 10. Jahrhundert), das grundherrschaftliche Hochmittelalter (11. und 12. Jahrhundert) sowie das von Fürsten und Städten geprägte Spätmittelalter (13. bis 15. Jahrhundert).

Im Zeichen der karolingischen Herrschaft mit ihrem Streben nach politischer Legitimation und Kontrolle erschienen die ersten Vasallen vom 9. Jahrhundert an im Gebiet der heutigen Schweiz. Belegt sind sie in Rechtsquellen und narrativen Quellen kaiserlicher Provenienz. Meist handelte es sich um Inhaber von Lehnsgütern und Vertreter der sogenannten Reichsaristokratie (früher meist Reichsadel genannt), die noch wenig ortsgebunden war. Diese kaiserlichen – und später geistlichen und gräflichen – Vasallen bildeten eine intermediäre Aristokratie regionaler Machthaber, die zwar manchmal keine Ämter innehatten, aber immer in enger Verbindung zum Königtum standen. Es existierte somit eine aktive «Feudalgesellschaft» innerhalb der karolingischen Aristokratie. Die Könige und Kaiser machten von diesen Lehnsbeziehungen nur zusammen mit anderen Mitteln der politischen und sozialen Kontrolle Gebrauch, die sich von der Vergabe von Territorialämtern an Grafen und Vizegrafen bis zu einer machtvoll entwickelten Reichskirche (Rolle der Bischöfe) erstreckten. Vasallen und Lehen sind deshalb ein wichtiger gemeinsamer Nenner der Gesellschaft und der Eliten des 9. und 10. Jahrhunderts.

Der Bereich der Vasallität scheint ab dem 11. Jahrhundert kleiner zu werden. Im schweizerischen Raum, der nach 1032 ganz dem deutschen Kaiser unterstand, sprechen die – stark lokalbezogenen und grossenteils aus dem klerikalen Bereich stammenden – Quellen häufiger von domini (Herren), milites (Ritter), ministeriales (Ministerialität), Adelsgeschlechtern, Burgen und Schlössern sowie Alloden als von Vasallen, von Benefizien und Lehen. Gewiss erfüllten die lehnsrechtlichen Verhältnisse nach wie vor eine gewisse politische Verbindungsfunktion, im lokalen Bereich zwischen dem Herrn und seiner militärischen Gefolgschaft (obwohl die Gleichwertigkeit zwischen Ritter und Lehnsmann im besagten Zeitraum nicht gegeben war) und überregional zwischen dem Kaiser, seinen Grafen, seinen Bischöfen und den Zwing- und Bannherren; so sprach beispielsweise der Graf von Genf im Jahr 1188 seine Gefolgschaft als seine «Edlen und Aftervasallen» (nobles et vavasseurs) an. Dennoch ist aber die Gesellschaft des 11. und 12. Jahrhunderts eher als eine durch Grundherrschaft und Stammlinien geprägte denn als aristokratische Gesellschaft (Adel) und Feudalgesellschaft zu betrachten. Lehen und Vasallen blieben als politische und soziale Komponenten im Hintergrund.

Der Graf von Savoyen mit einigen seiner Vasallen, nach dem Wappenbuch von Gelre, um 1380 (Bibliothèque royale de Belgique, Brüssel, Ms. 15652-56, Fol. 96r).
Der Graf von Savoyen mit einigen seiner Vasallen, nach dem Wappenbuch von Gelre, um 1380 (Bibliothèque royale de Belgique, Brüssel, Ms. 15652-56, Fol. 96r). […]

Von den letzten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts an erfolgten in diesem Gesellschaftsmodell allerdings bedeutende Anpassungen. Sie waren eng verbunden mit einer kaiserlichen und fürstlichen Politik, die sich einem gemeinsamen aristokratischen Ideal verpflichtete und ein gelenktes Lehnswesen verstärkte. Das Lehnsrecht entwickelte sich und wurde kodifiziert, was die kaiserliche Kontrolle mittels der Heerschildordnung (vom König bis hinab zu den Ministerialen reichende, auf den Waffendienst bezogene Lehnshierarchie) und die Verschriftlichung regionalen Gewohnheitsrechts, zum Beispiel im «Sachsenspiegel», erleichterte. Auch die Herausbildung und Erstarkung der savoyischen und habsburgischen Territorialstaaten sind eng mit der feudalistischen Strategie verbunden, die in den zwischen 1240 und 1250 von Peter II. von Savoyen betriebenen Belehnungen des Adels auf der Genferseenordseite und im Auftreten eigentlich feudaler Quellen deutlichen Niederschlag fand. Die ersten savoyischen Lehnsverzeichnisse ab Ende des 13. Jahrhunderts oder der habsburgische Lehnstag von 1361, der nach einem Jahrzehnt mit einem regionalen Register beschlossen wurde, zeigen, wie sehr die feudalen Rechtsbräuche und die fürstlichen Institutionen, die Belehnungen und die Verwaltung beim Aufbau der Territorialstaaten in der Westschweiz wie auch in der Deutschschweiz zusammenwirken konnten.

In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters entwickelte die aristokratische Ideologie feudalistisch geprägte Zugehörigkeitskriterien. Die ritterliche Ehre erweist sich in den narrativen Quellen vom späten 12. Jahrhundert an als vorrangiges identitätsstiftendes Merkmal des Adels sowohl freien als auch ministerialen Ursprungs. Auch die fürstliche politische Hierarchie gab sich einen feudalen Anstrich: So erkannten etwa die Statuten des Herzogtums Savoyen von 1431 jenen ritterlichen Baronen den ersten Rang unter den Untertanen des Fürsten zu, die über mindestens 25 adlige Vasallen verfügten.

Im 13. Jahrhundert weitete sich das Lehnswesen weiter aus. Einerseits wurden alle Ländereien einschliesslich eines Teils der bäuerlichen Leihe als Lehen betrachtet, wobei die Unterscheidung zwischen Lehen und Allod von der Unterscheidung zwischen adligen und ländlichen bzw. bäuerlichen Lehen abgelöst wurde. Andererseits nahmen neue soziale und politische Handlungsträger an den feudalen Institutionen teil. Bei diesen konnte es sich sowohl um Städte handeln – die Bürger von Luzern besassen ab 1227 Lehen – als auch um ländliche Eliten, die zum Beispiel in den habsburgischen Registern von 1373 bis 1379 stark vertreten sind.

Dennoch darf man sich die Gesellschaft des Spätmittelalters nicht als reine Feudalgesellschaft vorstellen. Auch wenn zahlreiche neuere Forschungsarbeiten die wichtige Rolle der Lehnsinstitutionen für die Entstehung der Territorialstaaten betonen, so bleiben die Verwaltungsapparate und die territorialen Verpfändungen (wie z.B. das Pfandsystem der Habsburger) für diesen Vorgang bedeutsam. Auch wenn die Lehnsbindungen unleugbar ihre Einflusssphäre vermehrten, so haben sie gerade dadurch auch viele ihrer ursprünglichen Merkmale verändert; auf diese Weise erklärt sich etwa die Erwähnung eines fief sans fidélité (Lehen ohne Treupflicht) in einem Genfer Dokument von 1343. Wenn sich schliesslich der Adel ausdrücklich auf seinen feudalen Charakter berief, so erscheinen doch gleichzeitig der Dienst am Hof und die Gunst des Fürsten als die sichersten Mittel des sozialen Aufstiegs. Lehnsrechtliche Bindungen konnten somit vom 9. bis ins 15. Jahrhundert eine hoch bedeutsame politische, soziale und wirtschaftliche Rolle spielen, ohne dass notwendigerweise eine Feudalgesellschaft existierte.

Quellen und Literatur

  • Sablonier, Adel
  • G.P. Marchal, Sempach 1386, 1986
  • G. Chittolini, «Principe e comunità alpine in area lombarda alla fine del Medioevo», in Le Alpi per l'Europa, hg. von E. Martinengo, 1988, 219-235
  • G. Castelnuovo, L'aristocrazia del Vaud fino alla conquista sabauda, 1990
  • G. Castelnuovo, Ufficiali e gentiluomini, 1994
  • J.-F. Poudret, Coutumes et coutumiers, 2 Bde., 1998
  • B. Andenmatten, La maison de Savoie et la noblesse vaudoise (XIIIe-XIVe s.), 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Guido Castelnuovo: "Feudalgesellschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.08.2013, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015980/2013-08-08/, konsultiert am 19.03.2024.