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Kommerzialisierung

Der Begriff Kommerzialisierung hat einen grundlegenden Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich bezeichnete Kommerzialisierung die Umwandlung von öffentlichen in privatwirtschaftliche Schulden. Heute hingegen ist Kommerzialisierung ein kulturpessimistischer Prozessbegriff, der das Vordringen gewinnorientierter Handels- und Verkaufsinteressen in gesellschaftliche Bereiche meint, die frei von marktwirtschaftlichen Mechanismen waren (Marktwirtschaft). Die Kritik des damit verbundenen Verlusts immaterieller Werte steht im Zentrum. Kommerzialisierung soll hier in analytischer, nicht polemischer Verwendung für verschiedene historische Vorgänge stehen.

Gesamtgesellschaftlich geht es um den Übergang von einer vorkapitalistischen, vorwiegend subsistenzorientierten zu einer kapitalistischen, marktorientierten Wirtschaft (Kapitalismus). Dieser Prozess widerspiegelt sich in Wachstum und Ausdifferenzierung der Konsumgüterproduktion und in den vielfältigen gewerblichen Formen der Zirkulation und Repräsentation von Konsumgütern in städtischen und ländlichen Gebieten. Den Institutionen der Distribution (z.B. Gross- und Einzelhandel) kommt ein wachsender wirtschaftlicher Stellenwert zu, Geld wird zum dominanten Tauschmittel. Konsumenten werden standes- bzw. schicht- und regionenspezifisch in ein dichter werdendes Netz von Gütern eingebunden, die sie nicht selbst herstellen bzw. erbringen können. Deren alltägliche Präsenz auf Märkten, in Geschäften und in der Werbung bzw. der Besitz und Gebrauch dieser Güter werden selbstverständlich. Die Waren prägen somit das Konsumverhalten. Eng verknüpft mit diesem Prozess ist der Begriff der Kommodifizierung: Nicht nur alle Güter und Dienstleistungen werden zu Waren, auch weitere Lebensbereiche wie Kultur oder Wissenschaft sind handelbar.

Doppelseite aus der Schweizer Illustrierten Zeitung Nr. 41 vom 9. Oktober 1929 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Doppelseite aus der Schweizer Illustrierten Zeitung Nr. 41 vom 9. Oktober 1929 (Schweizerische Nationalbibliothek). […]

Am Ende des 18. Jahrhunderts setzten in ganz Europa diskontinuierlich Kommerzialisierungsprozesse ein. In der Schweiz gingen sie einher mit dem sukzessiven Machtverlust des zünftigen Handwerks nach dem Ancien Régime. Diese Entwicklung wurde mit der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit in der revidierten Bundesverfassung 1874 endgültig besiegelt. Agrarmodernisierung, steigende finanzielle Abhängigkeit auf dem Land, Industrialisierung, Städte- und Bevölkerungswachstum, die Bildung eines einheitlichen nationalen Wirtschaftsraumes, die zunehmende Zahl der Lohnabhängigen, die vermehrten Nahrungs- und Konsumgüterimporte, die Etablierung der Lebensmittelindustrie und die Expansion gewerblicher Produktion führten dazu, dass sich das kommerzielle Angebot zur Deckung des täglichen und periodischen Bedarfs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vergrösserte. Die bunte Vielfalt der traditionellen Märkte, Markthallen, Krämer-, Kolonial- und Spezereiläden, der fahrenden Händler und Spezialgeschäfte sowie der Geschäftsstellen der örtlichen Konsumvereine wurde im Lauf des 20. Jahrhunderts durch die Konzentration im Handel verdrängt.

Unterbrochen von den beiden Weltkriegen beschleunigte sich die Kommerzialisierung vor allem nach 1945 und führte zur Blüte der sogenannten Konsumgesellschaft. Das enorme Angebot der Waren und Dienstleistungen prägt bis in die Gegenwart insbesondere die Erfahrung der von Armut Betroffenen, die nicht nur vom Arbeitsmarkt, sondern verstärkt von den Preisschwankungen des Konsumgütermarkts abhängig sind. Die Attraktivität des kommerzialisierten Marktes äussert sich im städtischen Umfeld besonders deutlich, am augenfälligsten in den grossen Warenhäusern, den Zentren des Massenkonsums. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstatieren Kulturwissenschaftler und Ökonomen die Ausdehnung der Kommerzialisierung auf kulturelle und bis anhin intime Lebensbereiche (Freizeit, Kunst, Bildung, Technologie) und kritisieren die umfassende Durchdringung der Gesellschaft mit der ökonomischen Logik (Neoliberalismus).

Quellen und Literatur

  • H.A. Vögelin, Wie Basel zu Warenhäusern und anderen Grossverkaufsstellen kam, 1978
  • C. Pfister, Im Strom der Modernisierung, 1995
  • Gesch. der Konsumgesellschaft, hg. von J. Tanner et al., 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Sibylle Brändli: "Kommerzialisierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.12.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013834/2008-12-02/, konsultiert am 16.04.2024.