de fr it

Agrarpolitik

Landwirtschaftspolitik

Unter Agrarpolitik werden alle Massnahmen verstanden, die Bund, Kantone, öffentliche Körperschaften und berufsständische (Bauern) sowie politische Organisationen zur Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Verhältnisse in der Landwirtschaft unternehmen. Die wichtigsten Bereiche sind: Forschungs- und Bildungswesen, Melioration und landwirtschaftlicher Hochbau, Bodenrecht, Handels-, Zoll-, Markt- und Preispolitik. Die hauptsächlichen Mittel sind: Finanzhilfen (Subventionen, Direktzahlungen), Grenzschutz (Zölle), Preis- und Abnahmegarantien sowie die Kontingentierung der Produktion. Im Zentrum steht die Agrarpolitik des Bundes, die im 20. Jahrhundert eng mit jener der Agrarverbände verknüpft war, die aber dennoch oft nicht nur in Auseinandersetzung mit Industrie-, Handels- und Konsumenteninteressen, sondern auch gegen eine bäuerliche Opposition durchgesetzt wurde.

Die Agrarpolitik des Bundes setzte in den 1870er und 1880er Jahren ein. Sie hatte zunächst die Förderung einer rationellen Produktion zum Ziel, wurde ― als der Distanzschutz infolge des technischen Fortschritts im Transportwesen verloren ging ― durch einen partiellen Schutz vor Billigimporten ergänzt (Freihandel) und versuchte im 20. Jahrhundert in zunehmendem Masse, die Landwirtschaft gesamtgesellschaftlichen und nationalen Interessen der Schweiz dienstbar zu machen. Dabei entstand ein immer dichteres Regulierungsnetz, das seit den späten 1980er Jahren unter zunehmenden politischen Druck geriet.

Die ab 1851 ohne gesetzliche Umschreibung hautpsächlich an die landwirtschaftlichen Hauptvereine (Landwirtschaftliche Vereine) ausgerichteten Bundesbeiträge wurden erstmals 1884 mit dem «Bundesbeschluss betreffend die Förderung der Landwirtschaft durch den Bund» gesetzlich verankert; 1893 wurde dieser zum Bundesgesetz erweitert. Die wachsende agrarpolitische Tätigkeit zeigt sich auch daran, dass 1878 das Eisenbahn- und Handelsdepartement als Handels- und Landwirtschaftsdepartement (heute EVD) neu strukturiert wurde, dem 1881 eine «Abteilung Landwirtschaft» (seit 1979 Bundesamt für Landwirtschaft) angegliedert wurde.

Ende des 19. Jahrhunderts trat die Zollfrage in den Vordergrund. Im Generaltarif von 1902 konnte der erst kurz vorher (1897) gegründete Schweizerische Bauernverband (SBV) einen gewissen Schutz der Landwirtschaft durchsetzen. Der schnell aufstrebende SBV und das ebenfalls von Ernst Laur geführte Schweizerische Bauernsekretariat spielten in der Agrarpolitik bald eine führende Rolle, hatten sie doch gegenüber der schwach dotierten Bundesverwaltung grössere Kapazitäten. Die wichtige Rolle der Agrarverbände zeigte sich im Ersten Weltkrieg, als ein rasch zunehmender, oft improvisierter Staatsinterventionismus auf ihre Mitwirkung nicht verzichten konnte. Es entwickelte sich ein Grundmuster schweizerischer Agrarpolitik: Der Bund beschliesst, die Verbände und die Kantone führen aus.

Die trotz aller Spannungen enge Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Verbänden fand auf politischer Ebene ihr Gegenstück in der Unterstützung der bürgerlichen Politik durch die Bauernorganisationen. Nach der Zolltarif-Auseinandersetzung 1902 wurde die Agrarpolitik getragen von einem informellen Bürgerblock aus den bürgerlichen Parteien, dem SBV, dem Schweizerischen Gewerbeverband und den Industrieverbänden, in denen freilich eine freihändlerische Minderheit ― oft gemeinsam mit der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Linken ― wegen der hohen Lebensmittelpreise im Namen der Konsumenten gegen die Agrarpolitik opponierte. In der Krise der 1930er Jahre kam dieses Bündnis unter zunehmenden Beschuss einer innerbäuerlichen Opposition, deren wichtigste Strömung die Jungbauernbewegung (Bauernheimatbewegung) war. Zusammen mit den Gewerkschaften suchte sie auf der Basis einer aktiven Konjunkturpolitik nach neuen Mehrheiten (Kriseninitiative, Richtlinienbewegung) – letztlich ohne Erfolg.

Die Erfahrung der Versorgungsschwierigkeiten im Ersten Weltkrieg prägte die agrarpolitische Diskussion der folgenden Jahrzehnte. Die Landesversorgung sollte durch eine Veränderung der Produktionsstruktur verbessert werden: Der dominierende und Überschüsse produzierende Milchsektor sollte eingeschränkt, der Ackerbau ausgedehnt werden. Solchen Absichten war lange Zeit wenig Erfolg beschieden. Die krisenhafte Zwischenkriegszeit machte vielmehr ― nicht zuletzt aus sozialpolitischen Gründen ― eine zunehmende Stützung des Milchsektors notwendig, wodurch der Milchpreis endgültig zum Politikum wurde. Erst der Plan Wahlen setzte während des Zweiten Weltkriegs mit Zwangsmassnahmen eine vorübergehende Produktionsumstellung durch (Anbauschlacht).

Weil es den Anhängern des Autarkiegedankens während des Krieges gelang, die planmässige Nahrungsmittelproduktion mittels einer Preis- und Absatzsicherung mit der Erhaltung der Unabhängigkeit des Landes zu verknüpfen, blieb dieser Gedanke in modifizierter Form auch in der Nachkriegszeit noch mehrheitsfähig, wie die Annahme der sogenannten Wirtschaftsartikel 1947 zeigt: Der Bund wurde im Artikel 31bis der Bundesverfassung ― «nötigenfalls in Abweichung von der Handels- und Gewerbefreiheit» ― befugt, Vorschriften «zur Erhaltung eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen Landwirtschaft, sowie zur Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes» zu erlassen. Konkretisiert wurde diese Befugnis im Landwirtschaftsgesetz von 1952, mit dem der Agrarsektor insgesamt vor den Auswirkungen der freien Marktwirtschaft geschützt werden sollte, ohne aber den Wettbewerb unter den einzelnen Produzenten aufzuheben. Die in der Verordnung von 1954 formulierte Zielsetzung der Preisgestaltung ― Betriebsleiter rationell bewirtschafteter Höfe durchschnittlicher Grösse sollten ein Einkommen erzielen, das dem eines gelernten Industriearbeiters vergleichbar war (Paritätslohn) ― stützte primär jene Höfe, die dank überlegener Ausstattung mit Boden und Kapital und dank der Nutzung aller Möglichkeiten des agrartechnischen Fortschritts Arbeitskräfte freisetzten. Kleinere sowie «rückständige» Betriebe wurden dadurch an den Rand gedrängt.

Trotz den massiven staatlichen Preisstützungen hinkten die Produzentenpreise in den 1950er Jahren stark hinter der allgemeinen Teuerung nach. Diese Entwicklung versuchten die Bauern mit Rationalisierungen (in der Landwirtschaft waren die Produktivitätsfortschritte in der Nachkriegszeit deutlich höher als in der Industrie) und einer Ausweitung der Produktion aufzufangen, was aber wiederum zu sektoriellen Überschüssen führte. Anstatt wie in den 1930er Jahren durch eine einzelbetriebliche Kontingentierung der Milch- und Schweineproduktion versuchten die Behörden nun mit Beiträgen, die steigenden Verwertungskosten in den Griff zu bekommen. Um die Kälbermäster gegenüber den stark gestützten Milchproduzenten nicht zu benachteiligen, erhielten Kuhhalter im Berggebiet ab 1959 Direktzahlungen, wenn sie keine Milch mehr ablieferten.

Der beschleunigte Strukturwandel, die umfassende Mechanisierung sowie der Ersatz einheimischer Dienstboten durch ausländische Landarbeiter führten zu einer Verunsicherung und einer Zunahme der Unzufriedenheit unter den Bauern. Diese manifestierte sich in Form von Milchstreiks, der Zerstörung von Importfrüchten (Saxon 1953) und grossen Bauerndemonstrationen vor dem Bundeshaus (1954 und 1961). Sowohl die Behörden als auch die Forschung und die offiziellen Bauernorganisationen rieten den unter Druck geratenen (Klein-)Bauern, mit einem Ausbau der Tierhaltung, vor allem der Schweine- und Kälbermast sowie der Geflügelzucht («innere Aufstockung»), den Rationalisierungsdruck auf betrieblicher Ebene aufzufangen.

Die enorme Steigerung der Produktion führte schon bald zu neuen Verwertungsschwierigkeiten, am augenscheinlichsten im Milchsektor (Butterberg 1967). Wirtschaftsliberale Kreise erhoben immer lauter die Forderung nach einer Ersetzung der Preisstützungsmassnahmen durch produktionsunabhängige Direktzahlungen. Anstatt die Produktion von Nahrungsmitteln zu fördern, die billiger zu importieren waren, solle der Bund dafür sorgen, dass die Landwirte das «öffentliche Gut Umwelt» produzierten und «konsumreif» machten, forderte zum Beispiel 1972 der Ökonom Henner Kleinewefers. Aus Angst, dass die Agrarpolitik damit von der wirtschafts- auf die sozialpolitische Ebene verlagert würde, wehrte sich der SBV bis Mitte der 1980er Jahre erfolgreich gegen eine Ausweitung der Direktzahlungen auf das Talgebiet.

Abstimmungsplakat zur Eidgenössischen Volksinitiative vom 4. Juni 1989, gestaltet vom Atelier Weibel (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Abstimmungsplakat zur Eidgenössischen Volksinitiative vom 4. Juni 1989, gestaltet vom Atelier Weibel (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Die in den 1980er Jahren stark an Gewicht gewinnende innerbäuerliche Opposition gegen die staatliche Agrarpolitik verhalf auch den mit ökonomischen und ökologischen Argumenten operierenden übrigen Kritikern zu einem Aufschwung und zu einer starken Beeinflussung des agrarpolitischen Diskurses. Agrarpolitische Vorlagen fanden in Volksabstimmungen keine Mehrheiten mehr (Zuckerbeschluss 1986, Rebbaubeschluss und Kleinbauern-Initiative 1989, Agrarvorlagen 1995). Für die Ende der 1980er Jahre einsetzenden Reformen (Abbau der Preisstützungen, Ausbau der Direktzahlungen) primär verantwortlich war jedoch der aussenpolitische Druck. Auch die Schweiz, eine der Mit-Initiantinnen der 1986 gestarteten 8. Welthandelsrunde des GATT (Welthandelsorganisation), der sogenannten Uruguay-Runde, in der eine Liberalisierung des Welthandels mit Agrargütern und ein Abbau der staatlichen Stützungsmassnahmen angestrebt wurden, verpflichtete sich zum Abbau der Preisstützungen und der Exportsubventionen. Unter diesem äusseren und inneren Druck steht die schweizerische Agrarpolitik seit den 1990er Jahren in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. 1996 wurde in einer Volksabstimmung die «Agrarpolitik 2002» (AP 2002), die eine markt- und umweltgerechte landwirtschaftliche Produktion anstrebt, verfassungsmässig verankert. Die Weiterentwicklung (AP 2007 und 2011) hatte 2009 unter anderem die Abschaffung der Milchkontingentierung zur Folge. 2008 leitete der Bund zur Vereinbarung eines Agrarfreihandelsabkommens Verhandlungen mit der EU ein; falls dieses Abkommen unterzeichnet wird, müssen für wirtschaftlich nicht lebensfähige Betriebe in Form von flankierenden Massnahmen Alternativen geschaffen werden. Obwohl die Agrarpolitik nur noch eine kleine und zudem schrumpfende Minderheit direkt betrifft (2008 zählten 3,9% der Erwerbstätigen zum 1. Sektor), beschäftigt sie die Öffentlichkeit weiterhin stark, weil sie mit dem Landschaftsbild und der Ernährung, mit Emotionen und ideologischen Vorstellungen verknüpft ist, und weil sie immer auch ein Stück weit die Zielvorstellungen der Gesellschaft widerspiegelt.

Quellen und Literatur

  • C. Quartier, Paysans aujourd'hui en Suisse, 1978
  • H.W. Popp, Agrarökonomie, 1983
  • H. Brugger, Agrarpolitik des Bundes seit 1914, 1992
  • W. Baumann, Bauernstand und Bürgerblock, 1993
  • P. Moser, Der Stand der Bauern, 1994
  • H.W. Popp, Das Jahrhundert der Agrarrevolution: Schweizer Landwirtschaft und Agrarpolitik im 20. Jh., 2000
Weblinks

Zitiervorschlag

Werner Baumann; Peter Moser: "Agrarpolitik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 16.08.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013789/2012-08-16/, konsultiert am 19.03.2024.