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Gewerbepolitik

Gewerbepolitik umfasst die Ausgestaltung des Verfassungs- und Gesetzesrahmens für das Gewerbe, ferner die Massnahmen des Staates und der massgebenden Verbände zu dessen Förderung und Lenkung. Das Gewerbe besteht aus den privatrechtlich geführten Betrieben des Handwerks, des Kleinhandels, des Gastgewerbes und anderer Berufe des Dienstleistungssektors sowie gewisser Teile der Inlandindustrie. Das Schwergewicht liegt auf den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU).

Ausbildung der Handels- und Gewerbefreiheit

Vor 1798 war das städtische Gewerbe durch die Zunftverfassung geregelt, das ländliche vielerorts durch sogenannte Ehaften den Bürgern vorbehalten. In den Länderorten beanspruchten die Landleute Vorrechte. Mit der helvetischen Umwälzung verloren die Zünfte ihre politischen Vorrechte sowie ihre Bedeutung als Berufsorganisationen und verschwanden sukzessive aus den Wirtschaftsordnungen der Kantone, zuletzt 1874 in Basel. Schrittweise setzte sich die Handels- und Gewerbefreiheit durch: Die helvetische Verfassung 1798 erwähnte sie noch nicht. Die Mediationsverfassung 1803 setzte den freien Verkehr von Lebensmitteln, Tieren und Kaufmannsgütern fest. Der Bundesvertrag von 1815 enthielt den Grundsatz der Freiheit von Kauf und Verkehr für Lebensmittel, Landeserzeugnisse und Kaufmannsware, zudem Schutzbestimmungen gegen Wucher und Vorkauf (Kauf zur Hortung zwecks Spekulation). Diese Regelung wurde von der Bundesverfassung (BV) 1848 übernommen, die zusätzlich das Recht auf freie Gewerbeausübung für Niedergelassene dekretierte. Erst die BV von 1874 (Artikel 31) gewährleistete die Handels- und Gewerbefreiheit in der ganzen Eidgenossenschaft, überliess aber deren Ausgestaltung wie bis anhin den kantonalen Gesetzgebungen.

Protektionistische Ära bis 1954

Das Gewerbe geriet nach der Aufhebung der Zunftverfassungen in Bedrängnis und reagierte mit dem Aufbau eines neuen Netzes lokaler und berufsbezogener Organisationen, die seit 1879 im Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) zusammengefasst sind; eine erste, 1849 ins Leben gerufene Dachorganisation hatte sich schon 1864 wieder aufgelöst. Der SGV spielt seit seiner Gründung als schweizerischer Spitzenverband bei der Gestaltung der Gewerbepolitik eine massgebliche Rolle. Die Gewerbepolitik war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt vom Bemühen, den Verfassungsgrundsatz der Handels- und Gewerbefreiheit durch eine eidgenössische Gewerbeordnung zum Schutz des Mittelstands zu ergänzen. Nach einem ersten gescheiterten Versuch 1894 gelang 1908 die Schaffung des Artikels 34ter der BV 1874, der dem Bund die Kompetenz zum Erlass einheitlicher Gewerbevorschriften erteilte. Für den Gewerbeschutz erwies sich der Artikel allerdings vorerst als wenig fruchtbar.

Nach dem Ersten Weltkrieg fanden Teile des Gewerbes in der 1919 gegründeten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei eine politische Heimat. Die Gewerbepolitik bestand weiterhin vor allem in der staatlichen Unterstützung gewerblicher Selbsthilfemassnahmen, wofür 1930 das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA, seit 1999 Staatssekretariat für Wirtschaft, Seco) geschaffen wurde. Die Weltwirtschaftskrise stärkte den Willen zum Eingriff in den Wettbewerb bzw. zum Erlass einer protektionistischen Gewerbeordnung auf gesamtschweizerischer Ebene. Mittels dringlicher Bundesbeschlüsse wurden Massnahmen zu Gunsten einzelner Wirtschaftsgruppen eingeführt; das bis 1945 immer wieder verlängerte Warenhausverbot von 1933 schützte zum Beispiel die Detaillisten.

Plakat zur Abstimmung vom 20. Juni 1954 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur Abstimmung vom 20. Juni 1954 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Der SGV entwickelte 1933 ein Modell für eine korporative Wirtschaftsordnung, das den Berufsverbänden öffentliche Aufgaben zuwies und die allgemeine Verbindlichkeit von Verbandsbeschlüssen vorsah (Korporativismus); die auch von vielen gewerblichen Gruppen befürwortete Totalrevision der BV im ständestaatlichen Sinn wurde aber 1935 vom Volk deutlich verworfen. In der vom Bundesrat eingesetzten Expertenkommission obsiegten 1937 dann die Prinzipien der Selbsthilfe, des Ausnahmecharakters von Schutzmassnahmen, der Missbrauchsbekämpfung und der Ablehnung einschränkender Massnahmen gegen Grossbetriebe. Der Bundesrat sollte jedoch Verbandsbeschlüsse für allgemeinverbindlich erklären können. 1939 lag der Entwurf für neue Wirtschaftsartikel vor; die Abstimmung wurde aber wegen des Kriegsausbruches verschoben. Bei der nochmaligen Beratung nach Kriegsende wurde die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung fallen gelassen. Allerdings räumte die Vorlage dem Bund die Möglichkeit ein, nötigenfalls abweichend von der Handels- und Gewerbefreiheit Vorschriften «zur Erhaltung wichtiger, in ihren Existenzgrundlagen gefährdeter Wirtschaftszweige» oder zur «Förderung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Selbständigerwerbenden» zu erlassen (BV 1874, Artikel 31bis). In dieser Form wurden die Wirtschaftsartikel 1947 knapp angenommen.

Gewerbepolitik seit 1954

"Für gute Arbeit: Ja zum Fähigkeitsausweis". Plakat zur Abstimmung vom 20. Juni 1954, das für ein Ja zum Bundesbeschluss über die Einführung eines Fähigkeitsausweises warb, gestaltet von Pierre Monnerat (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
"Für gute Arbeit: Ja zum Fähigkeitsausweis". Plakat zur Abstimmung vom 20. Juni 1954, das für ein Ja zum Bundesbeschluss über die Einführung eines Fähigkeitsausweises warb, gestaltet von Pierre Monnerat (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

In den 1950er Jahren beschloss der Bundesrat, für das bedrängte Schuhmacher-, Coiffeur-, Sattler- und Wagnergewerbe einen obligatorischen Fähigkeitsausweis als Voraussetzung für die selbstständige Erwerbstätigkeit einzuführen. In der vom Landesring der Unabhängigen verlangten Referendumsabstimmung von 1954 wurde der entsprechende Bundesbeschluss jedoch deutlich verworfen. Diese Abstimmung brachte eine Wende der Gewerbepolitik. In den Behörden und in Teilen des Gewerbes setzte sich die Auffassung durch, dass in einem marktwirtschaftlich orientierten Land staatliche Interventionen zum Schutz einzelner Branchen bzw. des Mittelstandes insgesamt weder politisch durchsetzbar noch wirtschaftlich sinnvoll seien. Die Gewerbepolitik bekämpft seither staatliche Interventionen – was aber nicht ausschloss, dass viele den Wettbewerb behindernde Regelungen erhalten blieben – und engagiert sich für die Schaffung guter Rahmenbedingungen für die gewerbliche Unternehmung. Dazu gehörten insbesondere eine mässige Belastung durch Steuern, Sozialabgaben und Verwaltungsgebühren, ferner unbürokratische und schnelle Bewilligungsverfahren. Verschiedentlich betrieben Bund und Gewerbekreise eine gegenläufige Gewerbepolitik, so zum Beispiel bezüglich der Finanzordnung 1970, des Konjunkturartikels 1975, der Preisüberwachung 1982 oder der Innovationsrisikogarantie 1985, wo sich die Unternehmerorganisationen (SGV, Vorort) – teilweise erfolgreich – gegen grössere Steuerkompetenzen der Bundesbehörden und gegen eine Ausweitung staatlicher Interventionsmöglichkeiten zur Wehr setzten. Höhepunkt dieser Entwicklung waren die im Hinblick auf die europäische Integration und die WTO und als Reaktion auf die steigende Arbeitslosigkeit 1992 einsetzenden Deregulierungs- und Revitalisierungsvorlagen (u.a. Kartellgesetz, Neuordnung des Submissionswesens, Binnenmarktgesetz). Andererseits bildet die gesamtwirtschaftliche Förderung benachteiligter Regionen, insbesondere der Berggebiete, ein Schwergewicht der Gewerbepolitik seit den 1970er Jahren. Auch der Rückgang des Gewerbes in den grossen Städten wurde zum Thema gewerbepolitischer Untersuchungen. Massnahmen zugunsten der KMU waren in den eidgenössischen Wahlen von 1995 und den folgenden Legislaturperioden ein wichtiges Thema der Parteipolitik, insbesondere der CVP, SVP und FDP.

Quellen und Literatur

  • HSVw 1, 573-581
  • O. Fischer, «Gewerbe und Wirtschaftspolitik», in Schweiz. Wirtschaftspolitik zwischen gestern und morgen, hg. von E. Tuchtfeldt, 1976, 407-415
  • Das Gewerbe in der Schweiz: 100 Jahre SGV 1879-1979, 1979
  • Regionalprobleme in der Schweiz, hg. von E.A. Brugger, G. Fischer, 1985
  • K. Angst, Von der "alten" zur "neuen" Gewerbepolitik (1930-1942), 1992
  • F.W. Gerheuser, J.-C. Perret Gentil, Gewerbeverdrängung, 1993
Weblinks

Zitiervorschlag

Hans Stadler: "Gewerbepolitik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 08.07.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013727/2010-07-08/, konsultiert am 29.03.2024.