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Handwerk

Vom Spätmittelalter bis nach 1900 ist Handwerk als Handarbeit unter Verwendung von einfachen Werkzeugen zu definieren. Der Handwerker ― Betriebsinhaber und Produzent ― arbeitete allein oder mit Hilfskräften (Geselle, Lehrling) vor allem für die lokale Kundschaft, teils auch auf Vorrat, den er selbst absetzte. Der Meisterbetrieb herrschte vor (Meister). Handwerk heute umfasst Betriebe von unterschiedlicher Grösse und Technisierung vor allem in den Bereichen Qualitätsarbeit (Luxusgüter, Kunsthandwerk) mit Einzelanfertigung auf Bestellung des Kunden sowie Reparatur und Unterhalt von industriellen Erzeugnissen. Handwerkliche Berufe sind auch in der Industrie und in der öffentlichen Verwaltung integriert.

In der schweizerischen Geschichtsforschung stand die Handwerksgeschichte bis nach 1950 im Schatten der Geschichte der Zünfte; nur einige rechts- und wirtschaftshistorische Werke behandelten das Handwerk im Rahmen der Volkswirtschaft. Handwerksforschung in volkskundlicher, sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Ausrichtung setzte nach 1970 ein. Zu den behandelten Themen gehören unter anderem Stadt- und Landhandwerk, Migrations-, Gesellen-, Alltags- und Mentalitätsforschung.

Frühzeit

Früheste handwerkliche Tradition im Gebiet der heutigen Schweiz muss bereits in prähistorischer Zeit vor allem in der Metallverarbeitung vorausgesetzt werden (Metallverarbeitende Handwerke). In keltischer Zeit (ab ca. 300 v.Chr.) sind Werkstätten in Oppida (z.B. Engehalbinsel Bern) archäologisch bezeugt. Aus dem vielfältigen Handwerk ragte die exportorientierte Herstellung von Glas durch hohe Qualität hervor. In der folgenden gallorömischen Epoche (1. Jh. v.Chr.-5. Jh.n.Chr.) breitete sich das Handwerk, von römischen Traditionen beeinflusst, im ganzen kolonisierten Gebiet aus. In Civitates, Vici und Kastellen produzierten Metall-, Glas-, Keramik-, Holz-, Stein-, Leder- und Kunsthandwerker für den einheimischen Bedarf, zum Teil für den Export (Bronzegussprodukte), wie Bodenfunde, Inschriften und zeitgenössische Schriftsteller bezeugen. Nach der Völkerwanderung überlebte nur das exklusive Handwerk (Silber-, Gold-, Waffenschmiede, Kunsthandwerker), das sich an römischen und byzantinischen Vorbildern mass und sich noch in einigen Städten aus römischer Zeit, an Höfen und in Klöstern fand. Sonst aber liefen die meisten handwerklichen Tätigkeiten, auch die Gewerbebetriebe der mittelalterlichen Grundherrschaft, neben der Landwirtschaft einher als Nebenbeschäftigung der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung.

Handwerk als innovative Wirtschaftsform der mittelalterlichen Städte

Dies begann sich mit den Stadtgründungen vom 12. Jahrhundert an zu ändern. Dank dem Schutz seiner Arbeitsplätze in der ummauerten Stadt und kraft steigender Nachfrage nach seinen Artikeln wurde das Handwerk zur selbstständigen Berufsgattung. Die Handwerker bildeten nach den Kaufleuten die zweite innovative Berufsgruppe, die den Charakter und das bauliche Aussehen der Städte noch stärker als jene zu prägen begann, so durch gassen- oder quartierweise Ansiedlung der Handwerkszweige (z.B. Schmied-, Gerber-, Pfistergasse). Anfänglich regelten Bürgergemeinden und Stadträte das innerstädtische Gewerbeleben. Unter deren Aufsicht verkauften die Meister in der öffentlichen Markthalle (Schal/Schol, Laube) beim Rathaus Brot, Fleisch, Lederwaren und Tuche. Die Handwerkergassen mit Werkstattverkauf und die Markthalle verhalfen der Stadt zu ihrer Funktion als regionalen täglichen Markt (Märkte) von Handwerkserzeugnissen für das bäuerliche Umland (Stadt-Land-Beziehungen).

Zunftscheibe der Schneiderzunft von Basel, 1554 (Historisches Museum Basel).
Zunftscheibe der Schneiderzunft von Basel, 1554 (Historisches Museum Basel). […]

Das Handwerk entwickelte sich im Gebiet der heutigen Schweiz rasch, erstarkte in Hauptzweigen (Nahrungsmittel-, Metall-, Textil-, Bauhandwerke) und spezialisierte sich in neuen Berufen vor allem des Kunsthandwerks und der metallverarbeitenden Handwerke (Harnischer, Sporer, Degenschmied, Kannen-, Zinn-, Glocken-, Stückgiesser). Schon im 13. Jahrhundert bildete es das Rückgrat der Stadtwirtschaft. Einzelne Zweige expandierten im 14. bis 15. Jahrhundert zu Exportgewerben (Wolle in Freiburg, Seide in Zürich, Lederwaren in Bern, Sensen in Luzern). Das Handwerk trug neben dem Handel wesentlich zur Prosperität der spätmittelalterlichen Städte bei. Gesellschaftlich kam der Handwerkerschaft in den städtischen Bürgerschaften wachsendes Gewicht zu. Sie schloss sich, nach Berufszweigen geordnet, in Bruderschaften (Basel erstmals nach 1220) zusammen und stieg nach Bauern, Klerikern, Rittern und Handelsleuten zum Stand auf. Mit ihrer politischen Organisation durch die Zünfte schaffte sie im 14. und 15. Jahrhundert den Durchbruch vollends: Überall bestimmten Handwerker in Politik und Wirtschaftspolitik mit – in Zunftstädten mit Zunftregiment über die Zunft, in jenen ohne Zunftverfassung dank bürgerlichem Ratssitz. Überall galt ferner, dass jeder, der das Handwerk treiben wollte, die Zunft erwerben musste, die damit zur Zwangskorporation wurde.

Diese Entwicklung fand nur in der deutschsprachigen Schweiz statt, deren Handwerk von der Zunftbewegung in Deutschland entscheidend geprägt wurde, sodass dessen weiterer sozio-ökonomischer Werdegang ähnlich verlief wie nördlich des Rheins. Obwohl auch die Städte der West- und Südschweiz formell zum Reich gehörten, erlangten deren spätmittelalterliche religiöse Handwerkerbruderschaften weder wirtschaftliches noch politisches Gewicht. Erst im 16. Jahrhundert glichen sich die Stadtmeisterschaften (jurandes, maîtrises) von Genf, Lausanne und Neuenburg dem Vorbild der savoyisch-französischen und der eidgenössischen Städte an, doch blieb ihr politischer Einfluss gering.

Das Handwerk war in der Stadt nach den Kaufleuten bis in die Frühneuzeit die wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch wichtigste Kraft, zum Teil dank seiner Beziehung zur internationalen Zunftbewegung. Die führende Rolle und den innovativen Charakter büsste es aber im Lauf des Ancien Régime zunehmend ein; seine wirtschaftliche Stellung litt an den negativen Folgen der Handwerksregulierung. Erhalten blieb ihm jedoch in den meisten Orten bis 1798 seine Position als bestorganisierte Berufsgruppe, die ihre Anliegen auch bei den aristokratisch-patrizischen Regierungen durchzusetzen verstand.

Krisenbekämpfung und Regulierung

Die spätmittelalterliche Krise der Stadtwirtschaft, eine Folge des forcierten Aufbaus der städtischen Territorialstaaten, führte im Handwerk zum ersten markanten Einbruch. In den 1460er Jahren mehrten sich Zeichen der Depression und erwachender Konkurrenzangst: Die Handwerker in Luzern (1463/1471), Zürich (1460er Jahre), Bern (1464/1467) und Freiburg (1505) versuchten, über Ratsdekrete das bisher nicht beachtete Landhandwerk und die Märkte auf dem Land abzuschaffen, um sich das handwerklich-gewerbliche Monopol zu sichern. Die stadtbezogene Gewerbepolitik blieb ohne Wirkung; in Zürich ging sie 1489 im Waldmannhandel unter. Nachhaltiger war der Einfluss sozialer Spannungen im Stadthandwerk selbst, gab es doch neben florierenden Grossbetrieben mit vielen Gesellen, Lehrlingen und Hilfskräften die unter Auftragsmangel leidenden «armen» Meister. Sie sahen in der kumulierten Gewerbe- und Handelstätigkeit der «reichen» Meister die Wurzel ihrer Armut und Rettung nur in der «gerechten», d.h. gleichen Verteilung von Bürgerlasten, Arbeit und Einkommen. Ihre Forderung nach einer «gerechten» Wirtschaftsordnung orientierte sich an religiös-sozialen Bewegungen in den Reichsstädten. Da wie dort erwuchs dem Handwerk daraus die zwangswirtschaftliche Regulierung (Zunftwirtschaft).

Die neue Wirtschaftsform wurde in Etappen nach dem Vorbild der Städte am Rhein verwirklicht. Basel, Zürich und Luzern gingen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts voran, die übrigen Zunft- und patrizischen Städte folgten im 16. und 17. Jahrhundert nach. Die einzelnen Regulative kamen bei wirtschaftlichen Einbrüchen auf – vor allem in den Rezessionen nach 1460, in den 1560er bis 1580er Jahren und ab 1690; nach dem Abflauen der Krisen blieben sie bestehen. Gegen die mittelalterliche Gewerbefreiheit gerichtet, nahmen sie dem Handwerker sukzessive die unternehmerische Freiheit. Darunter fiel das Verbot, Handwerk (Kleines Gewerbe) und Handel (Grosses Gewerbe) zu kombinieren (erstmals Basel 1491): Händler durften nicht produzieren, Handwerker nur ihre eigenen Erzeugnisse verkaufen. Hinzu kamen Verbote der Geschäftsgemeinschaft im Kleinhandel und der Werkstattgemeinschaft zweier Meister (auch Vater und Sohn), im 16. und 17. Jahrhundert der Zwang zum Kleinbetrieb mit drei bis vier Stühlen (Arbeitsplätzen) oder die Beschränkung der Werkstoffe (Getreide in der Bäckerei, Schlachttiere in der Metzgerei, Lohebäder oder Häute in der Gerberei). Den einzelnen Berufen war der Tätigkeitsbereich fest zugeschrieben, um Konkurrenz auszuschalten. Aus der Unterbindung des Wettbewerbs folgte die Privilegierung des zünftigen Meisters und die Verfolgung jeder anders gearteten Konkurrenz (nichtzünftige Fremde, Landhandwerker, Krämer mit Handwerksware). Die etablierten Meister erliessen im Auftrag der Obrigkeit Qualitätsvorschriften und kontrollierten die Produkte. Festsetzung und Überwachung der Preise und Löhne blieben dagegen Sache der Obrigkeit. Vom 16. bis 17. Jahrhundert an verfügte jeder Handwerkszweig über ein vom Rat bestätigtes Berufsreglement, die Handwerksordnung.

In der Westschweiz kamen erst im 16. Jahrhundert Zünfte und geregelte Stadthandwerke auf, in Genf auf obrigkeitlichen Druck und unter dem Einfluss der hugenottischen Flüchtlinge, in Neuenburg und Lausanne nach dem Vorbild der Deutschschweizer Städte. Insgesamt bleibt das Handwerk der Westschweiz wenig bekannt, weil sich die bisherige Geschichtsforschung vor allem auf exportorientierte Zweige wie Textilgewerbe, Uhrmacherei und Kunsthandwerke in Genf, auf Bergbau und Verhüttung in Neuenburg konzentrierte, die eher der Manufaktur und Industrie als dem Handwerk zuzuordnen sind. In der Südschweiz entwickelten sich zwar Handwerke von europäischem Ruf (v.a. Baumeister, Maurer, Steinhauer, Stuckateure usw.), die indes, zum Teil mangels einheimischer Aufträge, zum Teil aus freien Stücken migrierend, vor allem im Ausland arbeiteten (Maestranze) und sich dort zünftig organisierten (z.B. im 16. Jahrhundert lombardisch-schweizerische Bruderschaften der Bauhandwerker in ganz Europa). Das einheimische Tessiner Handwerk blieb dagegen weitgehend unreguliert.

Der Schuhmacher. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Der Schuhmacher. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Der Schneider. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Der Schneider. Holzschnitt aus dem Ständebuch von Jost Ammann, 1568 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Sicher ist, dass Regulierung die «gerechte Ordnung» nicht erzwingen konnte. Im Ancien Régime gab es nach wie vor reiche und arme Meister, gewinnbringende Handwerke wie Eisenwerker, Kürschner, Gerber, Färber (Färberei) und Müller, die sich den Handel mit Rohstoffen bewahrt hatten, und überfüllte «arme» wie Schneider, Schuhmacher, Schreiner, Zimmerleute, Seiler und Weber. Die neuen Massnahmen gaben dem Handwerk vorerst zwar Auftrieb (Haussen unter anderem in den 1620er bis 1640er und 1660er bis 1670er Jahren), doch das Handelsverbot und der erzwungene Kleinbetrieb verhinderten den betrieblichen Wandel und führten im 16. und 17. Jahrhundert dazu, dass neue Betriebsformen wie Manufaktur und textiler Verlag (Verlagssystem) ausserhalb und letztlich in Konkurrenz zum Handwerk entstehen mussten.

Die Handwerksordnung konnte nicht verhindern, dass sich bei stetem Wandel von Technik und Gesellschaft die Berufsstruktur änderte. Berufe des mittelalterlichen Waffenhandwerks wie Armbruster, Bogner und Harnischer sahen sich im 15. und 16. Jahrhundert durch Büchsenschmiede, Schäfter und Stückgiesser verdrängt. Vom 16. Jahrhundert an waren Papierer gefragt, Permenter (Pergamenthersteller) nicht mehr. Das Bevölkerungswachstum und die steigende Nachfrage brachten im 17. Jahrhundert neue Berufe. Sie kamen in der Stadt auf, siedelten sich aber bald auch im Dorf an wie Knopf- und Kammmacher, Hosen- und Strumpfstricker (Lismer), Nepper, Nagler, Perückenmacher, Buchbinder, Uhrmacher und Orgelbauer.

Die Handwerksausbildung

Gesellenbrief für einen 29-jährigen Augsburger, der während 23 Wochen bei einem Schreinermeister in Aarau gearbeitet hatte (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Gesellenbrief für einen 29-jährigen Augsburger, der während 23 Wochen bei einem Schreinermeister in Aarau gearbeitet hatte (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Die Ausbildung durch die Lehre und auf der Wanderschaft wurde in der Handwerksordnung nach dem Reichsbrauch geregelt, ab Ende des 15. Jahrhunderts bei Sattlern, Kesslern, Hafnern und ähnlichen Berufen, im 16. Jahrhundert generell. Träger der Ausbildung waren die Korporationen (Meisterschaften). Der Lehre ging die Probezeit voraus, danach wurde der Lehrling vor der Meisterschaft offiziell zur Lehre «aufgedingt». Nach der Lehre sprach ihn sein Meister vor demselben Gremium «los» und entliess ihn als Gesellen in die Wanderschaft. Die Handwerksordnung regelte die 2-4-jährige Lehre generell; Einzelheiten (Lehrgeld, -dauer, Kost und Logis beim Meister) überliess sie dem privaten Lehrvertrag (Akkord). Die mehrjährige Wanderschaft der Gesellen wurde erst im 17. Jahrhundert Bedingung für die Aufnahme in die Meisterschaft, die allein die selbstständige Berufsausübung erlaubte. Nicht alle Berufe schrieben Meisterstück und -prüfung vor.

Der Ausbildungszwang diente dazu, die Konkurrenz zu beschränken. In Krisenzeiten reduzierte das Handwerk seinen Nachwuchs (ein Lehrling pro Werkstatt, Stillstand der Meister), verlängerte und verteuerte die Ausbildung und erschwerte die Aufnahme in den Meisterstand. Es bevorzugte Meisterssöhne bei der Zulassung zum Beruf und schloss missliebige Leute ganz aus (Unehrliche, d.h. Söhne von Vätern aus unehrlichen Berufen, und Illegitime).

Betriebsformen im Handwerk

PreiswerkProduktion von Handwerksartikeln in der eigenen Werkstatt aus den vom Meister eingekauften Rohstoffen; Verkauf durch den Meister in der Werkstatt oder auf dem Markt
LohnwerkProduktion von Handwerksartikeln in der eigenen Werkstatt auf Bestellung und aus den vom Kunden gelieferten Rohstoffen
Kunden- oder StörhandwerkProduktion von Handwerksartikeln im Hause des Kunden aus den vom Meister mitgebrachten oder vom Kunden zur Verfügung gestellten Rohstoffen
Betriebsformen im Handwerk -  Anne-Marie Dubler

Formen der Entlöhnung im Handwerk

TaglohnEntlöhnung nach aufgewendetem Tagewerk; das Bauhandwerk hat mit saisonal unterschiedlichen Arbeitszeiten grössere Sommer-, kleinere Winterlöhne.
Grosser TaglohnBargeldlohn ohne Verpflegung
Kleiner TaglohnNaturalleistung von drei Mahlzeiten und (kleiner) Bargeldlohn im Störhandwerk; die Höhe des Bargeldlohns richtet sich danach, ob das Rohmaterial vom Meister oder Kunden stammt.
StücklohnDer Kunde bezahlt die Fertigware auf der Basis eines verabredeten Preises, der einberechnet, wer das Rohmaterial liefert. Die Akkordarbeit, in der vom 17. bis 18. Jahrhundert Gesellen oder Stückwerker produzierten, wurde von den Zünften teils verboten.
Formen der Entlöhnung im Handwerk -  Anne-Marie Dubler

Das Landhandwerk

Im Spätmittelalter gab es auf dem Land ausser dem Hausfleiss der Bauern, dem ehaften Gewerbe (Ehaften) und einigen überregional organisierten Handwerken (z.B. Hafner, Kessler, Sattler) wenig selbstständige Handwerker. Immerhin erscheinen in städtischen Gesellenlisten des 15. Jahrhunderts auch solche aus Dörfern. Noch verstand sich das Landhandwerk aber nicht als Berufsstand. Bei wachsender Bevölkerung machten im 16. Jahrhundert Bauernsöhne ohne eigenen Hof früher nebenher betriebene Tätigkeiten zum Haupterwerb. Zulauf hatten Berufe wie Schneider, Schuhmacher, Bauhandwerker und Weber; aber auch Schmiede, Seiler, Wagner, Sattler und Küfer gab es nach 1550 schon in vielen Dörfern. In der Wirtschaftsrezession der 1560er bis 1580er Jahre forderten die Landhandwerker wie vor ihnen die Stadtmeister obrigkeitlichen Konkurrenzschutz; ihre berufliche Organisation schien bevorzustehen.

Landzünfte entstanden indes nur in den Landschaften von Bern, Luzern, Solothurn, im südlichen Aargau, in den Innerschweizer Flecken, später auch in der Ostschweiz und der Basler Landschaft, nicht aber in der West- und Südschweiz. Zunftstädte wie Zürich und Schaffhausen unterbanden die Organisation der Dorfhandwerker zugunsten des städtischen Monopols. Landmeister konnten sich aber in einer Stadtzunft inkorporieren. Dagegen förderten patrizische Orte wie Bern und Luzern die Bildung von Landzünften, die meist die Handwerksordnung der Stadtzunft übernahmen. Trotz Unterschieden stimmte die Situation aller ländlichen Gebiete, auch der West- und Südschweiz, im Folgenden überein: Es gab die organisierten Landmeister, für die zünftige Normen (geregelte Ausbildung, Werkstattbetrieb, Konkurrenzschutz) nach städtischem Vorbild galten. Daneben gab es die nichtorganisierten, ebenfalls ausgebildeten Handwerker (Gesellen mit eigener Werkstatt) sowie die nur angelernten oder autodidaktischen «Stümper» (Fretter, Pfuscher). Das Land unterschied sich somit grundsätzlich von der Stadt, die auf Stadtgebiet nur Zünftige duldete. Die Stümper waren Tauner, die bei den Bauern doppelberuflich als landwirtschaftliche und handwerkliche Taglöhner arbeiteten; sie waren billig und verrichteten vor allem Flickarbeit. Von Stadt- und Landmeistern schikaniert und von der Kundschaft unterbezahlt, konnte sich das Stümperhandwerk dank nie versiegender Aufträge gleichwohl halten. Zu den Stümpern zählten auch viele Landweber, die im 16. bis 18. Jahrhundert Heimarbeit für Verleger leisteten.

Bezüglich der Erwerbsstruktur herrschte auf dem Land Übereinstimmung: Handwerker, ob ausgebildete oder nur angelernte, konnten sich mit handwerklicher Tätigkeit allein nicht ernähren, sondern waren auf Zusatzerwerb angewiesen. Als «Gartenbauern» auf eigenem Anwesen (Haus/-anteil, Garten, Acker) mit Nutzungsrechten an der Allmend (Holz, Weide, Pflanzland) waren sie ganz oder zum Teil Selbstversorger. Auf dieser traditionell agrarischen Absicherung des Landhandwerks basierten tiefere obrigkeitliche Preis- und Lohntarife. Agrarisch abgestützter Mischerwerb war auch bei Ehaftenbesitzern (v.a. Müller, Wirte, Schmiede) die Regel, die mit tarifierten Löhnen und Preisen vor allem aus dem Rohstoffhandel (Getreide, Wein, Eisen) und vom Ertrag ihres zum Teil grossen Landbesitzes lebten.

Ebenso traditionell dominierte auf dem Land eine im Stadthandwerk verbotene Betriebsform: der Kundendienst (Störarbeit) der Handwerker in Haus und Hof des Kunden zum «kleinen Taglohn». Die Landbewohner waren dem Werkstattbetrieb der zunfttreuen Dorfmeister generell abgeneigt. Unzufriedenheit mit diesen war im 17. Jahrhundert verbreitet: Das Emmental erwirkte 1644 die zeitweise Abschaffung der Landzünfte und die Zürcher Landbevölkerung in den 1650er Jahren den teilweisen Widerruf der Privilegien für Landmeister. Die Zunft duldete schliesslich Störarbeit beim Landhandwerk weitgehend. Dagegen setzten die «bürgerlichen» Handwerke (Zinngiesser, Kürschner, Weissgerber, Gold- und Silberschmiede, Maler, Bildhauer, Glaser, Glasmaler) im Territorium der Zunft- und Patrizierstädte ihr städtisches Monopol durch und blockierten den Rohstoffexport aufs Land. Empörung über die Unterdrückung des Landhandwerks durch die Stadt manifestierte sich unter anderem in den Schaffhauser Dörfern 1790 und am Zürichsee 1794.

Handwerk als Männerdomäne, die Rolle der Frauen

Anders als der Bauernstand, wo die grundherrliche Leihe auch Frauen zur Hofführung berechtigte, entwickelte sich das Stadthandwerk in Europa zur frauenfeindlichen Männerdomäne. In der mittelalterlichen Stadt waren Frauen anfangs im Textil-, Leder- und Pelzhandwerk zugelassen, doch zu Ende des Spätmittelalters wurden sie daraus verdrängt. Die Zunft schrieb das alleinige Recht des Mannes in der Meisterschaft fest. In den Werkstätten gab es offiziell nur Männer (Meister, Gesellen, Lehrlinge). Mit Ausnahme der Weberei bildete das Handwerk nur Männer aus. Handwerksrecht sah Frauenarbeit nur beim Tod des Meisters vor. Die Witwe durfte die Werkstätte bis zur Übernahme durch den Sohn führen. Ihre Rolle beschränkte sich damit auf die Erhaltung des männlichen Vorrechts im Beruf.

Als die gedrückten obrigkeitlich tarifierten Preise und Löhne ab der Krise der 1690er Jahre zur schleichenden Verarmung im Handwerkerstand führten, stiegen städtische Handwerker zahlreich in die untere Mittel- und Unterschicht ab. Viele Landhandwerker stellten sich kaum besser als Tauner und Stümper. Solchermassen schien im 18. Jahrhundert sogar der normierte Kleinbetrieb mit drei bis vier Stühlen überholt. Fremde Gesellen begannen selbst in städtischen Werkstätten zu fehlen. Allerdings waren diese deswegen noch lange nicht Einmeisterbetriebe. Handwerksordnungen verschweigen die Mitarbeit der Ehefrau und Kinder. Knaben und Mädchen leisteten die Arbeit von Lehrlingen und Gesellen. In den «armen» Handwerken war die Werkstatt zum kostensparenden Familienbetrieb geworden ohne fremde Gesellen, die einst die Internationalität des Handwerks verkörperten. Die Wanderlust des Spätmittelalters war im Ancien Régime grosser Unlust gewichen. Erst hatte die Reformation den Gesellen die freie Wahl des Wanderziels genommen, dann war es die Angst vor einsitzender fremder Konkurrenz, die sie zu Hause hielt. Nicht zuletzt wurden Söhne über Jahre als billige Arbeitskraft in Vaters Werkstatt ausgenützt, bis sie die Wanderschaft bei ihrer Zunft gegen eine Gebühr «ablösten», um endlich zur eigenen Werkstatt zu kommen. Auf Kinderarbeit angewiesen, lehrten die Meister auch ihre Töchter, allerdings ohne offiziellen Lehrlingsstatus. Nach des Vaters Tod war den Töchtern selbstständige Arbeit aber verboten. Berufstätige Ledige wurden von der Meisterschaft verfolgt und trotz Berufskenntnis ans Almosen verwiesen. Nur Weissnähen und Weben war Frauen erlaubt, wobei die Weber selbstständige Frauenarbeit zwar tolerierten, doch Frauen von der Zunft fernhielten.

Kampf um die Stadtarbeit: Existenzsorgen der Land- und Stadthandwerker im 18. Jahrhundert

Die Handwerksordnung forderte vom Landmeister die gleiche Ausbildung wie in der Stadt, doch zu tieferen Löhnen und Preisen bei schlechterer Auftragslage. Dies löste nach 1550 den Zug der Landmeister in die Stadt aus. Die Städte begannen sich vor der Zuwanderung zu verschliessen, erschwerten die Erwerbung des Bürgerrechts und schlossen dieses nach 1600 allmählich ganz. Diese Politik trug den Forderungen der städtischen Meisterschaften Rechnung, die vom Rat die Wegweisung von Konkurrenten verlangten, weil ihre Berufe überbelegt, die Auftragslage schlecht und die Zukunft der Söhne ungesichert seien. Vom Spätmittelalter an hatten die städtischen Meisterschaften ihre Bannmeile (Stadtbann) über die Stadtmauern hinaus erweitert und daraus die Landmeister verdrängt. Ab Ende des 16. Jahrhunderts liessen sich diese in den Dörfern im Umkreis von bis zu zwei Wegstunden um die Hauptstädte nieder, erpicht auf besser bezahlte «Stadtarbeit» für «Herren und Bürger». Zwar war ihnen verboten, in der Stadt nach Arbeit zu fragen und fertige Produkte hereinzutragen. Erlaubt waren aber Aufträge, die der Kunde in die Dorfwerkstatt trug. Der harte Konkurrenzkampf am Stadtrand spielte sich um die Landstädte mit bescheidener Oberschicht weniger oder gar nicht ab.

Die Stadtmeister drangsalierten die Landmeister mit städtischen Monopolen, doch litten auch sie ab Ende des 17. Jahrhunderts unter Auftragsmangel, gedrückten Preisen und schlechter Zahlungsmoral der Kunden und waren ebenso auf Zusatzerwerb angewiesen ― auf Ämtchen in der Stadtverwaltung (Sackträger, Nachtwächter, Weibel, Zöllner, Torhüter usw.) und auf kostenloses Pflanzland. Allerweltsberufe wie Schreiner, Seiler, Dachdecker und Wagner waren im 18. Jahrhundert praktisch nur noch von ärmlichen Hintersassen besetzt. Ohne Existenzsorgen waren höchstens «bürgerliche» Handwerke und Ehaftenbesitzer dank Handelsgewinn. Unter dem ökonomischen Druck wandelte sich im 18. Jahrhundert das Standesbewusstsein der zünftigen Meister zu Stadt und Land in einen auf Äusserlichkeiten gerichteten Standesdünkel.

Das Atelier von Bartholomäus Fehr in St. Gallen, um 1784. Aquarell von Gabriel Lory Père (Kunstmuseum Bern).
Das Atelier von Bartholomäus Fehr in St. Gallen, um 1784. Aquarell von Gabriel Lory Père (Kunstmuseum Bern). […]

Indessen ist der Eindruck vom «Niedergang des Handwerks» im Ancien Régime, provoziert durch unaufhörliches Klagen der Handwerkerschaft, falsch. Auf dem Land waren die nichtagrarischen Berufsleute (Professionisten), einschliesslich der Handwerker, Ende des 18. Jahrhunderts zahlreich vertreten – je nach regionaler Wirtschaftsstruktur mit 20-40% am Total der Erwerbstätigen (Zürcher Unterland 18%, Bernbiet 37%) – und hatten gesamtwirtschaftliches Gewicht. Auch wiesen viele Berufe, vor allem im Bau- und Kunsthandwerk, hohe Leistungen auf. Dagegen ist unverkennbar, dass die vielen Schutzmassnahmen im Handwerk dem Grossteil der Handwerkerschaft den Zugang zur modernen Wirtschaft verbauten.

Gewerbefreiheit contra Gewerbeordnung im 19. und 20. Jahrhundert

Die Helvetik proklamierte am 19. Oktober 1798 die Gewerbefreiheit und hob den Zunftzwang auf. Damit entfielen die Schutzbestimmungen von einem Tag auf den andern. Erstmals erlebten die Handwerker die ungebremste Konkurrenzsituation. Die meisten fühlten sich der neuen Freiheit nicht gewachsen und hatten nur den einen Wunsch, sich wieder einer zunftähnlichen Institution unterzuordnen. 1803 setzten Zürich, Basel, Schaffhausen und Solothurn die Zünfte erneut ein und gaben den Meistern die verlangte Ordnung. In der West- und Südschweiz erhielt sich die Gewerbefreiheit ganz, in den übrigen Kantonen weitgehend. Damit begann der lange, zähe Kampf um Gewerbefreiheit oder Berufsregulierung angesichts der fortschreitenden Industrialisierung der Schweiz.

Die Städte sahen sich nach 1800 vor einem bis dahin unbekannten Zudrang an Landmeistern und Ungelernten; die Stadtmeister wähnten sich unmittelbar vor dem «Verfall des Handwerks». Während sich Landmeister mit der neuen Situation abzufinden schienen, verhielten sich die Stadtmeisterschaften durchwegs reaktionär. In deutschschweizerischen Kantonen mit Gewerbefreiheit verlangten sie in zahlreichen Petitionen neue Handwerksordnungen sowie die Abschaffung der Handels- und Gewerbefreiheit und der Niederlassungsfreiheit. In dieser kontroversen Zeit entstanden in Luzern die Gewerbeordnung mit projektierten neuen Zwangskorporationen (1819/1824) und in Zürich das Gewerbegesetz neu mit «freien Gewerben» neben «geordneten» Handwerken (1832). Doch zunehmend stiessen die repressiven Forderungen der Handwerker bei Regierenden und in der Bevölkerung auf Ablehnung. Die politischen Umwälzungen der 1830er Jahre förderten den Fall der Zunftbastionen: Schaffhausen, Basel-Landschaft, Solothurn und Zürich führten die Gewerbefreiheit verfassungsmässig ein, Basel-Stadt folgte 1874. Damit endete die Vormacht des städtischen über das Landhandwerk; die Spannungen zwischen Stadt und Land bauten sich ab. Dennoch vergingen Jahre, bis Handwerkern Freizügigkeit über Kantonsgrenzen hinweg erlaubt war, zum Beispiel zwischen Zürich und Schaffhausen erst 1858.

Die in den 1830er und 1840er Jahren in verschiedenen Kantonen (ohne Süd- und Westschweiz) gegründeten, teils gemischtberuflichen lokalen Handwerks- und Gewerbevereine erstrebten eine Ordnung ohne Zunft, versteiften sich aber auf die Abschaffung der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit und riefen nach Schutzzöllen. Erst nach 1870 setzte im Handwerk ein Umdenken ein: Die Diskussion kreiste vor allem um eine verbesserte Berufsbildung. Mit der Verankerung der Gewerbefreiheit in der Bundesverfassung (BV) von 1874 erhielt dieser Prozess Auftrieb, die lange Wirtschaftskrise (1873-1895) beschleunigte ihn. Er umfasste schliesslich die politische Organisation, eine Ausbildungsreform und die Neuorientierung des ganzen Berufsstandes.

Plakat für eine Ausstellung im Hotel Freihof, 1946 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für eine Ausstellung im Hotel Freihof, 1946 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Da klar schien, dass das Handwerk der Industrie unterlegen war, sah Ersteres sich nach Partnern um und entschied sich zu schrittweisem Zusammengehen mit dem Gewerbe ― mit Detailhandel, Gastgewerbe, Berufen des Dienstleistungssektors und Zweigen der Industrie. Damit wurde die Gleichsetzung der Begriffe Handwerk und Gewerbe üblich, die während 300 Jahren Ungleiches (Handwerk = Produktion, Gewerbe = Handel) bedeutet hatten. Die Neuorientierung löste eine während Jahrzehnten anhaltende Gründungswelle von lokalen Berufsverbänden aus, neben freien Fachvereinen vor allem Selbsthilfeorganisationen (Einkaufs- und Handelsgenossenschaften, Treuhand-, Buchhaltungs- und Betriebsberatungsstellen, Ausgleichs- und Krankenkassen). Zugleich fand die Handwerkerausbildung zum dualen System mit paralleler Ausbildung an der Handwerker-Fortbildungsschule und im Betrieb, inzwischen ergänzt durch Einführungskurse (Obligatorium 1980) und Weiterbildung im Beruf (Meisterdiplom) oder an Fachhochschulen (Bundesgesetz von 1997).

Als Marksteine politischer Neuorientierung erwiesen sich die Gründungen des Schweizerischen Gewerbeverbandes 1879 und der kantonalen Gewerbeverbände als Dachorganisationen der lokalen Berufsverbände. Damit konnten sich Handwerk und Kleingewerbe neben den Verbänden der Arbeiter, Unternehmer und Landwirte in den politischen Gremien Gehör verschaffen. Die Hoffnung auf erneute berufsständische Zwangsorganisation und Wettbewerbsbeschränkung war indes nicht erloschen. Sie artikulierte sich in Krisen und bei absteigenden Berufen, so 1933-1935 mit dem Projekt einer berufsständischen Ordnung (Korporativismus) und 1954 mit dem Ruf nach staatlichem Schutz für Schuhmacher, Coiffeure, Sattler und Wagner mittels des obligatorischen Fähigkeitsausweises. Dieser ordnungspolitische Vorstoss wurde durch Volksentscheid zu Fall gebracht.

Gewerbefreiheit im schweizerischen Handwerk ist nicht selbstverständlich. Jahrhundertelang hatte sich dieses an die im Reich üblichen Bräuche und gewerblichen Vorschriften gehalten. Erst im 19. Jahrhundert trennten sich die Wege: Während sich die organisierte Handwerkerschaft Deutschlands seit den 1870er Jahren schrittweise die Restauration von Korporationen und Konkurrenzschutz erkämpfte, blieb das Handwerk in der Schweiz dereguliert, ohne Konkurrenzschutz, ohne Zwangsorganisation, ohne Beschränkung der selbstständigen Berufsausübung (kein Meisterzwang) und der Tätigkeitsbereiche im Beruf.

Handwerk im Zeichen der Industrialisierung und des Strukturwandels

Nach 1800 fand der Konkurrenzkampf noch im Handwerk selbst zwischen Stadt- und Landmeistern, Ausgebildeten und Stümpern statt. Manufaktur, textile Verlagsindustrie und erste Fabriken waren auf Fernabsatz eingestellt und bedeuteten keine Gefahr. Erst in den 1820er Jahren zeichnete sich das Revolutionäre am neuen Produktionssystem ab: Die Maschine machte die Fabrik weit leistungsstärker, ihre Produkte billiger und modischer. Nur sie und nicht das langsam, in kleiner Stückzahl arbeitende Handwerk war imstande, den Massenbedarf der schnell wachsenden Bevölkerung zu decken. Die steigende Nachfrage nach Fabrikware führte daher immer mehr Artikel der maschinellen Produktion zu und entzog sie dem Handwerk. Nach 1850 schwand dessen wirtschaftliche Stellung im gleichen Tempo, wie sich die Industrie ausbreitete. Die technische Entwicklung machte Berufe überflüssig: Fabriziertes Porzellan verdrängte das Zinngeschirr des Zinngiessers und Drahttaue die Ware der Seiler. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der Detailhandel als effizientes Verteilsystem nicht nur schnell in der Stadt, sondern auch auf dem Dorf. Das immer breitere Angebot der Ladengeschäfte an Glas-, Eisen-, Steingut-, Ton-, Bett- und Papeteriewaren, an Schuhen und Konfektionskleidern bewirkte einen Auftragsrückgang und Arbeitslosigkeit unter Handwerkern. Die handwerkliche Produktion ging zurück und der Handwerkeranteil am Total der Bevölkerung sank (1888 10,7%, 1920 8,4%).

Nagelschmiede in einem Familienbetrieb in Obersulz (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne).
Nagelschmiede in einem Familienbetrieb in Obersulz (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne). […]

Während der allgemeinen Wirtschaftskrise ab 1873 litt das Handwerk so sehr unter Auftragsmangel, dass der Untergang dieser Betriebsform voraussehbar schien. Doch dann folgte um 1895 der Wirtschaftsaufschwung. Er löste den längst fälligen Strukturwandel im Handwerk aus: Berufe verschwanden (z.B. Seifensieder, Kammmacher, Nagelschmied, Bierbrauer), wurden von der Industrie aufgesogen oder zu Flickberufen (u.a. Schuhmacher, Uhrmacher). Andererseits entstanden laufend neue gewerbliche Berufe, viele in der Industrie und im Dienstleistungssektor wie Karosseriebauer, Installateur, Elektriker, Monteur, Garagist, Velomechaniker, Radioelektriker, Fotograf, Drogist.

Das Baugewerbe und das Gastgewerbe (Hotellerie) entwickelten sich zu grossen Branchen. Nur langsam änderte sich die Betriebsgrösse: Noch Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte im Gewerbe der Kleinbetrieb (bis neun Beschäftigte) mit 95% aller Betriebe, darunter knapp die Hälfte Einmeisterbetriebe, und nur 47% aller Beschäftigten (1905). Bis 1929 sank die Zahl der Kleinbetriebe und die der Beschäftigten stieg. Damit kletterte die durchschnittliche Betriebsgrösse von vier (1905) auf sechs Personen (1929), eine Strukturveränderung, die vor allem zu Lasten der ärmlichen Einzelbetriebe und des Detailhandels ging. Der Trend zu grösseren Betrieben kam in der Krise der 1930er Jahre zum Stillstand. Schneller setzte sich dagegen die Mechanisierung durch: 1905 arbeiteten 11% der Betriebe mit (Elektro-)Motoren, 1939 waren es 59%.

Betriebe und Beschäftigte in Gewerbe und Industrie 1905-1995a

 190519291955b1965b1975b1995b
Betriebe total 201  218  253  248  263  288 
davon Kleinbetriebec19195% 17179%22689% 21185%22585% 23882%
davon Einzelbetriebe     9638% 7731% 8231% 10336%
Beschäftigte total 846 1 261 1 799 2 368 2 366 2 900 
davon im Kleinbetrieb39847%56545%55331%57524%62126% 83329%

a Anzahl in Tausend (gerundet)

b Sektoren 2 und 3, ohne öffentl. Verwaltung

c 1-9 Personen

Betriebe und Beschäftigte in Gewerbe und Industrie 1905-1995 -  Das Gewerbe in der Schweiz, 1979, S. 14, 278; Betriebszählung 1995

Die Hochkonjunktur nach 1950 verlieh dem Gewerbe ― Handwerks-, Kleinhandels- und Gewerbebetrieben ― einen ungeahnten Aufschwung und öffnete den Weg zur Frauenerwerbsarbeit im Handwerk und zu vielfältigem Wandel bezüglich Betriebsgrösse und Technisierung, was zum bekannten fliessenden Übergang vom Handwerks- oder Gewerbe- zum Fabrikbetrieb und Grossverteiler führte. Da es in der Schweiz keine Definition von Gewerbe gibt und die Statistik handwerklich-gewerbliche und industrielle Arbeitsstätten zusammenfasst, lässt sich der Wandel nur tendenziell darstellen. Nach 1950 wuchs die durchschnittliche Betriebsgrösse mit Einbrüchen in den 1970er und Anfang der 1990er Jahre (1955 7 Personen/Betrieb, 1965 9,5, 1975 9, 1985 11, 1991 8, 1995 10). Der Anteil an Kleinbetrieben mit dem meisten Gewerbe nahm zwischen 1955 und 1995 ab (u.a. «Lädelisterben"), wobei die Einzelbetriebe nach 1985 in einer Trendwende erneut zunahmen. Im Trend lag anfangs auch die sinkende Zahl der beschäftigten Männer und Frauen in Kleinbetrieben; sie stieg aber bereits in den 1970er Jahren wieder an. Da sich Handwerksberufe heute auf Gewerbe, Industrie und Dienstleistung verteilen, partizipieren sie ebenso am allgemeinen Rückgang der Produktion wie am Wachstum des Dienstleistungssektors.

Spätestens ab 1950 führte das Handwerk in der Schweiz kein Sonderdasein mehr. Wie in der Industrie und im Dienstleistungsbereich entscheiden ständiger Strukturwandel und Anpassung an den technischen Fortschritt über den wirtschaftlichen Erfolg des einzelnen Unternehmens.

Quellen und Literatur

  • H. Bauer, Von der Zunftverfassung zur Gewerbefreiheit in der Schweiz 1798 bis 1874, 1929
  • M. Graf-Fuchs, Das Gewerbe und sein Recht in der Landschaft Bern bis 1798, 1940
  • P. Scheuermeier, Bauernwerk in Italien, der ital. und rätorom. Schweiz, 2 Bde., 1943-56
  • Arte e tradizione popolare del Ticino, hg. von V. Gilardoni, Ausstellungskat. Locarno, 1954
  • H.C. Peyer, «Wollgewerbe, Viehzucht, Solddienst und Bevölkerungsentwicklung in Stadt und Landschaft Freiburg i.Ue. vom 14. bis 16. Jh.», in Agrar. Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im SpätMA und 19./20. Jh., hg. von H. Kellenbenz, 1975, 79-95
  • Das Gewerbe in der Schweiz, 1979, (franz. 1979)
  • A.-M. Dubler, Handwerk, Gewerbe und Zunft in Stadt und Landschaft Luzern, 1982
  • T. Meier, Handwerk, Hauswerk, Heimarbeit, 1986
  • L. Mottu-Weber, Economie et Refuge à Genève au siècle de la Réforme, 1987
  • A.-M. Piuz, L. Mottu-Weber, L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime, 1990
  • Handwerk zwischen Idealbild und Wirklichkeit, hg. von P. Hugger, 1991
  • Handwerksgesch., hg. von A.-M. Dubler, 1993
  • D. Georges, Handwerks- und Interessenpolitik, 1993
  • A.-M. Dubler, «Das Handwerk in der Stadt und auf dem Land und seine Zünfte», in Berns mächtige Zeit, hg. von A. Holenstein, 2006, 424-429
  • H. U. Wipf, «Schaffhauser Stadt- und Landhandwerk zur Zeit des Zunftregimes», in Schaffhauser Beiträge zur Geschichte 84, 2010, 133-204
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Handwerk", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.01.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013954/2018-01-25/, konsultiert am 19.03.2024.