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Industriesektor

Der Begriff «Industrie» hat im Verlauf der Industrialisierung einen Bedeutungswandel erfahren. Während noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an das Französische das gesamte verarbeitende Gewerbe als Industrie bezeichnet wurde (bei Jacob und Wilhelm Grimm noch umfassender synonym zu «gewerbe, gewerbthätigkeit im allgemeinen»), verstand man im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert unter Industrie die zumeist exportorientierte Produktion in Fabriken und in der Heimindustrie (Protoindustrialisierung) im Unterschied zum kleinbetrieblichen, auf die lokalen Bedürfnisse ausgerichteten Handwerk. Nach dem Bedeutungsverlust der Heimindustrie wurde der Begriff zusehends auf die zentralisierte, maschinelle Grossproduktion im Fabriksystem eingeengt. Die Gesamtheit der so produzierenden Betriebe in einer Volkswirtschaft ist demnach der Industriesektor. In der historischen Literatur wird der Begriff allerdings immer noch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet und es ist nicht immer einfach herauszufinden, ob der Industriesektor im engeren Sinn oder der gesamte industriell-gewerbliche Sektor (d.h. der sekundäre Sektor) gemeint ist.

Volumen und Entwicklung des Industriesektors werden in der Regel mit Hilfe von Berufs- und Beschäftigungszahlen gemessen, die seit 1860 einen integrierenden Bestandteil der eidgenössischen Volkszählungen bilden. Für die Zeit vorher sind wir allerdings auf Schätzungen angewiesen, und selbst die ersten offiziellen Statistiken (1860, 1870) müssen vorsichtig interpretiert werden. Ab 1880 und 1888 nimmt ihre Qualität deutlich zu. Die Statistiken erlauben aber nicht, aufzuschlüsseln, was jeweils auf Fabrikindustrie, Heimindustrie und Handwerk entfällt.

Ein anderes Messkriterium ist die Wertschöpfung. Der Mangel an zuverlässigen Daten in diesem Bereich stellt jedoch ein ernsthaftes Hindernis dar. Da eine offizielle Statistik der industriellen Produktion vor dem Zweiten Weltkrieg fehlt, sind über diese nur retrospektive Schätzungen, oft nicht von staatlich-offizieller Seite, verfügbar. Seit 1965 und 1975 werden vom Bundesamt für Statistik Produktionsindikatoren auf Grund von Stichprobenerhebungen ermittelt. Was die Statistik der Mehrwertschöpfung nach Industriebranchen betrifft, reichen die wichtigsten Umfragen bis 1949 zurück.

Entwicklung des industriell-gewerblichen Sektors bezüglich Beschäftigung und Wertschöpfung

Im Vergleich zu den anderen Industrieländern (Europa, USA) war der 2. Sektor in der Schweiz schon früh stark entwickelt: Um 1880 umfasste er 40% der Erwerbstätigen, in den USA 20%, in Deutschland 30%, im Vereinigten Königreich jedoch 50%. Allerdings dürfte damals in der Schweiz nur die Hälfte der im 2. Sektor Beschäftigten in Fabriken gearbeitet haben.

Anteil des Industriesektors am Total der Erwerbstätigen 1800-2005a

JahrAnteil
180026,3%
185032,4%
186035,2%
187038,0%
188040,3%
188840,6%
190043,6%
191044,1%
192042,9%
193043,2%
194143,3%
195045,3%
196048,5%
197046,0%
198039,4%
199031,6%
200523,7%

a ab 1970 inklusive Teilzeitbeschäftigte

Anteil des Industriesektors am Total der Erwerbstätigen 1800-2005 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Erwerbstätigenstatistik

Auch 1960 und 1970 wies der industriell-gewerbliche Sektor mit 46-48,5% immer noch einen hohen Beschäftigungsanteil auf, während sich derjenige der europäischen OECD-Länder zwischen 1960 und 1973 auf einem Niveau von 38% einpendelte. In der Schweiz ist die verzögerte Tertiärisierung – oder anders ausgedrückt: das Fortbestehen einer industriell geprägten Beschäftigungsstruktur – auf den massenhaften Zustrom ausländischer Arbeitskräfte nach dem Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. In jenen Jahren erfolgte ein beispielloses Wirtschaftswachstum, bedingt durch die Nachfrage der im Wiederaufbau befindlichen Nachbarländer nach Gütern und Dienstleistungen sowie durch die eigenen Infrastrukturbedürfnisse; es wurden Nationalstrassen und im Gefolge der starken Bevölkerungszunahme vor allem Wohnungen (Wohnen) gebaut. Nach 1970 büsste der industriell-gewerbliche Sektor seine beherrschende Stellung ein; 2005 beschäftigte er nur noch 23,7% der erwerbstätigen Bevölkerung (Erwerbstätigkeit).

Auf die Wertschöpfung bezogen machte der sekundäre Sektor in den 1860er Jahren nach Schätzungen rund 40% des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus und verdrängte damit die Landwirtschaft aus ihrer Führungsposition, die sie bis 1858 innegehabt hatte. Danach stieg dieser Anteil leicht an und erreichte bis Mitte der 1970er Jahre 40-45% des BIP, um anschliessend wieder abzufallen. Ähnlich wie bei der Beschäftigung scheint der (absolut stark expandierende) industriell-gewerbliche Sektor auch bei der Wertschöpfung vom späten 19. Jahrhundert bis zu den 1970er Jahren anteilsmässig erstaunlich stabil gewesen zu sein.

Die Stärke der exportorientierten Industrie

Der bedeutende Umfang der schweizerischen Industrie lässt sich durch ihren exportorientierten Charakter erklären, durch die Notwendigkeit, lohnende Veredelungsaktivitäten zu entwickeln, die dem Land die Auslandaktiven verschaffen, die nötig sind, um die lebenswichtigen Importe zu finanzieren. Wie bei anderen kleinen, rohstoffarmen Ländern beruht auch der schweizerische Weg der Industrialisierung vor allem auf der Entwicklung einer auf die ausländischen Märkte ausgerichteten Industrie, die Rohstoffe einkauft und Fertigprodukte im Ausland absetzt. Der «internationale» Sektor hatte in der frühen Neuzeit wichtige Impulse durch die Hugenotten (Protestantische Glaubensflüchtlinge) erhalten; diese trugen dazu bei, in gewissen Regionen stark exportorientierte protoindustrielle Gewerbe (Uhren-, Seiden- und Baumwollbranche) aufzubauen, die im 18. Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung erlebten. Im 19. Jahrhundert spielte das Wachstum des schweizerischen Aussenhandels eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des industriellen Sektors, der an der Schwelle zum 20. Jahrhundert eine weitere Form der Internationalisierung erfuhr: die Umwandlung grosser schweizerischer Firmen in multinationale Unternehmungen.

Die Bedeutung der Exportindustrien (Exportwirtschaft) für die Volkswirtschaft und die reiche Fachliteratur, die sich damit befasst, lassen jedoch leicht einen wichtigen Teil der Wirtschaftstätigkeit vergessen: die Binnenindustrie. Diese wurde von der Geschichtsforschung bisher vernachlässigt. Sie umfasste die Industrie- und Gewerbezweige, deren Entwicklung hauptsächlich vom inländischen Bedarf geprägt wurde: Bauwesen, Stein-, Holz- und Papierindustrie (Papier), Nahrungs- und Genussmittelindustrie (Müllerei, Produktion des Biers, Konservenindustrie usw.), Bekleidungsindustrie (Gerberei, Schuhindustrie), Rüstungsindustrie (Waffenproduktion und Waffenhandel) sowie Abbauaktivitäten (Bergbau, Salinen). Die Binnenindustrie, die oft als traditioneller, wenig innovativer und stagnierender Sektor dargestellt wird, spielte nämlich eine zunehmend wichtigere Rolle für das schweizerische Wirtschaftswachstum, insbesondere als ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahnen und später die Elektrizitätsindustrie (Energieproduktion, Bau von Kraft- und Stauwerken, vgl. Wasserkraft) aufkamen. Die Bedeutung des Sektors verstärkte sich zusätzlich dadurch, dass sich ihre dynamischsten Branchen auch im Export zu engagieren begannen.

Veränderungen innerhalb des industriell-gewerblichen Sektors

Im Lauf des Industrialisierungsprozesses wandelte sich die Struktur des sekundären Sektors beträchtlich. Die besonders in der Textilindustrie und Uhrenindustrie verbreitete Heimarbeit erfuhr einen unumkehrbaren Rückgang. Zurück gingen auch die handwerklichen Berufe, von denen sich einige übrigens zu Industrien entwickelten (z.B. die Berufszweige der Nahrungsmittelherstellung). Dabei kam es vor allem zu einer Verschiebung der relativen Bedeutung einer Reihe von Berufen. Deren Ursache waren die Veränderungen der Nachfrage in den industrialisierten Ländern, den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz, zu Gunsten von Konsum- und Investitionsgütern, deren Herstellung mehr technische Fertigkeiten und wissenschaftliche Kenntnisse erforderten. Die Veränderungen der Inlandnachfrage in der Schweiz zeitigten dieselbe Wirkung: Bevölkerungszunahme und erhöhter Lebensstandard förderten die industrielle Diversifikation.

Erwerbstätige im Industriesektor nach Hauptbranchen 1870-2000
Erwerbstätige im Industriesektor nach Hauptbranchen 1870-2000 […]

Der charakteristischste Zug dieser Entwicklung besteht in der Verlagerung von den Tätigkeiten mit sinkender Produktivität (die Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Konsumgüterindustrien wie die Textil- und die Bekleidungsindustrie) hin zu den neuen Branchen mit hoher Wertschöpfung: zur chemischen Industrie, Metallindustrie und zur mechanischen Industrie (Maschinenindustrie, elektrische und später elektronische Geräte, Feinmechanik, Optik, Uhren). Analog den Pionierbranchen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert war diese neue Generation von Industrien und Unternehmungen stark von den ausländischen Märkten abhängig. Anfang des 21. Jahrhunderts nahmen die KMU (kleinen und mittleren Unternehmen) in den Sektoren mit hoher Wertschöpfung eine nicht zu unterschätzende Position ein, indem sie oft spezialisierte Hochtechnologie-Nischen besetzten, in denen die Weltkonkurrenz schwach war.

Quellen und Literatur

  • F. Kneschaurek, «Wandlungen der schweiz. Industriestruktur seit 1800», in Ein Jahrhundert schweiz. Wirtschaftsentwicklung, 1964, 133-166
  • F. Kneschaurek, P. Meier, Der sektorale Strukturwandel in der Schweiz von 1960 bis 1980, 1983
  • T. David, «Un indice de la production industrielle de la Suisse durant l'entre-deux-guerres», in SZG 45, 1995, 109-130
  • HistStat
  • H. Kaelble, «Le changement structurel de l'emploi en Europe au XIXe et au XXe s.», in Histoire, économie et société 17, 1998, 13-37
Weblinks

Zitiervorschlag

Béatrice Veyrassat: "Industriesektor", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.05.2008, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013956/2008-05-08/, konsultiert am 17.04.2024.