de fr it

Siegel

Siegel dienen von alters her zum Verschliessen und zur Beglaubigung von Urkunden und anderen Dokumenten, zum Gütebeweis, zum Beispiel von Tuch, und als Ausweis, zum Beispiel zur Strassenzollbefreiung und für Gerichtsvorladungen. Zur Typologisierung der Siegel unterscheidet die Siegelkunde oder Sphragistik vor allem Stempel- und Siegelformen, Materialien, Farben, Bildmotive, Grösse, Anbringungs- und Verwendungsweisen.

Techniken und Materialien

Das Siegel, lateinisch sigillum (Diminutiv von signum, Bild, Kennzeichen), ist der Abdruck eines härteren Siegelstempels in einem weicheren Siegelstoff. Als Siegelstempel, auch Petschaft oder Typar genannt, dienen Roll-, Ring- (anulus, oft mit Gemmenstein) und Stempelsiegel genannte Prägeformen, die vor allem aus Metall, Stein, Bein und Gummi gefertigt sind. Als Siegelstoffe wurden Ton von der Antike bis in frühbyzantinische Zeit im Osten, Bienenwachs vor allem von römischer Zeit an und mit Harz gefestigtes Wachs im Früh- und Hochmittelalter verwendet. Die Metallsiegel aus Blei, Gold und selten aus Silber werden als Bullen bezeichnet. Bleibullen waren ab dem 1. Jahrhundert n.Chr. bekannt, insbesondere in der Papstkanzlei bis zu ihrer Ersetzung 1878 durch Farbstempel und in der Herrscherkanzlei von Karl dem Grossen bis zu Kaiser Heinrich IV. um 1100. Die Goldbullierung – ein Vorrecht der Herrscher – ist in Byzanz ab Justinian im 6. Jahrhundert v.Chr. bezeugt. Im Original erhaltene Goldbullen setzen im Heiligen Römischen Reich mit Kaiser Heinrich II. um 1020 ein. In Frankreich sind solche unter König Ludwig VII. aus dem 12. Jahrhundert nachgewiesen und je eine von König Ludwig XII. und Franz I. blieb erhalten. Gemäss Konrad von Mure prägte die Papstkanzlei zuweilen auch Goldbullen, wovon das älteste erhaltene Original von 1524 datiert und das letzte unter Pius VII. (1800-1823) hergestellt wurde. Aus Harz gefertigter Siegellack kam im 16. Jahrhundert auf, Oblaten aus Mehlteig fanden vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Verwendung, Papier ist seit der frühen Neuzeit ebenfalls gebräuchlich.

Vom späten 12. Jahrhundert an waren die häufigsten Siegelformen rund, oval und insbesondere für Geistliche sowie adlige weltlichen Frauen und Ordensfrauen spitzoval, ab den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts schildförmig. Die Siegelgrösse wies vom Frühmittelalter bis ins 14. Jahrhundert eine zunehmende Tendenz auf, dann setzte eine Verkleinerung ein. Farbige, vor allem rote Wachssiegel mehrten sich ab dem 12. Jahrhundert, wobei ausser bei den französischen Königsurkunden keine festen Regeln für die Anwendung bestimmter Farben bestanden.

Die Befestigungsart variierte je nach Material und Epoche. Beim durchgedrückten Siegel wurde das Wachs durch ein mittels eines Kreuzschnitts hergestelltes Loch auf das Pergament gedrückt. Das eingehängte Siegel entstand, indem beide Enden eines auf der Rückseite der Urkunde eng anliegenden Pergamentstreifens durch kleine Einschnitte nach vorn gezogen und unsichtbar in das Wachs eingebettet wurden. Das vorn aufgedrückte Siegel wurde mit dem Gebrauch von Lack-, Oblaten- und Papiersiegeln hauptsächlich als Verschluss verwendet. Das angehängte oder Hängesiegel wurde an Pergamentstreifen bzw. Seiden- oder Hanffäden freihängend am unteren Urkundenrand samt Plica (Umbug) angebracht und zum Schutz in eine Wachsschüssel, eine Holz- oder Metallkapsel gedrückt oder in ein Leinwandsäckchen eingenäht. Das abhängende Siegel wurde auf einem am unteren Urkundenrand bis zu drei Vierteln eingeschnittenen und umgefalteten Pergamentstreifen aufgedrückt.

Siegel können einseitig auf der Vorderseite (Avers) oder auch auf der Rückseite (Revers) bestempelt sein. Runde Hängesiegel mit gleich grossem Avers und Revers werden Münzsiegel, deutlich kleinere Siegel auf dem Revers Rücksiegel oder Gegensiegel (contrasigilla) genannt. Bullen sind in der Regel beidseitig geprägt.

Zu den Bildnissiegeln zählen die Siegel mit Porträt, stehender oder sitzender (Majestäts- und Thronsiegel) Ganzfigur, aber auch die ab dem 12. und 13. Jahrhundert häufiger vorkommenden Reitersiegel sowie die im 13. Jahrhundert verbreiteten Falkenjagdsiegel. Das Wappensiegel wurde ab Mitte des 12. Jahrhunderts oft als Gegensiegel benützt. Symbolsiegel enthalten ein für den Siegelführer charakteristisches Kennzeichen, zum Beispiel einen Turm und ein Mauerstück in einem Stadtabbreviatursiegel. Schriftsiegel zeigen im Siegelfeld ausschliesslich eine Schrift. Die Umschrift war später üblicherweise mit einer Begrenzungslinie vom Siegelbild abgetrennt. Sie nennt meist den Siegelinhaber, ab dem 13. Jahrhundert im Genitiv bei einleitendem S(ignum) bzw. S(igillum). Dabei fand bei der Auszeichnungsart der Buchstaben Ende des 14. Jahrhunderts ein Übergang von der Majuskel zur Minuskel statt.

Rechtliche Bedeutung des Siegels für Urkunden

Das Siegel war vor allem wegen seiner Bildhaftigkeit zunächst ein sekundäres Beglaubigungs- und Beweismittel neben der Zeugennennung. Nicht zuletzt die gesteigerte Schriftlichkeit, die wachsende Bedeutung des römisch-kanonischen Rechts sowie die aufkommenden Wappen führten ab dem 12. Jahrhundert zur allgemeinen Ausbreitung des Siegels. Dies erforderte eine juristische Festlegung seiner Beweiskraft. So prägte der 1159-1181 amtierende Papst Alexander III. den Begriff des sigillum authenticum, das neben der manus publica, dem Notariat, der Urkunde Beweiskraft verlieh. Die Führung eines authentischen Siegels war zunächst auf höhere Prälaten beschränkt, wurde aber bald stark ausgeweitet und mit der germanisch-rechtlichen Anschauung von der Siegelführung in eigener oder in fremder Sache verbunden. Für diese so entstandene Siegelurkunde konnte sowohl die Zeugenaufführung als auch die Chartularführung (vor allem in der Westschweiz) aufgegeben werden.

Wachssiegel (Durchmesser: 12,2 cm), angebracht an einer Urkunde von Königsfelden, Mitte 14. Jahrhundert (Staatsarchiv Aargau, Aarau).
Wachssiegel (Durchmesser: 12,2 cm), angebracht an einer Urkunde von Königsfelden, Mitte 14. Jahrhundert (Staatsarchiv Aargau, Aarau). […]

Verbreitung

Die Siegelpraxis gelangte vom Orient über die Griechen und Römer ins fränkische Reich. Von Karl dem Grossen an wurden mit antiken Gemmen geprägte Wachssiegel sowie Bleibullen zu Beglaubigungsmitteln. Unter Kaiser Otto I. wurde um 965 das Siegelbild des Herrschers als Krieger mit Schild und Lanze abgelöst vom frontalen Brustbild des Kaisers mit Krone, Kreuzzepter und Reichsapfel, dieses wiederum 996 unter Kaiser Otto III. von der Ganzfigur. Aus dem Thronsiegel entwickelte sich der Typus der späteren Herrschersiegel.

In Anlehnung an die Herrscherurkunden begann im 10. Jahrhundert der Adel zunächst in Bayern mit der Besiegelung von Urkunden. Ab 1140 besassen die Herzoge von Zähringen ein Standbildsiegel und ab 1169 ein Reitersiegel. Das Siegel der Grafen von Lenzburg von 1159 blieb als ältestes weltliches Siegel im alemannischen Raum der heutigen Schweiz erhalten. Als weitere Siegelführer traten 1214 die Grafen von Neuenburg auf, 1221 die Grafen von Greyerz, 1223 die Grafen von Kyburg, 1232 die Grafen von Habsburg sowie 1236 jene von Savoyen. Danach erfolgte eine allgemeine Verbreitung bei Niederadel, Bürgern, Städten und Ständen. Das älteste erhaltene deutsche Stadtsiegel datiert von 1149 von Köln. Bern besitzt eines von 1224, Zürich und Freiburg von 1225, Basel von 1225 und 1256, Uri von 1243, Avenches von 1270, Lausanne von 1282-1284 und Chur von 1282.

Zu den geistlichen Siegelführern gehörten an erster Stelle die Päpste. Ihre mit rotgelben Seidenfäden (cum serico) bzw. mit Hanfschnur (cum canapis) befestigten Bleisiegel erhielten unter Papst Paschalis II. 1094-1118 die endgültige Form mit Namens- und Apostelstempel. Daneben trat ab 1265 ein rotes Wachssiegel mit dem in einem Boot stehenden, Fisch fangenden Petrus (anulus piscatoris). Wohl zu den ältesten erhaltenen Bischofssiegeln aus Wachs gehört dasjenige Liuthards von Paderborn von 887.

Älteste Belege für die Siegelführung der Bischöfe samt den jeweiligen Domkapiteln und Offizialaten sind ab dem 11. Jahrhundert überliefert. Abgesehen vom literarisch bezeugten Siegel des 959/960-971 amtierenden St. Galler Abts Purchart war der Gebrauch des Siegels in den Klöstern ab dem 12. Jahrhundert zunächst von den Benediktineräbten bzw. -äbtissinnen und meist etwas später von den Konventen belegt. Das Generalkapitel der Zisterzienser verordnete ab 1200, das Abtsiegel mit der Abtgestalt mit Stab bzw. mit dem nur von einer Hand umfassten Stab darzustellen. Zisterzienserklöster führten ab Ende des 12. Jahrhunderts eigene Siegel. Ebenso nachgewiesen sind sie für die Klöster anderer Orden.

Älteste Belege der geistlichen Siegelführung

 BischofDomkapitelOffizialat
Basel101011831252
Chur1075um 11001273
Lausanne111511801260
Genf113112461225
Sitten118411891271
Konstanz1157-1256
  BenediktinerabtKonvent
Einsiedeln 11301249
Disentis 12. Jh.1237
Engelberg 11641241
Erlach 1185-
Fraumünster 12211316
Muri 12421312
Müstair 12531295
  ZisterzienserabtKonvent
Hautcrêt 11781340
Hauterive 11921348
St. Urban 12201340
Maigrauge 1326um 1350
Älteste Belege der geistlichen Siegelführung -  Pascal Ladner

Siegel in der Neuzeit

Nachdem sich die Siegelführung im Spätmittelalter ausgeweitet hatte, veränderte sich die Rolle des Siegels ab dem 16. Jahrhundert in Folge der zunehmenden Bedeutung der eigenhändigen Unterschrift als dem verbindlichen Beglaubigungsmittel, ohne dass das Siegel aber ganz verdrängt wurde. Zu dieser Entwicklung trugen die stärkere Verbreitung der Schreibfähigkeit und die immer wichtigere Stellung des öffentlichen Notariats bei. In der frühen Neuzeit setzte deshalb bei der Beglaubigung von Rechtsschriften ein Rückgang des Siegelgebrauchs durch Private ein. Herrscher, weltliche und geistliche Fürsten und Institutionen, Städte und Klöster führten neben der zunehmend massgebenden Unterschrift weiterhin Siegel. Die ursprünglich persönlichen Siegelstempel der jeweiligen Amtsträger wurden vor allem im Bereich der öffentlichen Ämter, Behörden und Gerichte durch amtliche Typare ersetzt, die über längere Zeit von mehreren Amtsnachfolgern geführt werden konnten. Das persönliche Siegel, meist als kleinformatiges, rundes Wappensiegel, seltener als Buchstaben- oder Initialensiegel ausgestaltet, wurde in der Neuzeit mehrheitlich zum Verschliessen privater Briefschaften oder auch zur Eigentumskennzeichnung von Waren benutzt.

Die Französische Revolution und ihre Folgen mit tiefgreifendem strukturellen Wandel veränderte das Siegelwesen auch in der Schweiz grundlegend. Die administrative Neugestaltung der Helvetischen Republik liess eine grosse Zahl neuer Siegel entstehen, da nahezu alle Ämter, Behörden und Distrikte eigene Dienstsiegel erhielten. Als Siegelbilder dienten vor allem die Figur Wilhelm Tells mit seinem Knaben, seltener das Liktorenbündel oder auch eine sitzende Frauenfigur wie die Helvetia. Auch reine Schriftsiegel und frühe Farbstempel ersetzten das Siegel. Die Entwicklung der staatlichen Dienstsiegel setzte sich auf eidgenössischer Ebene mit dem Bundessiegel von 1815 fort, das zum ersten Mal das weisse Kreuz auf rotem Grund als offizielles Schweizerwappen zeigte, umgeben vom Kranz der Kantonswappen. Diese Darstellung wurde 1848 vom grossen Siegel des neuen Bundesstaats übernommen.

Das 19. und 20. Jahrhundert erlebte die Neuschöpfung einer Vielzahl von Dienstsiegeln der Verwaltungsstellen auf allen politischen Stufen, die meistens als Schriftsiegel gestaltet waren, in der Bildgestaltung teilweise aber auch auf traditionelle Vorbilder zurückgriffen. Der Gebrauch von Präge-, Farbdrucksiegeln und Farbstempeln setzte sich allgemein durch. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind das Siegeln bei der Beurkundung von amtlichen Dokumenten wie Urkunden und Ausweisen sowie das amtliche Verschliessen (Plombieren) von Behältnissen und Räumen mit Hilfe von Siegeln praktisch nur noch im öffentlichen Bereich üblich, wogegen im privaten Geschäftsverkehr die eigenhändige Unterschrift zur Beglaubigung in der Regel ausreicht.

Wissenschaftliche Betreuung der Siegel in der Schweiz

Die wissenschaftliche Betreuung der Siegel obliegt im Prinzip den Archiven. Originale Siegelstempel aus dem Mittelalter bis in die Neuzeit werden in mehreren kulturhistorischen Museen aufbewahrt. Die Siegelsammlung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich umfasst ca. 80'000 Siegelabdrücke und Siegelkopien sowie rund 800 Siegelstempel. Mit Siegelkunde befasst sich auch die Schweizerische Heraldische Gesellschaft. Sphragistik wird an den Universitäten neben der Urkundenlehre (Diplomatik) als Teil der historischen Hilfswissenschaften gelehrt.

Quellen und Literatur

  • E. Kittel, S., 1970
  • R. Gandilhon, M. Pastoureau, Bibl. de la sigillographie française, 1982
  • Vocabulaire international de la sigillographie, 1990
  • LexMA 7, 1848-61
  • Bibl. zur Sphragistik, hg. von E. Henning, G. Jochums, 1995
  • A. Stieldorf, Siegelkunde, 2004
  • Das Siegel, hg. von G. Signori, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Pascal Ladner; Matthias Senn: "Siegel", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.12.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012808/2012-12-19/, konsultiert am 17.04.2024.