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Technischer Fortschritt

Fortschritt als stetige Verbesserung der Bedingungen menschlicher Existenz aufgrund technischer und wissenschaftlicher Entwicklung ist ein Konzept der Aufklärung. Im 18. und vermehrt im 19. Jahrhundert wurden Wissenschaft und technischer Fortschritt als Garanten für wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Fortschritt gesehen. Da die Menschen mit Hilfe der Technik die Welt veränderten, galt diese als Mass der menschlichen Höherentwicklung. Doch das durch die Industrialisierung verursachte soziale Elend, das Vernichtungspotenzial der Militärtechnologien im 20. Jahrhundert oder die Umweltschäden dämpften diesen szientistischen Optimismus.

In wirtschaftlicher Hinsicht umschreibt technischer Fortschritt eine Veränderung der Produktionsmethoden (neue Maschinen und Produktionsverfahren sowie neue Arbeitsorganisation), die zu einer Produktivitätssteigerung oder zu neuen Errungenschaften (neue Produkte) führt. Da er allgemein als wichtige Quelle für das Wirtschaftswachstum gilt, wird seit ca. 100 Jahren massiv in Forschung und Entwicklung investiert.

Technischer Fortschritt vor der Industriellen Revolution

Vor der Industriellen Revolution kam es nur beschränkt zu technischen Neuerungen, sodass einige traditionelle Werkzeuge oft bis zum 20. Jahrhundert in Gebrauch blieben. Der weitaus wichtigste Sektor, die Landwirtschaft, war während des Ancien Régime sowohl in der Schweiz wie anderswo technisch wenig entwickelt. Einige spürbare Fortschritte wie das Dreizelgensystem (Zelgensysteme), die Verwendung des Pflugs mit eiserner Pflugschar und die Bewässerung der Alpweiden steigerten immerhin die Erträge. Zusammen mit der Urbarmachung neuen Ackerlands trugen diese technischen Neuerungen zur Subsistenz einer ab dem 12. Jahrhundert wachsenden Stadtbevölkerung bei.

Handwerk und Gewerbe waren Neuerungen gegenüber aufgeschlossener. Neues Know-how, oft dank der Nutzung der Antriebskraft von Mühlen, hielt im Spätmittelalter Einzug: Dazu gehörten auch Hochöfen, Leinenweberei, Seiden- und Wolltuchproduktion oder Gerbereien. Gefördert wurde die Verbreitung neuer Techniken durch die Ankunft hugenottischer Refugianten zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, die Kapital und technische Kenntnisse in die reformierten Städte brachten. Beispiele dafür bieten die technikintensiven Druckereien, die vor allem in Basel und Genf eröffnet wurden. Die Zünfte und lokalen Obrigkeiten wirkten jedoch gegenüber Neuerungen oft als Bremse, weil sie ihre Privilegien wahren und die bestehende Gesellschaftsordnung nicht aufs Spiel setzen wollten. Wegen der Abwehrhaltung der aristokratischen Eliten und der Kaufleute fehlte innovationsbereiten Fabrikanten oft das Kapital für den Aufbau von Manufakturen.

Im 18. Jahrhundert erzielten neue Techniken entscheidende Durchbrüche. Die Konjunktur war günstiger, und die Ideen der Aufklärung förderten die Entfaltung industrieller Tätigkeiten. Neue Industriezweige wie die Baumwollspinnerei und -weberei, der Zeugdruck sowie die Uhrmacherei fassten im Land Fuss. Der Einsatz einfacher, handbetriebener Maschinen (Webstühle, Strickmaschinen, Drehbänke usw.) verbreitete sich rasch; erste Formen von Fabriken (Fabrique-Neuve de Cortaillod) traten im Zeugdruck auf. Die Zünfte, beträchtlicher Hemmschuh der Technikentwicklung, wurden in der Helvetischen Republik 1798 aufgehoben. Die eigentliche Wende hinsichtlich der Übernahme technischer Innovationen erfolgte jedoch erst in der Zeit der Industriellen Revolution.

Blütezeit der Industrialisierung

Im 19. Jahrhundert beschleunigte sich der technische Fortschritt rasant. Die Industrielle Revolution kann daher in erster Linie als technische Revolution angesehen werden: Die Erfindung mechanischer Baumwollspinnmaschinen in Grossbritannien, die von Dampfmaschinen angetrieben wurden, veränderte die Herstellungsmethoden grundlegend. Die Folge war ein ungeheurer Produktivitätsschub, der sich auf eine mehr oder weniger kontinuierliche Reihe technischer und arbeitsorganisatorischer Innovationen stützte.

Mechanisierung und Rationalisierung

Der Prozess der Mechanisierung verlief weder geradlinig noch gleichförmig. Zwischen den verschiedenen Industriezweigen (und damit den Landesteilen), aber auch innerhalb desselben Sektors vollzog sich der Wandel in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zunächst hielt die Mechanisierung in der Baumwollspinnerei Einzug: Ab 1801 importierten und kopierten Schweizer Fabrikanten englische Maschinen – nur eines von zahlreichen Beispielen für die Bedeutung des Technologietransfers. Während die Handspinnerei schon um 1814 nahezu vollständig verschwunden war, wurde die Baumwollweberei erst in den 1830er Jahren, der Bereich der Fertigfabrikate sogar noch später mechanisiert. Die Mechanisierung der Textilindustrie führte rasch zur Entwicklung einer weiteren Sparte, der Maschinenindustrie. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzte sich der Wandel in allen Bereichen durch: Das Eisenbahnnetz entstand, Chemie und Elektroindustrie erlebten einen Aufschwung. In anderen Zweigen wie etwa der Uhrmacherei, die erst Ende des 19. Jahrhunderts in Fabriken produzierte, verlief die Entwicklung langsamer.

Telefonzentrale Brugg. Fotografie der PTT, um 1930 (Museum für Kommunikation, Bern).
Telefonzentrale Brugg. Fotografie der PTT, um 1930 (Museum für Kommunikation, Bern). […]

Auch die Landwirtschaft verzeichnete rasante Fortschritte. Zwischen 1800 und 1900 gingen die im Primärsektor Beschäftigten zwar um die Hälfte zurück, doch sank der Versorgungsgrad trotzdem nicht, weil diverse Neuerungen wie Düngung und Anbaudiversifizierung zu Ertragssteigerungen führten (Agrarrevolution). Im Dienstleistungssektor wurde dank Telefon, Schreibmaschine und Buchungsmaschine der Bürobetrieb auf vergleichbare Weise mechanisiert. Insbesondere in der Zwischenkriegszeit kam es zu einer Rationalisierung der Verwaltungsarbeit. Mit der Technifizierung im Büro stieg der Anteil weiblicher Angestellter, wie schon zuvor in den Fabrikwerkstätten, da Frauen in der Regel weniger qualifiziert und günstiger waren.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts schliesslich bestand technischer Fortschritt nicht mehr nur aus Innovationen in der Mechanik, Physik und Chemie, sondern ebenso aus arbeitsorganisatorischen Neuerungen. 1902-1903 erschienen in der Schweiz die ersten Artikel zum Taylorismus, doch kam es erst am Ende des Ersten Weltkriegs zu einer Rationalisierungsbewegung. Einen gewissen Umfang erlangte sie allerdings erst mit den konjunkturellen Einbrüchen in der Zwischenkriegszeit, als die Unternehmen Kosten einzusparen suchten.

Soziale Folgen

Die technischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zeitigten schwerwiegende gesellschaftliche Folgen. Die Einführung neuer Produktionsmethoden drängte zahlreiche Heimarbeiter rasch an den Rand der Armut, sodass Fabrikarbeit meist ihr einziger Ausweg blieb. Dennoch ereignete sich mit dem Usterbrand von 1832 nur ein einziger Fall von Maschinensturm in der Schweiz. Im Lauf des Jahrhunderts bildete sich eine breite Arbeiterklasse heraus, auch wenn sie weniger homogen und umfangreich war als in anderen Ländern.

Die Arbeitsbedingungen unter dem Regime von Mechanisierung und Serienproduktion waren oft sehr hart. Die Vorschriften im eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877 zeugen von den gravierenden Folgen des technischen Fortschritts für die Arbeiter (Fabrikgesetze). Sie sollten vor allem das Risiko der durch Maschinen oder die Verwendung gefährlicher Stoffe verursachten Berufsunfälle und Berufskrankheiten begrenzen. Lohnerhöhungen mussten hart erkämpft werden: Erst nach Hunderten von Streiks zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg profitierten auch die Arbeiter etwas von den Produktivitätsgewinnen. Entgegen den Behauptungen der Freisinnigen bedeutete der technische Fortschritt nicht automatisch auch sozialen Fortschritt.

Allgemein führte die Fabrikarbeit zu einem grossen Mentalitätswandel. Mit dem Verschwinden der Heimarbeit hörte auch eine gewisse Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung, der Arbeitskleidung und dem Arbeitsverhalten auf. Von nun an verpflichtete die Fabrikordnung die Arbeiter zur gleichen Arbeitsweise und zur gleichen Disziplin. Tayloristische Massnahmen verstärkten zusätzlich den Druck auf die Arbeiterschaft.

Faktoren des technischen Fortschritts

Im Zuge der Arbeitsteilung schuf die Industrialisierung zwar zahlreiche Stellen für wenig Qualifizierte, führte aber gleichzeitig zu einer Professionalisierung der technischen Berufe. Die Unternehmen benötigten nun geschulte Techniker und Mechaniker für den Bau und Betrieb der Maschinen. Hier zeigten sich die Grenzen der herkömmlichen Berufsbildung, die von der ständigen Weiterentwicklung der Produktionsanlagen überfordert war. Um Grundlagenwissen unter anderem in theoretischer Mechanik, Materialkunde und Chemie zu vermitteln, mussten die Bildungsgänge angepasst werden. Berufsschulen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts vereinzelt eröffnet worden waren, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher (Berufsbildung). Im Jurabogen zum Beispiel entstanden ab den 1860er Jahren rund ein Dutzend Uhrmacher- und Mechanikerschulen, 1874 wurde das erste Schweizer Technikum in Winterthur eröffnet. Auch die Industrie brauchte Ingenieure, die die mechanisierte Produktion weiterentwickeln und neu organisieren konnten. Doch erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem mit der Eröffnung des Eidgenössischen Polytechnikums 1855 in Zürich (Eidgenössische Technische Hochschulen), wurden die angewandten Wissenschaften zu anerkannten Lehrfächern. Die Einrichtung neuer Bildungsgänge hinkte zwar hinter der Industrialisierung der Schweiz her, fand aber zeitgleich mit dem Aufschwung der neuen Elektro- und chemischen Industrie statt, die auf eine enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft angewiesen war.

Präsentation des Versuchsmodells von Solar Impulse im Jahr 2006, eines mit Sonnenenergie betriebenen Flugzeugs © KEYSTONE.
Präsentation des Versuchsmodells von Solar Impulse im Jahr 2006, eines mit Sonnenenergie betriebenen Flugzeugs © KEYSTONE. […]

Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bereitschaft, sich neue Kenntnisse und Kompetenzen anzueignen, ein wichtiger Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg. Daher eröffneten Grossunternehmen zuerst Versuchs-, später eigentliche Forschungslabors. Gleichzeitig entstanden öffentliche Anstalten, so 1880 die Eidgenössische Anstalt zur Prüfung von Baumaterialien (heute EMPA) am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, 1886 die besonders auf die Textilindustrie ausgerichtete Schweizerische Versuchsanstalt in St. Gallen und 1921 das Laboratoire suisse de recherches horlogères in Neuenburg. Zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit verschob sich die Innovationstätigkeit daher vom Einzelnen zur Gruppe: Waren zuvor Fabrikanten, Handwerker oder Facharbeiter einzeln und unabhängig voneinander als Erfinder tätig, trat nun die zentralisierte, von den Unternehmen kontrollierte Erfindertätigkeit an deren Stelle. Da aber längst nicht alle Unternehmen eigene Technikabteilungen oder Labors besassen, fanden viele Versuche weiterhin in Werkstätten statt. Trotzdem führten die Firmen immer komplexere, systematischere Studien durch, die dem Einzelnen nicht mehr möglich waren. Dieses Bestreben nach Kontrolle der technischen Errungenschaften und deren wirtschaftlichen Auswirkungen spielte auch bei der Inkraftsetzung des ersten eidgenössischen Patentgesetzes 1888 eine Rolle (Erfindungen).

Von der Konsumgesellschaft zur Öko-Kritik

Mit der Ausdehnung der Massenproduktion setzte sich der Mechanisierungs- und Rationalisierungsprozess der Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Einen qualitativen Sprung stellte die Automatisierung dar, die mit dem Bau und Einsatz elektronisch gesteuerter Maschinen in den 1960er Jahren begann. Dieser Prozess verlief allerdings nicht gleichförmig. In den 1950er Jahren griff man in mehreren Industriezweigen zum Zweck der Produktionssteigerung noch auf billige ausländische Arbeitskräfte zurück, anstatt die Herstellungsmethoden zu rationalisieren. Im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern, in denen die Arbeitskräfte im Sekundär- auf Kosten des Tertiärsektors zurückgingen, nahmen diese in der Schweiz zu. In den 1960er Jahren rüstete auch die inländische Industrie die Produktionsanlagen unter dem Druck des Personalmangels auf; zudem drohte ausländische Konkurrenz die Schweizer Unternehmen technisch zu überflügeln.

Die beiden Weltkriege, in denen neue Techniken zu Zerstörungen in bislang unvorstellbarem Ausmass geführt hatten, erschütterten den Glauben an eine bessere Zukunft in seinen Grundfesten. Doch verhalf die Hochkonjunktur der Nachkriegsjahre der Vorstellung des technischen Fortschritts im Kopf der Leute zu neuem Glanz. Nach 1945 fand auch die Arbeiterschaft Zugang zur Massenkonsumgesellschaft und der materielle Wohlstand war grösser als je zuvor. Die neuen Technologien im Alltag, Elektrohaushaltsgeräte, Radio, Fernseher und Auto, spielten eine wichtige Rolle in der Vorstellungswelt immer breiterer Schichten. Gleichzeitig liess dieser American Way of Life den Energieverbrauch explosionsartig ansteigen; mit dem Ausbau des Strassennetzes nahm auch die Anzahl der Fahrzeuge zu (1950 190'000 Fahrzeuge, 1970 1,5 Mio.) und verbreitet wurden umweltschädigende Chemikalien eingesetzt.

Plakat der Gegner der Volksinitiative «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft» vom 27.11.2005 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat der Gegner der Volksinitiative «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft» vom 27.11.2005 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Wer die sowohl moralisch wie ökologisch verheerenden Auswirkungen dieser Entwicklung anprangerte, stiess lange auf wenig Gehör. Eine erste Anti-Fortschrittswelle, die vor allem ästhetisch argumentierte, manifestierte sich in der Belle Epoque und führte zur Gründung des Heimatschutzes. Die ökologische Bewegung kam in den 1970er Jahren auf, stiess aber erst Ende des 20. Jahrhunderts auf Resonanz. Wie die Jugendbewegung die Konsumgesellschaft angeprangert hatte, so hinterfragte sie den technischen Fortschritt grundsätzlich, indem sie die grenzenlose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen denunzierte und die negativen Auswirkungen der Technik auf die Lebensqualität beklagte. Weite Bevölkerungskreise begannen sich gegen die zunehmende infrastrukturelle Erschliessung und Überbauung der Landschaft durch Autobahnen und Staumauern zu engagieren. Der Widerstand gegen die Atomkraftwerke ist eines der sichtbarsten Zeichen dieser neuen Geisteshaltung, wobei die Ablehnung der zivilen Nutzung der Atomtechnologie zur älteren Angst vor einem weltweiten Nuklearkrieg (Antiatombewegung) hinzugekommen ist. Auch die Biogenetik stiess vielfach auf grosse Vorbehalte (Gentech-Moratorium 2005). Paradoxerweise erwartete man dennoch vom technischen Fortschritt die Lösung zahlreicher Probleme (Klima, Energie, Mobilität und Migration). Innert weniger Jahre ist er damit erneut zum Kernthema der politischen und gesellschaftlichen Debatte geworden.

Quellen und Literatur

  • R.S. Edwards, Industrial Research in Switzerland, 1950
  • P.-L. Pelet, «L'histoire des techniques avant la révolution industrielle», in SZG, 32, 1982, 324-337
  • J.-M. Ayer, Progrès technique et science économique, 1990
  • S. Latouche, La mégamachine: raison technoscientifique, raison économique et mythe du progrès, 1995 (22004)
  • H.-J. Gilomen et al., Innovationen: Voraussetzungen und Folgen - Antriebskräfte und Widerstände, 2001
  • Technikforschung, 2004
  • Prométhée déchaîné: technologies, culture et société helvétiques à la Belle Epoque, hg. von C. Humair, H.U. Jost, 2008
Weblinks

Zitiervorschlag

Thomas Perret: "Technischer Fortschritt", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.09.2014, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013843/2014-09-11/, konsultiert am 29.03.2024.