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Baumwolle

Die Verarbeitung von Baumwolle, eingeführt über Oberitalien aus der Levante, ist in der oberdeutschen Gewerbelandschaft ab 1360 nachweisbar. In Augsburg, Ulm und anderen schwäbischen Städten entwickelte sich die Produktion von Barchent, einem Mischgewebe mit Flachs, ab Ende 14. Jahrhundert zu einem wichtigen Exportgewerbe. Im südlichen Bodenseeraum blieben dagegen Leinwandgewerbe und -export (Leinwand), in Freiburg vor allem das Wollgewerbe (Wolle) vorherrschend (Textilindustrie). Eine gewisse regionale Bedeutung erlangte die Barchent- oder Schürlitzweberei ab 1380 in Basel. Im frühen 15. Jahrhundert wurde die Baumwollverarbeitung in Zürich heimisch, ohne jedoch unter die zünftischen Gewerbe aufgenommen zu werden. Im Baumwollgewerbe Zürichs spielten deshalb bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts die Frauen als Weberinnen wie als Kleinunternehmerinnen eine wichtige Rolle.

Innovative Impulse erhielt das Zürcher Baumwollgewerbe nach 1555 durch die Einwanderung protestantischer Flüchtlinge aus Locarno. Auf die Betätigung im Handel beschränkt, erschlossen diese dem lokalen Gewerbe nicht nur neue Absatzkanäle, sondern sie machten die städtische Oberschicht auch mit verlags- und manufakturmässigen Organisations- und Produktionsformen bekannt (Verlagssystem), die für den ersten Wachstumsschub des Zürcher Baumwollgewerbes (1590-1620) die institutionelle Basis bildeten (Protoindustrialisierung). Innovationen wie die Einführung des Spinnrads und die Erweiterung der Produktepalette auf Indienne (Zeugdruck), Mouchoirs und Mousseline sowie die Ausweitung der Produktion vom unmittelbaren städtischen Marktkreis auf weiter entfernte Regionen lagen der zweiten Wachstumsperiode (1660-1690) zugrunde. Wachstumsfördernd wirkte sich auch die korporatistische Strategie mit ihrer Standardisierung und Kontrolle der Produktequalität aus. Keine grösseren Auswirkungen hatte der in der Literatur oft genannte Durchzug der Hugenotten (1685-1700). Eine wichtige Rolle kam dagegen ländlichen Unternehmern zu, die sich ab 1670 zwischen die Kaufleute und die ländlichen Arbeitskräfte als Vermittler schoben. Sie verdrängten die städtischen Zwischenhändlerinnen und Kleinverlegerinnen. Der dritte, um 1740 einsetzende Wachstumsschub hielt, unterbrochen von kurzen Krisen, nicht nur bis 1787 an, sondern er war auch mit einer Reallohnsteigerung verbunden und wies deutliche Ansätze eines intensiven Wachstums auf. Um 1787 zählte Zürich rund 34'000 Spinnerinnen, 4400 Webstühle für Mousseline und 2100 Stühle für Indienne.

Das Wachstum der Zürcher Baumwollindustrie förderte schon Anfang des 18. Jahrhunderts die Ausbreitung der Heimarbeit ausserhalb des Zürcher Herrschaftsgebietes. Spätestens 1710 dehnte sich der Einzugsbereich der Zürcher Baumwollspinnerei nach Südosten ins Gaster und nach Glarus aus, wo sich das Spinnen rasch verselbstständigte und um 1750 Glarner Kaufleute selbst für die Rohmaterialien und den Absatz besorgt waren. Eine zunehmend unabhängige Baumwollindustrie mit einem eigenständigen Unternehmertum entwickelte sich nach 1710 im Berner Aargau und den angrenzenden Luzerner Gebieten. Die Baumwolle wurde über Genfer Kaufleute oder über die Zurzacher Messe aus der Levante (insbesondere aus Ägypten) bezogen. Diese zentralschweizerische bzw. aargauische Baumwollindustrie, die mit ihrem dichten Netz von ländlichen Händlern und Kleinverlegern sowie Unternehmern in den Kleinstädten schliesslich bis ins Solothurnische und ins Fricktal ausstrahlte, erfuhr nach 1740 ebenfalls einen massiven Aufschwung. Sie produzierte vorwiegend grobe Baumwolltücher, teils für die Indienne-Druckereien, sowie Barchent. Im Unter- wie im Oberaargau wurde nach 1760 zudem die Buntweberei aufgenommen. 1787 waren im Aargau rund 12'000 Frauen mit Spinnen und 2200 weibliche und männliche Arbeitskräfte mit Weben beschäftigt.

Darstellung eines Webstuhls aus einem Notizheft eines Schweizer Arbeiters in Lyon, um 1850 (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).
Darstellung eines Webstuhls aus einem Notizheft eines Schweizer Arbeiters in Lyon, um 1850 (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).

Von Zürich unabhängig hielt die Baumwollverarbeitung im 18. Jahrhundert in der Leinwandregion St. Gallen-Appenzell Einzug: 1721 führte Peter Bion in der Stadt St. Gallen die Barchent- bzw. die reine Baumwollweberei ein. Der entscheidende Aufschwung der Baumwollweberei vollzog sich aber erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts, als sie von der Stadt ausgehend zunächst im Appenzellerland, dann auch im Toggenburg und in weiteren Gebieten Fuss fasste und ab 1770 die Leinwandindustrie völlig aus der Region verdrängte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts arbeiteten rund 15'000 Weberinnen und Weber entweder direkt für Verlegerkaufleute oder für Zwischenhändler (Fabrikanten). Die Baumwollspinnerei breitete sich erst nach dem Aufschwung der Weberei aus, zunächst wurde das Garn aus Zürich und dem Glarnerland eingeführt. Mit ca. 40'000 Spinnerinnen und Spinnern erstreckte sich ihr Einzugsbereich dann weit über die Webereiregionen hinaus auch auf Gebiete jenseits des Bodensees und Rheins. Der Export der Handelshäuser von St. Gallen und Appenzell übertraf jenen Zürichs bald an Qualität wie Quantität und erreichte dank dem möglichen Rückgriff auf die ausgebaute Verkaufsorganisation der Leinenhandelshäuser auch entferntere Märkte in ganz Europa, von Spanien bis Russland.

Erwerbstätige in der Baumwollindustrie 1888
Erwerbstätige in der Baumwollindustrie 1888 […]

1780-1790 stand die schweizerische Baumwollindustrie hinter Lancashire (Grossbritannien) an zweiter Stelle der Baumwolle verarbeitenden Regionen Europas. Das Auftauchen von englischem Maschinengarn um 1790 konfrontierte sie erstmals direkt mit den Folgen des technologischen Vorsprungs Grossbritanniens. Billiger, aber gleich fest und dennoch weicher und regelmässiger als Handgarn, setzte sich das Maschinengarn besonders in der Ostschweiz rasch durch. Die von Napoleon I. gegen England errichtete Kontinentalsperre zögerte dann aber den totalen Zusammenbruch der Handspinnerei nicht nur hinaus, sondern sie begünstigte auch den Aufbau mechanischer Spinnereien. Vor allem in Zürich und der Ostschweiz setzte um 1801 eine Gründungswelle ein. 1814 gab es in Zürich 74, in St. Gallen und Appenzell 20-30 mechanische Spinnereien, darunter sehr viele kleine, teils mit handangetriebenen Maschinen. Auf Dauer konnten sich nur grössere und technologisch gut ausgerüstete Spinnereien durchsetzen, wie sie vor allem in den 1820er Jahren eingerichtet wurden. Bereits um 1830 hatte die schweizerische Baumwollspinnerei den Anschluss an England und das Elsass gefunden. Der Import der Baumwolle aus den Südstaaten der USA, Brasilien sowie der Levante und Indien erfolgte schwergewichtig über Basel, die Bündner Pässe und den Bodensee. 1830 waren dies 3000, 1840 über 40'000 t. Bis in die 1860er und 1870er Jahre erlebte die Baumwollspinnerei, verbunden mit der Einführung des vollautomatischen Selfaktors, einen enormen Aufschwung. Die Zahl der Spindeln stieg von 634'000 um 1836 auf 1'854'000 um 1876, während sich jene der Betriebe von 149 auf 137 reduzierte. Einen neuen technologischen Sprung machte die Baumwollspinnerei um 1880 mit der Einführung der produktiveren Ringspinnmaschine. Die Verschärfung des Protektionismus und der weitere Ausbau der Baumwollspinnerei in den Absatzgebieten führte ab den 1880er Jahren zu einer verstärkten betrieblichen Konzentration, aber auch zu einer höheren Inlandorientierung, eine Tendenz, die auch im 20. Jahrhundert die Entwicklung bestimmte und vor allem die Zahl der Betriebe bis 1953 auf weniger als die Hälfte schrumpfen liess.

Zwei Schächentaler Weberinnen, um 1820. Zeichnung von Georg Ludwig Vogel (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Zwei Schächentaler Weberinnen, um 1820. Zeichnung von Georg Ludwig Vogel (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).

Die Baumwollweberei, die Ende des 18. Jahrhunderts aufgrund der Konkurrenz Englands und protektionistischen Massnahmen einen ersten grossen Rückschlag erlitten hatte, konnte im 19. Jahrhundert dank verschiedenen Neuerungen in der Produktion und Veredelung (Einführung des Schnellschützen und Chlorbleiche) die Konkurrenzfähigkeit mit der englisch-schottischen sowie der elsässischen Textilindustrie vorerst einigermassen wiederherstellen. Die wachsende Konkurrenz der englischen Baumwollweberei wie auch neuer Textilregionen und die Schutzzollpolitik der meisten europäischen Länder erzwangen jedoch hohe Anpassungsleistungen. Mit der Erschliessung von Märkten in Nord- und Südamerika sowie im Orient, die nach 1820 zu den bedeutendsten Absatzgebieten wurden, gelang es die Ausfälle in Europa weitgehend wettzumachen. Durch Spezialisierung auf feine Mousseline, auf brochierte und gemusterte Artikel sowie auf die Buntweberei konnten die Absatzchancen auch auf der Produktseite gewahrt und verbessert werden. Diese Diversifikationen waren aber nur dank technologischen Innovationen (Vermehrung der Schäfte, Übernahme der Wechsel- bzw. Brochierlade, Einführung des Jacquard-Webstuhls) möglich. Vor allem die Toggenburger und die zentralschweizerische Buntweberei entwickelten sich in den 1820er und 1830er Jahren zu einem der wichtigsten Exportzweige der Schweizer Textilindustrie. Der Übergang zur mechanischen Weberei erfolgte dagegen nur langsam – die erste mechanische Weberei wurde 1825 in Rheineck errichtet – und erfasste aufgrund des technologischen Standes zunächst nur die dichte und mittelfeine Weissweberei. In den 1840er Jahren machte die Mechanisierung dann jedoch dank der eigenen Entwicklung leistungsfähiger Webstühle rasche Fortschritte und entzog der Handweberei nun auch die feinen Artikel. Gesamthaft waren um 1850 rund 3000 mechanische Webstühle in Betrieb. In den 1850er Jahren hielt die Mechanisierung auch in der Buntweberei Einzug. Die führenden Unternehmer im Toggenburg stellten jedoch erst um, als der Absatz durch neue Handelsbeziehungen in den Fernen Osten (Hinter- und Vorderindien, Malaysia, Japan, China) gesichert war und die Webmaschinen soweit entwickelt waren, dass sie ohne weitere grössere Entwicklungskosten eingekauft und adaptiert werden konnten. Die Mechanisierung und der Übergang zum Fabriksystem lösten in den 1860er Jahren in der Buntweberei wie zuvor in der Weissweberei einen Zentralisierungsschub und Konzentrationsprozess aus. Trotz der raschen Mechanisierung verschwand die Handweberei jedoch nicht sofort, zum einen dank den vielen kleineren und mittleren Fabrikanten, die zwar nicht umstellen, sich aber doch noch einige Jahre behaupten konnten, zum anderen, weil auch Firmen mit eigener mechanischer Weberei für kleinere Mengen oder Spezialartikel weiterhin Heimweber beschäftigten oder sie als Konjunkturpuffer der Fabrik einsetzten. 1888 war die schweizerische Baumwollweberei dann jedoch weitgehend mechanisiert: In 133 Betrieben waren rund 24'000 mechanische Webstühle in Betrieb. Wie die Spinnerei litt auch die Weberei unter der erstarkenden ausländischen Konkurrenz und der Verschärfung des Protektionismus, auch ihre Inlandorientierung nahm in der Folge zu. Die Buntweberei geriet schon Ende des 19. Jahrhunderts durch die englische und holländische, später auch italienische Konkurrenz unter so starken Druck, dass viele Unternehmen aufgaben oder auf die Weissweberei umstellten und der bis 1914 prosperierenden Stickerei die Stoffe zulieferten. Durch verstärkte Umstellung auf den Inlandbedarf sowie vor allem nach 1950 durch Spezialisierung auf eine differenzierte und exklusive Nischenproduktion konnte sich die Baumwollweberei jedoch auch im 20. Jahrhundert einigermassen behaupten, auch ihre Leistungsfähigkeit nahm weiter zu. Aber mit den Umstrukturierungen der Wirtschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, insbesondere dem Aufstieg der Maschinen- und Apparateindustrie sowie der Chemie zu neuen führenden Sektoren, verlor die Baumwollindustrie im Laufe des 20. Jahrhunderts zusehends ihre einstige hohe gesamtwirtschaftliche Bedeutung: Beschäftigte sie 1880 ohne die Stickerei rund 12% der Erwerbstätigen des Industriesektors, so waren es 1930 noch 5%, 1960 noch knapp 3%. Gleichzeitig sank ihr Anteil am schweizerischen Gesamtexport von 10,5% um 1887 auf 7,4% um 1937/1938, 2,4% um 1962, 1,1% um 1990 und 0,2% um 2006.

Quellen und Literatur

  • W. Bodmer, Die Entwicklung der schweiz. Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, 1960
  • B. Veyrassat, Négociants et fabricants dans l'industrie cotonnière suisse 1760-1840, 1982
  • A. Tanner, Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht, 1985
  • R. Jäger et al., Baumwollgarn als Schicksalsfaden, 1986
  • P. Dudzik, Innovation und Investition, 1987
  • J.-F. Bergier, Wirtschaftsgesch. der Schweiz, 21990
  • Von der Heimarbeit in die Fabrik, hg. von K. Ditt, S. Pollard, 1992
  • U. Pfister, Die Zürcher Fabriques, 1992
Weblinks

Zitiervorschlag

Albert Tanner: "Baumwolle", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.03.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013961/2015-03-20/, konsultiert am 29.03.2024.