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Küherwesen

Das Küherwesen, eine zwischen 1550 und etwa 1900 betriebene, spezielle Form der Alpwirtschaft mit nomadisierender Lebenshaltung, war vor allem im Napf- und westlichen Voralpengebiet verbreitet; Zentrum war das bernische Emmental. Auch im Greyerzerland und im angrenzenden Pays-d'Enhaut bekannt, gelangte das Küherwesen von dort im 18. Jahrhundert durch ausgewanderte Küher in den Waadtländer und Neuenburger Jura.

Die Wurzeln des Küherwesens liegen teils in herrschaftlichen Milchwirtschaftsbetrieben (Schweighöfe), teils in der genossenschaftlichen oder privaten Alpwirtschaft der einheimischen Talbauern. Als mit der Umstellung auf die exportorientierte Produktion von Fettkäse (Käse) im 16. Jahrhundert Alpkäserei lohnend wurde, stiegen die vermehrt kultivierten Kuhalpen im Wert. Anders als Korporationsalpen im Alpenraum waren im Emmental, Greyerzerland sowie im Pays-d'Enhaut die privaten Alpen über Alprechte käuflich. Das Patriziat der Städte Bern und Freiburg erwarb solche Alpen ab dem 16. Jahrhundert als Geldanlage, so dass zum Beispiel im Raum Schangnau-Röthenbach im Emmental im 18. Jahrhundert drei Viertel aller Alprechte bei Berner Patriziern lagen.

Küher beim Melken und bei der Käseherstellung. Zeichnung von Daniel Lindtmayer dem Jüngeren, um 1601 (ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung, 338.4 [Depos. GKS]).
Küher beim Melken und bei der Käseherstellung. Zeichnung von Daniel Lindtmayer dem Jüngeren, um 1601 (ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung, 338.4 [Depos. GKS]). […]

Die für den Alpbetrieb benötigten Fachleute der Milchverarbeitung, die Küher, rekrutierten sich aus einheimischen Bauernsöhnen, die nach Übernahme des väterlichen Hofs durch den jüngsten Bruder (Minorat) bar ausgekauft wurden. Der Küher, zwar ohne eigene Alp oder Talhof, doch gleichwohl bemittelt, wurde im 17. Jahrhundert Pächter der Kuhherde und der Alp. Er verkaufte die Milchprodukte auf eigene Rechnung und zahlte dem Patrizier Zins für die Pacht und das Winterquartier in dessen Talhof.

Das sichere Angebot an Alppachten bewog den Küher im 18. Jahhundert, Besitzer der Kuhherde und ― im Unterschied zum angestellten Senn ― vollends zum Unternehmer zu werden. Während der Alpzeit von Mai bis Michelstag (29. September), zu Saint-Denis (9. Oktober) oder zum Gallustag (16. Oktober) pachtete er eine «Herrenalp», seltener eine private oder genossenschaftliche «Bauernalp». Für das Winterhalbjahr suchte er für sich und seine Herde von 40 bis 100 Kühen Unterkunft im Tal. Viele Mittellandhöfe waren mit «Küherstuben» oder «Küherstöckli» sowie mit zusätzlichen Ställen ausgerüstet. Der Küher bezahlte in Geld und Naturalien (Butter, Käse, Kälber) für Unterkunft, Nahrung, Brennholz und Heu. Steigende Nachfrage nach Heu beschleunigte im Tal die Umstellung von Getreide- auf Grasbau. Küher mit Grossherden waren winters zu öfterem Umziehen oder zum Aufteilen der Herde auf verschiedene Höfe genötigt. Höfe in Stadtnähe waren bevorzugte Winterquartiere, da sich Milchprodukte in der Stadt vermarkten liessen.

Leiheverträge um Alpen für eine oder mehrere Saisons regelten die Nutzung und den Alpunterhalt (Schwenden, Säubern, Düngen, Mähen, Zäunen) durch den Küher und seine Gehilfen, ferner die Unterhaltsarbeiten an Alpgebäuden (Hütte, Stall, Speicher), am Sennereigerät (Käsekessel, -lade, -presse usw.), an Brunnentrögen und Wasserleitungen. Der Pachtzins in Geld berechnete sich nach Anzahl Kuhrechten und der Bonität der Alp sowie nach den vorjährigen Käsepreisen. Hinzu kamen Naturalleistungen (Käse, Butter, Ziger) an den Alpbesitzer. Die Käsemilch (Schotte) gehörte dem Küher zur Schweinemast.

Das 18. Jahrhundert war die Blütezeit des Küherwesens. Zwischen Tal und Alpgebiet gut eingespielt, war es, abgesehen von Jahren mit Preiseinbrüchen beim Käse, der einträglichste Landwirtschaftszweig und für alle vier Glieder im System ― Küher, Alpbesitzer, Talbauern, Käsehändler ― gewinnbringend. Bei steigenden Käsepreisen kletterten die Pachtzinsen um fast das Zweieinhalbfache. Risikobehaftet, konnte das Küherwesen dem Küher Vermögen oder Ruin eintragen. Zur reichen Folklore des Küherstandes gehörten Alpaufzug, Schwingen (Nationalspiele der Schweiz), Alphorn und Kuhreihen.

In den 1830er Jahren setzte der rasante Verfall des Küherwesens ein: Die billiger produzierende Talkäserei beraubte die Küher ihrer Existenz. Sie wurden zu Talkäsern, Ackerbauern oder Viehzüchtern im Tal oder auf ganzjährig betriebenen Alphöfen.

Quellen und Literatur

  • R.J. Ramseyer, Das altbern. Küherwesen, 1961 (21991)
  • Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, 1, 1965, 90-120
  • F. Häusler, Das Emmental im Staate Bern bis 1798, Bd. 2, 1968, 76-88
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler: "Küherwesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.12.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013867/2008-12-04/, konsultiert am 19.03.2024.