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Milchwirtschaft

Käseherstellung in einer Alphütte auf dem Trüschhubel im Emmental. Aquarell eines unbekannten Künstlers, 1805 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Käseherstellung in einer Alphütte auf dem Trüschhubel im Emmental. Aquarell eines unbekannten Künstlers, 1805 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Unter Milchwirtschaft wird Erzeugung und Handel von Milch (v.a. Kuhmilch) und Milchprodukten wie Butter, Käse, Joghurt, Sauermilch, seit der Industrialisierung auch Kondensmilch und Trockenmilch (Milchpulver), verstanden. Während die Milchwirtschaft im Voralpen- und Alpenraum schon im Spätmittelalter kommerzialisiert wurde, stand sie im Mittelland bis zur Agrarmodernisierung primär im Dienste der Selbstversorgung. Erst vom ausgehenden 19. Jahrhundert an entwickelte sie sich zu einem Hauptzweig der Landwirtschaft in allen Landesteilen und blieb es bis heute. In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat die Zahl der Milchproduzenten wegen des Milchpreisrückgangs allerdings stark abgenommen.

Mittelalter und Frühneuzeit

Die Geschichte der Milchwirtschaft begann mit der Domestikation von Schaf, Ziege und Hausrind im Neolithikum. Die germanischen Völker verarbeiteten die Milch auch zu Butter. Die Technik der Käseherstellung wurde im Alpenraum wohl von den Kelten eingeführt, die sie möglicherweise von den Römern übernommen hatten. In der mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft hatten neben dem Rindvieh Ziegen und Schafe grosse Bedeutung. Molkenprodukte aus den Alpen wurden in den klösterlichen Haushalten konsumiert. Vom Spätmittelalter an spezialisierte sich der Voralpen- und Alpenraum auf Grossviehhaltung und produzierte hauptsächlich Käse und Ziger. Das Mittelland betrieb schwergewichtig Getreidebau, nebst Konsummilch- und Butterproduktion. Die Ausbreitung der Labkäserei gegen Ende des Mittelalters erhöhte Qualität und Transportfähigkeit der Käse und steigerte den Handel. Die wichtigsten Produktionsgebiete waren das Greyerzerland und das Emmental mit den noch heute bekannten Sorten, das Berner Oberland mit Sbrinz oder Spalenkäse, Appenzell mit Fettkäse und magerem Rässkäse. Daneben gab es Spezialitäten wie Bellelaykäse, Schwyzer Käse, Ursner Fettkäse und Glarner Schabziger. In der frühen Neuzeit versuchten die städtischen Obrigkeiten öfters, Käse- und Butterausfuhr aus Angst vor einer Unterversorgung der Städte zu verbieten. Im 18. Jahrhundert erhöhte sich die Milchproduktion auch im Flachland und in den Heimindustriegebieten des Juras, weshalb die städtischen Marktvorschriften gelockert wurden. Unter dem Einfluss patrizischer und grossbäuerlicher Kräfte wurden die Sennereien technisch und betrieblich modernisiert, in erster Linie im Greyerzerland und im Emmental, zum Teil auch im Pays-d'Enhaut, im Saanenland und im Entlebuch. In Uri, Schwyz und Glarus, wo die Viehwirtschaft dominierte, und in den inneralpinen Tälern mit retardierender Subsistenzwirtschaft, blieb die Milchwirtschaft eher rückständig. Käsehändlerdynastien und ab dem 18. Jahrhundert Kaufleute aus der Bankbranche und der Textilindustrie mit weitreichenden Handelsbeziehungen begannen, den lukrativen Handel mit Milchprodukten zu bestimmen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fanden Schweizer Käse und Ziger nicht nur in der ganzen Eidgenossenschaft, sondern auch in den meisten europäischen Ländern, in Nordafrika und in den USA Absatz.

Vom 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts

In einer Käserei in Frauenkappelen wird der Käse mit Salzlake behandelt. Fotografie von Paul Senn, um 1930 (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.
In einer Käserei in Frauenkappelen wird der Käse mit Salzlake behandelt. Fotografie von Paul Senn, um 1930 (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unter dem Einfluss ökonomischer Gesellschaften und fortschrittlicher Patrizier sowie als Folge der helvetischen Politik 1798-1803, wurde der Boden von Feudallasten befreit, das Gemeinland weiter aufgelöst und der Flurzwang aufgehoben. Die Bewirtschaftung intensivierte sich durch die verbesserte Dreizelgenwirtschaft, den Futterpflanzenanbau, die Stallfütterung und die intensivere Düngung. Der Viehbestand wurde grösser und die Milchproduktion stieg an. Die Käserei dehnte sich von den Alpen in die Täler und ins Mittelland aus. Von der Westschweiz ausgehend entstanden bis 1847 gegen 380 meist genossenschaftliche Talkäsereien, die bald den Ganzjahresbetrieb aufnahmen. Die lang dauernde Diskussion, ob der im Tal produzierte Käse dem Alpkäse ebenbürtig sei, verebbte nach 1850. Der Milchkonsum in den wachsenden Städten nahm zu. Ihre Versorgung wurde durch zahlreiche Milchmädchen und Selbstausmesser gewährleistet; später übernahmen diese Aufgabe immer häufiger die grossen Zentralmolkereien (Molkerei, Milchzentralen) und Konsumvereine.

Werbeplakat für sterilisierte Dosenmilch («Frische Alpenmilch in den Tropen»), gestaltet von Eric de Coulon, 1937 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Werbeplakat für sterilisierte Dosenmilch («Frische Alpenmilch in den Tropen»), gestaltet von Eric de Coulon, 1937 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Der Ausbau der Dampfschiff- und Eisenbahnnetze führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem massiven Anstieg der Getreideimporte und damit zu einem Preiszerfall, was die Ackerbaufläche schrumpfen liess und die Umstellung auf Vieh- und Milchwirtschaft zusätzlich förderte. Die Mehrproduktion an Käse, vor allem Emmentaler, aber auch Greyerzer und Sbrinz, wurde in steigenden Mengen in die umliegenden europäischen Staaten und vermehrt in die USA exportiert. Ab 1867, ausgehend von Cham und Vevey, setzte in zahlreichen Milchsiedereien die Herstellung von Kondensmilch und Kindermehl ein, deren Exportmengen bis zum Ersten Weltkrieg sprunghaft zunahmen, in der Zwischenkriegszeit aber weitgehend zusammenbrachen. Auch die Fabrikation von Schokolade beanspruchte wachsende Milchmengen.

Die Käsehändler schlossen sich 1896 im Verband Schweizerischer Käseexporteure zusammen. Für die Qualitätsverbesserung der Milchprodukte setzten sich der 1863 gegründete Schweizerische alpwirtschaftliche Verein und der 1887 gegründete Schweizerische milchwirtschaftliche Verein ein. Zahlreiche Molkereischulen und Versuchsanstalten, Wandervorträge, Inspektionen und die Milchkontrolle dienten dem gleichen Zweck. Für die kleineren und mittleren Produzenten war die Milchproduktion oft besonders wichtig, weil sie die einzige regelmässige Einkommensquelle darstellte. Die lokalen Milchverwertungsgenossenschaften, von denen um 1910 über 2800 gezählt wurden, schlossen sich zur Verbesserung ihrer Wirtschaftssituation um die Jahrhundertwende zu regionalen Verbänden zusammen, aus welchen 1907 der Zentralverband Schweizerischer Milchproduzenten ZVSM (seit 1999 Schweizer Milchproduzenten) hervorging. Um selbst aktiv in Handel und Preisbildung eingreifen zu können und die Abhängigkeit der Milchproduzenten von den Milchkäufern und vor allem vom Käsehandel zu lockern, entwickelte sich auf regionaler Ebene eine vielfältige Tätigkeit in der Vermarktung und technischen Verarbeitung der Milch. Der ZVSM beispielsweise schuf 1911 die Emmental AG, die sich zur grössten Käsehandelsfirma der Schweiz entwickelte. Zur Bewältigung der kriegswirtschaftlichen Probleme 1914-1918 verbanden sich Milchproduzenten und Käsehandel und gründeten in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat die Schweizerische Käseunion, welche die Landesversorgung und den Handel mit Käse gewährleistete. Für die Sicherstellung der Butterversorgung und die Regelung des Buttermarktes entstanden in den Kriegsjahren regionale Butterzentralen, aus welchen 1920 die Schweizerische Butterzentrale und 1932 die Butyra hervorgingen. Nach der Aufhebung fast aller kriegswirtschaftlichen Massnahmen im Frühjahr 1920 stellte sich durch den Rückgang des im Krieg zwangsweise ausgedehnten Ackerbaus und durch grosse Importe billiger Milchprodukte eine dauernde Absatzkrise ein, was 1922 einen massiven Sturz des Milchpreises bewirkte. Den Verbänden wurden erneut parastaatliche Funktionen übertragen. Zusammen mit den Behörden versuchten sie, in der Zwischenkriegszeit die Absatz- und im Zweiten Weltkrieg die Versorgungsprobleme mit Lenkungsmassnahmen und straffer Zusammenarbeit aller milchwirtschaftlichen Partner zu meistern. In den 1930er Jahren wirkten die Milchverbände bei der Kontingentierung der Produktion, im Zweiten Weltkrieg bei der Rationierung von Milch, Käse, Butter und Rahm mit.

In der Nachkriegszeit wurden in verschiedenen Milchwirtschaftsbeschlüssen Preisgestaltung und Vermarktung der wichtigsten Milchprodukte geregelt. Die Rationalisierung der Milchproduktion führte trotz eines massiven Rückgangs der Zahl der Produzenten zur Ausdehnung der Milchmenge. Die mit dem Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung einhergehende Abnahme des Eigenkonsums, die Intensivierung der Bodennutzung, die Verbesserung der Viehzucht und ab den 1960er Jahren vor allem die Futtermittelimporte und der Einsatz von Milchersatzmitteln in der Kälbermast und Kälberaufzucht führten zu einer Steigerung der Verkehrsmilchproduktion, sodass in den 1950er Jahren wieder staatliche Beiträge an die Verwertungskosten nötig wurden. Ende der 1960er Jahre nahmen die Verwertungskosten noch einmal stark zu, weil es trotz der Freigabe des Verkaufs von pasteurisierter Milch durch die Grossverteiler nicht gelang, den Milchkonsum mit den wachsenden Realeinkommen der Konsumenten zu steigern. Die Zolleinnahmen auf Butterimporten gingen stark zurück, da im Inland mehr Butter produziert werden musste, weil die billigeren tierischen Fette in der Produktion der Milchersatzmittel das Milchfett zunehmend verdrängten.

Trotz heftiger Opposition hielten Behörden und Milchverbände an der Politik der Rationalisierung in der Milchviehhaltung fest. Die von Teilen der bäuerlichen Basis vorgeschlagene Begrenzung des einzelbetrieblichen Einsatzes von Futter- und Milchersatzmitteln wurde als produktivitätshemmende Massnahme abgelehnt. Dafür beteiligte man die Produzenten mit Rückbehalten an den Verwertungskosten. Diese stiegen im Durchschnitt der Jahre 1971-1980 auf jährlich fast 0,5 Mrd. Franken. Auch die mit dem Milchwirtschaftsbeschluss von 1977 eingeführte einzelbetriebliche Kontingentierung der Milchproduktion konnte nicht verhindern, dass die Verwertungskosten noch weiter anstiegen, sodass die Milchrechnung nun über 54% sämtlicher Bundesbeiträge an die Landwirtschaft beanspruchte. Die einzelbetrieblichen Milchkontingente stellten Nutzungsrechte dar, mit denen verhindert werden sollte, dass sich die Milchwirtschaft zu Lasten des Ackerbaus weiter ausdehnte.

Das Landwirtschaftsgesetz von 1998 schrieb der Milchwirtschaft wie bis anhin eine dominierende Rolle zu. Doch die Marktordnung wurde schrittweise liberalisiert und an neue europa- bzw. weltweit gültige Handelsstandards angepasst. Die landwirtschaftlichen Organisationen verloren die angestammten öffentlichen Aufgaben weitgehend. Die Käseunion und die Butyra wurden 1999 aufgehoben. An ihre Stelle traten verschiedene Branchenorganisationen. Preis- und Absatzsicherung sowie Ablieferungspflicht fielen dahin. Die Milchkontingentierung wurde schrittweise abgebaut und umfasste 2006 nur mehr rund ein Drittel der Milchproduzenten und ein Viertel der Milchmenge. Die Zahl der Milchbauern sank zwischen 1950 und 2005 von 150'000 auf 31'000. Die verarbeitenden Betriebe erfuhren eine Konzentration, aus der die Emmi in Luzern und die Cremo AG in Villars-sur-Glâne als grösste Unternehmungen hervorgingen. In der Verteilung von Milch und Milchprodukten nehmen Migros und Coop marktbeherrschende Positionen ein. Der unter der Marktordnung von 1914 bis 1998 herrschende Interessenausgleich unter allen Akteuren brach auseinander. Verschiedentlich führten die Bauern Demonstrationen durch, es kam zu Blockaden von Grossverteilerfilialen und 2008 zu einem befristeten Milchlieferboykott. Die Milchbauern verfolgten die Internationalisierung ihres Marktkampfs, was 2006 zur Gründung des European Milk Board führte.

Quellen und Literatur

Mittelalter und Frühneuzeit
  • F. Häusler, Das Emmental im Staate Bern bis 1798, 2 Bde., 1958-68
  • F. Glauser, «Handel mit Entlebucher Käse und Butter vom 16. bis 19. Jh.», in SZG 21, 1971, 1-63
  • R. Ruffieux, W. Bodmer, Histoire du gruyère en Gruyère du XVIe au XXe siècle, 1972
  • L. Odermatt, Die Alpwirtschaft in Nidwalden, 1981
  • 700 Jahre Appenzeller Käse, 1982
  • N. Grass, «Vieh- und Käseexport aus der Schweiz in angrenzende Alpenländer, besonders im 16. und 17. Jh.», in Wirtschaft des alpinen Raums im 17. Jh., hg. von L. Carlen, G. Imboden, 1988, 113-177
  • J.-F. Bergier, Wirtschaftsgesch. der Schweiz, 21990 (mit Bibl.)
19. und 20. Jahrhundert
  • 75 Jahre ZVSM, 1982
  • T. Steiger, Die Produktion von Milch und Fleisch in der schweiz. Landwirtschaft des 19. Jh. als Gegenstand bäuerl. Entscheidungen, 1982
  • C. Aeschbacher, Die Butter und ihre Tradition, 1989
  • H. Brugger, Agrarpolitik des Bundes seit 1914, 1992
  • P. Moser, Der Stand der Bauern, 1994
  • Botschaft des Bundesrates für die Reformen der Agrarpolitik: 2. Etappe (Agrarpolitik 2002), vom 26. Juni 1996
  • P. Moser, P. Brodbeck, Milch für alle, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Milchwirtschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.07.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013952/2015-07-30/, konsultiert am 28.03.2024.