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Chorwesen

Unter Chorwesen wird hier ein Teilgebiet der Musikgeschichte verstanden, das die Entstehung, Entwicklung und Bedeutung verschiedener Vereinigungen von Sängern, deren musikalische Literatur sowie deren Verbandswesen umfasst. Sänger sind in weltlichen und kirchlichen Laienchören oder professionellen Chören organisiert, die seit dem Mittelalter auch einen Teil der religiösen, sozialen und politischen Kultur darstellen.

Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert

Das Chorwesen entwickelte sich im Raum der heutigen Schweiz als Bestandteil der kulturellen Handlung in der Kirche. Der Chor bestand als Schar der Lobpreisenden entweder aus der Gemeinschaft der Kleriker mit dem Volk oder allein aus Klerikern. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts ging aus Letzteren der geschulte Sängerchor hervor, der sich in einem vom Laienbereich getrennten Teil der Kirche aufhielt (Chor, Empore). Die beiden Klöster St. Gallen und Einsiedeln verfügten über die berühmtesten Sängerschulen des Mittelalters.

Waren früher nur der einstimmige Gesang, der gregorianische Choral (Gregorianischer Gesang) und das Volkslied gepflegt worden, so führten gegen Ende des 15. Jahrhunderts auch deutsche Komponisten in der Tradition der franko-flämischen Schule den mehrstimmigen Satz ein. Die Chorkomposition erlebte in der Folge eine hohe Blüte. Der in Deutschland wirkende Schweizer Ludwig Senfl war einer der ersten, der die polyfone Satztechnik nutzte. In der Reformationszeit verbannte Huldrych Zwingli den Gesang aus der Zürcher Kirche. Johannes Calvin führte 1537 den einstimmigen, unbegleiteten Psalmengesang ein (Kirchenlied). Der französische Komponist Claude Goudimel vertonte die Psalmen vierstimmig und fasste sie in einem Chorbuch zusammen. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erschienen weitere geistliche Chorsammlungen, deren früheste an die Goudimel-Psalmen anknüpfen. Die bedeutendste des 17. Jahrhunderts war die 1682 von Christian Huber herausgegebene «Geistliche Seelenmusik»; im 18. Jahrhundert war es die Sammlung «Singendes und Spielendes Vergnuegen Reiner Andacht» (1752) von Johannes Schmidlin.

Zum Mittelpunkt einer neuen Entwicklung des Chorwesens wurden die Stadt Zürich und Wetzikon (ZH). 1754 gründete Pfarrer Johannes Schmidlin in Wetzikon den ersten, aus 200 Männern und Frauen bestehenden volkstümlichen Gesangsverein. Angeregt durch die volkstümlich-patriotischen Dichtungen von Johann Kaspar Lavater komponierte Schmidlin die 1769 erschienenen «Schweizerlieder» und wurde damit zum Begründer der weltlichen Liedkomposition in der Schweiz. Auch Schmidlins Schüler Johann Heinrich Egli, Johann Jakob Walder und Hans Georg Nägeli, welche die sogenannte Wetziker Schule bildeten, komponierten vorwiegend weltliche Lieder. Im französischsprachigen Gebiet setzte der Aufschwung des Gesangs etwas später ein und erreichte seinen Höhepunkt mit Jean Bernard Kaupert, der in den 1830er Jahren Gesangskurse veranstaltete und eine Liedersammlung veröffentlichte («Chant national suisse»).

Das 19. Jahrhundert

Die eigentliche Schöpfung des 19. Jahrhunderts ist der Männerchorgesang. Seine Entstehung verdankte er der mit der Aufklärung eingetretenen Umgestaltung des Geisteslebens. Damit einher ging die Entdeckung volkstümlicher Werte, die zunehmend patriotische Gesinnung und die Freude am geselligen Kreis (Vereine). Als Begründer des weltlichen Männerchorgesangs gilt Hans Georg Nägeli, der den unbegleiteten vierstimmigen Männerchor an die Stelle des von Männer-, Frauen- und Knabenstimmen getragenen, durch den Generalbass gestützten Gesangs setzte.

Im Zuge der politischen und sozialen Aufklärung setzte sich Nägeli als Musikpädagoge im Sinne Johann Heinrich Pestalozzis stark für die musikalische Volksbildung ein. 1805 initiierte er in Zürich mit dem Singinstitut die erste nicht kirchliche Sängerschule, 1808 war er Mitbegründer der Schweizerischen Musikgesellschaft in Luzern, und 1817 gab er zusammen mit dem Wettinger Musikpädagogen Michael Traugott Pfeiffer eine bahnbrechende «Gesangsbildungslehre» für Männerchöre heraus. Einer seiner bedeutendsten Anhänger war der Luzerner Komponist Franz Xaver Schnyder von Wartensee, der zahlreiche vierstimmige Lieder für Männerchöre schrieb. Auch im süddeutschen Raum regte Nägelis Gedankengut die Gründung von Männerchören an.

Fest des Sängervereins Stäfa 1832. Kolorierte Lithografie von G. Werner (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-45697).
Fest des Sängervereins Stäfa 1832. Kolorierte Lithografie von G. Werner (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, LM-45697).

In den Kantonen schlossen sich die grösseren Männerchöre zu Kantonsgesangsvereinen zusammen. Der Appenzellische Sängerverein führte 1825 das erste Kantonale Sängerfest durch. Nach diesem Vorbild veranstalteten die neuen Kantonalverbände in regelmässigen Abständen ihre Feiern, welche bis in die Gegenwart wichtige Treffpunkte der Chorsänger sind. Eines der wichtigsten Kantonalen Sängerfeste war jenes des Aargauischen Kantonalverbands von 1842. Zu diesem Fest wurden erstmals auch Männerchöre anderer Kantone eingeladen, was zur Gründung des Eidgenössischen Sängervereins führte. Im Gesang der Männer- und Massenchöre an den Eidgenössischen Sängerfesten, die ab 1843 regelmässig durchgeführt wurden, fand die damals herrschende patriotische, freisinnige und freiheitliche Gesinnung ihren begeisterten Ausdruck (Eidgenössische Feste). Sie spiegelt sich auch in den sogenannten Nationalliedern, unter anderen dem 1841 von Leonhard Widmer und Alberik Zwyssig komponierten Schweizerpsalm «Trittst im Morgenrot daher», seit 1981 offizielle Landeshymne der Schweiz. Zu den bedeutendsten Nationalliedern gehört auch «O mein Heimatland» (1846) von Gottfried Keller und Wilhelm Baumgartner. Die neue Gattung Männerchorballade, die der Zürcher Komponist und Dirigent Friedrich Hegar in den 1860er Jahren einführte, wirkte belebend auf das Chorwesen. 1888 entstand der Schweizerische Arbeitersängerverband (Arbeitervereine), 1896 der Schweizerische Kirchengesangbund. Beide Verbände haben bis in die Gegenwart Bestand.

Das 20. Jahrhundert

Probe eines Männerchors im Kanton Appenzell Innerrhoden. Fotografie von Dany Gignoux, 1977 (Bibliothèque de Genève).
Probe eines Männerchors im Kanton Appenzell Innerrhoden. Fotografie von Dany Gignoux, 1977 (Bibliothèque de Genève).

Im Zuge der sich entwickelnden Männerchorbewegung wurden zur Pflege der grossen Oratorien auch gemischte Chöre gegründet. Sie schlossen sich 1911 zum Schweizerischen Verband gemischter Chöre zusammen. Da die führenden Komponisten die Gattung Frauenchor vernachlässigten, formierten sich Frauenchöre langsamer. Sie vereinigten sich erst 1942 im Verband der Schweizerischen Frauen- und Töchterchöre. Trotz seiner schnellen und weiträumigen Verbreitung erfuhr der Chorgesang auch manche Verflachung in der Routine des Konzertbetriebs und im starren Vereinsleben. Neuen Antrieb brachte in den 1920er Jahren die Singbewegung. Sie ging von der Jugendbewegung in Deutschland aus, welche sich für die Erneuerung der bürgerlich-städtischen Musikkultur einsetzte. Insbesondere im schulischen Bereich gelangen der Jugendmusikbewegung bedeutende Reformen: die Einführung spezieller Ausbildungen für Musiklehrer, die Gründung von Gymnasien mit musikalischem Schwerpunkt und von Schulchören sowie die Ausarbeitung von Konzepten für die musikalische Bildung und einen kindergerechten Musikunterricht. Im ausserschulischen Bereich kam es ebenfalls zu Neugründungen von Chören, Volks- und Jugendmusikschulen. Daneben wurden Sing- und Musikwochen sowie Offene Singen für jedermann veranstaltet. Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung war der Winterthurer Chorleiter Willi Gohl.

Das wachsende Freizeitangebot und das schwindende Bewusstsein um den sozialen und kulturellen Wert des Singens sind Zeiterscheinungen, denen sich die Schweizerische Chorvereinigung (SCV) entgegensetzt. Sie entstand 1977 durch den Zusammenschluss des Eidgenössischen Sängervereins, des Schweizerischen Verbandes Gemischter Chöre und des Verbandes der Schweizer Frauen- und Töchterchöre. Die SCV veranstaltet die Schweizerischen Sängerfeste, gibt als Verbandsorgan die «Schweizerische Chorzeitung» heraus, führt neben Kursen für Chorleiter seit 1988 nationale Chorwettbewerbe durch und schreibt zur Förderung neuer Chorliteratur Kompositionswettbewerbe aus. Der Zusammenschluss der drei grossen Chorverbände zur SCV verleiht dem Chorwesen in der Schweiz auch kulturpolitisch grösseres Gewicht.

Quellen und Literatur

  • Die Schweiz, die singt, hg. von P. Budry, 1932
  • A.-E. Cherbuliez, Die Schweiz in der dt. Musikgesch., 1932
  • Schweizer Musikbuch, hg. von W. Schuh, 2 Bde., 1939
  • R. Thomann, Der Eidg. Sängerverein, 1942
  • Musica Aeterna, hg. von G. Schmid, 2 Bde., 1948
Weblinks

Zitiervorschlag

Sibylle Ehrismann: "Chorwesen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.12.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011883/2021-12-06/, konsultiert am 28.03.2024.