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Kapitalverkehr

Unter dem Begriff Kapitalverkehr werden internationale, in der Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit auch überregionale Kapitalbewegungen zusammengefasst. Dabei wird der autonome vom induzierten Kapitalverkehr unterschieden. Ersterer besorgt Bargeldtransfers und Kapitalanlagen. Letzterer erledigt die durch Importe und Exporte verursachten Zahlungen. Der Kapitalverkehr entwickelte sich parallel zum internationalen Warenhandel (Aussenwirtschaft) und Geldgeschäft.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Im 13. und 14. Jahrhundert war der Kapitalverkehr in der Schweiz Sache der Lombarden. Mit dem Aufkommen heimischer Handelsgesellschaften und Wechselstuben (Geldwechsel) im 15. Jahrhundert ging der Kapitalverkehr allmählich an Ortsansässige über. In der Messestadt Genf lief der Kapitalverkehr über die Italiener, namentlich die Medici, welche auch den kurialen Zahlungsverkehr am Konzil von Basel kontrollierten. Ausschlaggebend für den Einfluss eines Handelsbankiers (Banken) im Kapitalverkehr war die Vielfalt seiner Beziehungen im Netz der Wechsel- und Messeplätze. Der Kapitalverkehr erfolgte über den Transport von Bargeld (Geld) oder über Wechselbriefe: So musste 1456 vom unbedeutenden Finanzplatz Luzern eine Summe Bargeld über einen Boten bei einem Basler Bankier eingezahlt werden. Den dort ausgestellten Wechselbrief konnte dann eine Luzerner Gesandtschaft in Rom einlösen. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind Maultierkarawanen belegt, die grosse Mengen an Goldmünzen transportierten.

Schweizerischer Kapitalverkehr in Europa, 16.-17. Jahrhundert
Schweizerischer Kapitalverkehr in Europa, 16.-17. Jahrhundert […]

Im 16. Jahrhundert intensivierte sich der Kapitalverkehr: Immer mehr Bündnis- und Pensionengelder flossen in die Schweiz. Rechnungsüberschüsse ermöglichten den Städten, ihre "Auslandschulden" abzutragen. Basel entwickelte sich zu einem bedeutenden Kapital- und Finanzplatz am Oberrhein. Der Stadtwechsel vermittelte internationale Anleihen und kurbelte somit den Kapitalverkehr stark an. Zudem entwickelte sich der Korridor von Lyon über Genf, Basel, Strassburg bis Frankfurt am Main zum bedeutenden Raum für den internationalen Kapitalverkehr. Auf diesem Weg floss ein Grossteil der protestantischen Hilfsgelder aus England, Deutschland und Frankreich nach Genf. Im eidgenössischen Rahmen waren Stadt- und Länderorte am Kapitalverkehr mit dem Finanzplatz Basel, teilweise auch mit Genf, beteiligt. Analog zum gut erforschten Kapitalverkehr der West- und Nordwestschweiz dürfte auch der schlechter ausgeleuchtete Kapitalverkehr der Ostschweiz und der Nachbarregionen, von Konstanz und Schaffhausen über Zürich, Chur und die Bündnerpässe bis nach Brescia und Venedig funktioniert haben. Im Bereich des Anlagegeschäfts dominierten bis etwa 1600 die Kapitalflüsse von Deutschland in die Schweiz.

Im 17. Jahrhundert, insbesondere nach dem Ausbruch des Dreissigjährigen Kriegs, war es gerade umgekehrt. Damals entstand in der Eidgenossenschaft ein enormer Kapitalüberhang, mit dem bis Ende des Jahrhunderts ein Einbrechen des Zinssatzes auf Gülten (von 5% auf teilweise 3%) einherging. Für das überschüssige Kapital mussten zuerst Anlagemöglichkeiten und damit ein eigentlicher Kapitalmarkt geschaffen werden. Das nach 1700 immer engere Netz der reformierten Privat- und Handelsbankiers in der Schweiz und deren Partner in ganz Europa kontrollierte den Kapitaltransfer privater und institutioneller Anleger aus Bern, Solothurn und Zürich unter anderem nach Frankreich, England, Deutschland, Österreich und Skandinavien sowie den Rückfluss der Erträge und Amortisationen.

19. und 20. Jahrhundert

Die Französische Revolution unterbrach die zuvor beträchtlichen Kapitalexporte verschiedener Kantone, die vor allem über Genf und Basel ins Ausland geflossen waren. In den 1820er Jahren setzten sie jedoch in Form von Anlagen in ausländischen Wertpapieren und Bankkrediten wieder ein. Trotz beginnender Industrialisierung absorbierte die inländische Kapitalnachfrage die Sparüberschüsse (nach England die höchsten pro Kopf der Bevölkerung) zuerst nur teilweise. Da sich für die schweizerischen Ersparnisse im Inland nur zum Teil geeignete Anlagemöglichkeiten fanden, wurden sie hauptsächlich durch Privatbanken im Ausland angelegt. Mit der Entwicklung neuer Methoden der Kapitalbeschaffung (Kapitalgesellschaften, Börsen, neue Banktypen) entstanden auch neue Formen des internationalen Kapitalverkehrs. Der schweizerische Kapitalexport nahm schon früh die Form von Investitionen in Industrie- und Handelsunternehmen im Ausland (Direktinvestitionen) an. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründeten Schweizer Unternehmer Textilfabriken in Italien und Frankreich, Maschinenfabriken in Österreich und Deutschland sowie Handelshäuser in Indien, China und Japan.

Die Industrialisierung erforderte mit ihren Grossprojekten wie dem Eisenbahnbau (z.B. Gotthardbahn) und der Etablierung der Elektrizitätswirtschaft umfangreiche Finanzmittel. Die Mittelbeschaffung erfolgte durch die Gründung von Grossbanken und durch Kapitalimporte aus Frankreich, Italien und dem Deutschen Reich. Ende des 19. Jahrhunderts brachten weltweite protektionistische Massnahmen (Schutzzölle) die traditionell exportorientierte schweizerische Industrie in Bedrängnis. Sie investierte daher vermehrt in den Aufbau ausländischer Produktionsstandorte. In Italien gab es um 1900 67 schweizerische Baumwollunternehmen. Die chemische Industrie (Ciba, Geigy, Sandoz, Hoffmann-La Roche) und die Lebensmittelbranche gründeten Tochtergesellschaften im Ausland. Die Schuhfabrik Bally eröffnete Verkaufsläden in Südamerika, Frankreich, England, Österreich und Südafrika. Ende des 19. Jahrhunderts besassen damit praktisch alle grösseren Schweizer Industrie- und Handelsunternehmen Niederlassungen im Ausland. Für die Zeit des Ersten Weltkriegs können für 160 Unternehmen 265 produzierende ausländische Tochtergesellschaften nachgewiesen werden. Zwei Drittel davon befanden sich in den Nachbarländern. Vor dem Ersten Weltkrieg betrug der gesamte Kapitalbestand im Ausland nach einer zeitgenössischen Schätzung 7,5 Mrd. Franken. In Wertpapieren waren schätzungsweise 5,6 Mrd. Franken angelegt, 1,2 Mrd. Franken entfielen auf Direktinvestitionen. Die Auslandsverpflichtungen werden auf 1,8 Mrd. Franken geschätzt, wovon der grösste Teil Anlagen in schweizerischen Wertpapieren (1,4 Mrd. Franken) waren. Das Nettovermögen im Ausland betrug 5-6 Mrd. Franken und stand damit in ähnlichem Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt wie Ende des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg versuchten die schweizerischen Behörden, den Kapitalexport aus politischen und wirtschaftlichen (Kontrolle des Zinsniveaus) Gründen einzuschränken.

Als neutrales Land hatte die Schweiz den Ersten Weltkrieg trotz hoher Inflation mit einer vergleichsweise stabilen Währung überstanden. Nach Kriegsende gewann die Schweiz nicht nur als Kapitalexportland, sondern auch als internationaler Finanzplatz an Bedeutung. Diese Standortvorteile zogen ausländische Unternehmen, Vermögen und Kapitalmarktgeschäfte an. Da die Platzierungskraft der Banken stark zunahm, wurden ausländische Anleihen und Aktien vermehrt direkt in der Schweiz aufgelegt: 1924-1934 wurde für über 3,9 Mrd. Franken emittiert. Rund die Hälfte davon entfiel auf Frankreich, Deutschland und die USA, der andere Teil wurde durch schweizerische Käufer erworben und führte damit zu Kapitalexporten. Daneben gewährten die Banken Kredite ans Ausland und importierten Kapital, indem sie Einlagen aus dem Ausland entgegennahmen. Ende der 1920er Jahre betrugen die Auslandguthaben und Auslandverpflichtungen der Banken im Verhältnis zur Bilanzsumme schätzungsweise 10-20% (ca. 1-2 Mrd. Franken). Davon bestand ein grosser Teil aus kurzfristigen Krediten an Deutschland.

Die Weltwirtschaftskrise und die darauf folgende Zahlungsunfähigkeit lösten eine weltweite Finanzkrise aus, welche die international ausgerichteten Schweizer Banken besonders traf. In der Folge wurde 1931 das Clearing eingeführt und das Bankengesetz von 1934 ausgearbeitet, das für ausländische Wertpapieremissionen eine Bewilligungspflicht einführte. In den 1930er Jahren, besonders nach der Abwertung 1936, flossen den Banken aus politischen und wirtschaftlichen Gründen in grösserem Umfang ausländische Fluchtgelder zu, die zu einer Zunahme der Auslandgelder der Banken und der Währungsreserven führten.

Im Zweiten Weltkrieg erhöhte sich der Gold- und Devisenbestand der Schweizerischen Nationalbank (SNB) hauptsächlich aufgrund von Goldgeschäften mit den Achsenmächten und den Alliierten. Nach neusten Erkenntnissen übernahm die Schweiz in dieser Zeit 79% der Goldlieferungen der Deutschen Reichsbank ins Ausland. Die Goldübernahmen wurden erst 1944 nach entsprechenden Warnungen der Alliierten eingeschränkt, obwohl bereits früher Verdachtsmomente bestanden hatten, dass auch Raubgold geliefert wurde. Die Goldtransaktionen der SNB waren Teil einer Politik, die darauf abzielte, das Vertrauen in die schweizerische Währung zu bewahren, die Preisentwicklung zu kontrollieren und die Landesversorgung sicherzustellen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte der Kapitalverkehr der öffentlichen Hand mit der Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank) ein wachsendes Gewicht im weltweiten Kapitalverkehr. Der Bund und die SNB beteiligten sich auf multilateraler Ebene (IWF, Weltbank, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Zehnergruppe) regelmässig an der Mittelbeschaffung für die internationale Währungs- und Entwicklungshilfe. Der Bund erbrachte ausserdem auf bilateraler Basis Kapitalleistungen für den Wiederaufbau Europas und die Zahlungsbilanzhilfe für Entwicklungsländer. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Kapitalverkehr stark durch die Direktinvestitionen multinationaler Unternehmungen geprägt: Einige der grössten hatten ihre Stammhäuser in der Schweiz. Bis in die 1970er Jahre konzentrierten sich die schweizerischen Direktinvestitionen auf die Kapitalexporte der Industrieunternehmen.

Seither hat sich die Branchenstruktur deutlich zugunsten der Dienstleistungsunternehmen verändert. Die EU und die USA waren die wichtigsten Standorte für schweizerische Direktinvestitionen. Der internationale Kapitalverkehr der Banken nahm nach der Einführung der Konvertibilität der Währungen Ende der 1950er Jahre einen rasanten Aufschwung. Der Auslandanteil der Aktiven und Passiven an der Bilanzsumme stieg von je 9% (2,6 Mrd. Franken) 1950 auf 56% (1154 Mrd. Franken) bzw. 57% (1209 Mrd. Franken) 2000. Die seit 1974 ausserhalb der Bilanz verbuchten Treuhandgelder, die überwiegend für ausländische Kunden wieder im Ausland angelegt werden, stiegen von 0,1 Mrd. Franken 1950 auf 414 Mrd. Franken 2000. Die für ausländische Kunden verwalteten Wertpapieranlagen betrugen 2000 1926 Mrd. Franken.

Kapitalexporte und Kapitalimporte 1983-2005
Kapitalexporte und Kapitalimporte 1983-2005 […]

Grundsätzlich war der Kapitalverkehr der Schweiz mit dem Ausland keinen Restriktionen unterworfen. Die Schweiz betrieb jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre aufgrund der Bewilligungspflicht für Auslandsemissionen und Auslandskredite eine konjunktur- und währungspolitisch bedingte Kapitalverkehrspolitik. Als das mit dem Abkommen von Bretton Woods geschaffene System der festen Wechselkurse zusammenbrach, liess die Schweiz ab 1973 die eigene Währung frei schwanken (Flexible Wechselkurse), was massive Kapitalimporte bewirkte. Als Reaktion auf die übermässige Höherbewertung des Frankens förderte die Nationalbank den Kapitalexport, um die Währung zu stabilisieren. 1995 wurde die Bewilligungspflicht durch die Globalisierung der Finanzmärkte obsolet und in eine Meldepflicht für statistische Zwecke umgewandelt. Weitere politische Massnahmen und Gesetze zur Regulierung der Kapitalimporte sind die staatlichen Monopole, die Einschränkungen ausländischer Beteiligungen im Transport- und Energiesektor sowie das Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland von 1983.

Der umfangreiche schweizerische Kapitalverkehr schlug sich in einem international gesehen vergleichsweise hohen Bestand an Auslandguthaben und Auslandverpflichtungen nieder. Die schweizerischen Auslandaktiven betrugen 2000 2232 Mrd. Franken und die Auslandpassiven 1710 Mrd. Franken. Der Überschuss der Auslandaktiven von 522 Mrd. Franken entspricht weltweit einmaligen 129% des Bruttoinlandprodukts. Offizielle Daten über den schweizerischen Kapitalverkehr werden seit 1985 publiziert.

Quellen und Literatur

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  • Veröff. UEK 16
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Körner; Thomas Schlup: "Kapitalverkehr", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.10.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013839/2013-10-03/, konsultiert am 19.03.2024.