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Musiktheater

Als Verbindung von Musik und szenischer Darstellung umfasst Musiktheater im weiten Sinn vor allem Oper, Operette und deren Vorläufer sowie das experimentelle Musiktheater des 20. Jahrhunderts, Ballettmusik (Ballett und Tanz), Musical und Musik für Festspiele.

Musiktheater bis ins 18. Jahrhundert

Vorläufer des Musiktheaters waren die mittelalterlichen geistlichen Spiele und das Musiktheater an Klöstern und Jesuitenschulen (v.a. am Kloster Einsiedeln, ab 1578 am Jesuitengymnasium in Luzern und ab 1646 in Solothurn). Fehlendes fürstliches Mäzenatentum und strenge Sittenregeln in den reformierten Gebieten behinderten jedoch die Entwicklung des Musiktheaters in der Schweiz. In der katholischen Kurstadt Baden, die als erste schweizerische Stadt ab 1675 einen eigenen Theatersaal besass, boten Wandertruppen unter anderem Theater mit Bühnenmusik oder kantatenartiger Zwischenaktmusik, Singspiele und eigentliches Musiktheater dar. In Luzern, wo 1740 das Jesuitentheater zum Obrigkeitlichen Comödienhaus geworden war, entstanden Ende des 18. Jahrhunderts Opern, Operetten, Singspiele, Opernpantomimen und Bühnenmusiken (u.a. 1781 die komische Dialektoper "Die Engelberger Talhochzeit" von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee). Auch in anderen deutschsprachigen Städten wurden häufig Marionettentheater und Musiktheateraufführungen bewilligt. Es gibt auch Hinweise darauf, dass durchreisende Truppen in geschlossenen Gesellschaften in Privat- und Zunfthäusern Teile aus Opern und Singspielen konzertant aufführten.

Die Städte in der französischen Schweiz eröffneten erst nach 1760 eigene Theater. Genf, ab dem 17. Jahrhundert oft Schauplatz von Wandertruppen mit Musiktheater, erlebte die erste dokumentierte Opernaufführung 1766 im Théâtre de Rosimond (1768 abgebrannt), Neuenburg im selben Jahr im Bâtiment de Musique. Bedeutend für die Entwicklung der französischsprachigen Opéra comique und des Melodramas war Jean-Jacques Rousseau mit seinem Singspiel "Le Devin du village" (1752).

Noch wenig erforscht ist die Geschichte des Musiktheaters im Tessin und dessen Beziehungen zu den italienischen Nachbarstädten. Im 17. und 18. Jahrhundert sind bewilligungspflichtige Opernaufführungen in Privathäusern für Bellinzona und Lugano (dort auch im Collegio di Sant'Antonio) dokumentiert, für das 18. und 19. Jahrhundert in Locarno in der Sala grande comunale im Palazzo governativo.

Das 19. und 20. Jahrhundert

Innenaufnahme des Teatro Sociale in Bellinzona anlässlich der Eröffnungsfeier nach der Restaurierung, 9. Oktober 1997 © KEYSTONE / Karl Mathis.
Innenaufnahme des Teatro Sociale in Bellinzona anlässlich der Eröffnungsfeier nach der Restaurierung, 9. Oktober 1997 © KEYSTONE / Karl Mathis. […]

Seit der Helvetik sind in der reformierten Deutschschweiz zunehmend Opernaufführungen dokumentiert, so in Bern ab 1799 und in St. Gallen ab 1803 (1805 Eröffnung des Aktientheaters). Von den 1830er Jahren an entstanden auch in den anderen Städten feste Theater mit regelmässigen Musiktheateraufführungen. Das 1891 erbaute neue Stadttheater in Zürich wurde als erstes Haus ab 1926 ein reines Operntheater (seit 1964 Opernhaus). In Genf setzte sich die Tradition des Musiktheaters aus dem 18. Jahrhundert fort, in Lausanne gab es nach deutschsprachigen Aufführungen zwischen 1830-1865 und ab 1871 im Théâtre municipal (seit 1983 Opéra de Lausanne) feste Opernspielpläne, seit 1954 finden Operngastspiele und Ballettaufführungen auch im Théâtre de Beaulieu statt (1987-2007 durch Maurice Béjart). In der italienischen Schweiz wurden auf den Bühnen von Lugano im ganzen 19. Jahrhundert Opernaufführungen gezeigt, das 1846-1847 erbaute Teatro Sociale in Bellinzona bot 1876 erstmals eine ganze Opernsaison. In Brissago wurde 1999 eine Stiftung mit Museum und Festwochen zu Ehren des italienischen Opernkomponisten Ruggero Leoncavallo gegründet, der 1904-1914 dort lebte.

Das Repertoire war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Opéra comique eines François Adrien Boieldieu, Etienne Nicolas Méhul und Daniel-François-Esprit Auber oder von den Opern von Carl Maria von Weber geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich die Opern von Wolfgang Amadeus Mozart und die italienischen Opern durch. Von Zürich aus, wo Richard Wagner 1853 selbst erstmals Auszüge aus dem "Ring der Nibelungen" vorgelesen hatte, eroberten dessen Opern nach und nach die Musiktheaterbühnen der Schweiz.

Für viele Schweizer Theater stellte damals die Besetzung der Opern ein grosses Problem dar; sie griffen daher oft auf die grossen Laienchöre der jeweiligen Stadt zurück. Umgekehrt wagten sich aber auch Gesangvereine und Laientheater an die Aufführung von Opern, legten allerdings das musikalische Schwergewicht auf die Chöre und überliessen den Instrumentalpart meist nur dem Klavier oder einigen wenigen Instrumentalisten. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Oper aber die städtischen Bühnen erobert und galt nun als Prestigeobjekt kommunaler Kulturpolitik. Als wenig gehörter Reformer der Wagner-Aufführungen (Inszenierungen in Mailand und Basel) profilierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Adolphe Appia. Zum führenden Institut entwickelte sich im späten 20. Jahrhundert das Zürcher Opernhaus mit wichtigen Ur- und Erstaufführungen und bedeutenden Zyklen (u.a. dem Monteverdi-Zyklus 1975-1979 und dem Mozart-Zyklus 1980-1987 mit Jean-Pierre Ponnelle und Nikolaus Harnoncourt). Wenn auch vorübergehend von einer Jugend- und Alternativkultur als elitär angefeindet (Zürcher Opernhauskrawall, 1980), erlangte das Haus unter dem Intendanten Alexander Pereira (1991-2012) internationale Bedeutung. Gleichzeitig setzte im Anschluss an die Musicalwelle eine Popularisierung der Oper ein: unter anderem im römischen Amphitheater von Avenches (Festival d'opéra seit 1994), im Fussballstadion St. Jakob in Basel und beim Ope(r)n Air auf der Waldbühne in Arosa finden Freilichtaufführungen mit jeweils mehreren Hundert Mitwirkenden statt.

Eine ganz andere Tradition des Musiktheaters erwuchs aus dem nationalen Festspiel um die Wende zum 20. Jahrhundert; das erste klassische Festspiel, die Sempacher Schlachtfeier von 1886, entstand durch die Umarbeitung einer Kantate von Gustav Arnold in ein Bühnenstück. Angesehene Musiker wie Hans Huber, Emile Jaques-Dalcroze, Karl Munzinger und andere komponierten die Musik zu weiteren Festspielen der Jahrhundertwende. Eine Spätblüte erlebte das Festspiel in der Zeit der geistigen Landesverteidigung (u.a. "Sacra Terra del Ticino" 1939). In der Heimatschutzbewegung wurde in einigen Regionen das Singspiel populär (u.a. "Dursli und Babeli" von Edmund Wyss, 1913) .

Neue Impulse kamen von Werken, die sich von der grossen Oper entfernten wie Igor Strawinskys "Histoire du soldat" (Uraufführung 1918 in Lausanne), aber auch vom epischen Theater (Bertolt Brecht), der Revue und dem Cabaret. Nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte auch das amerikanische Musical die Schweizer Bühnen. Mit dem Eventmarketing in den 1990er Jahren hielt das Show-Musical Einzug (u.a. "Cats", "Hair", "The Phantom of the Opera", "Jesus Christ Superstar"). Es gastierte in Werk- und Messehallen, die zu kommerziell betriebenen Musical-Theatern umgebaut wurden (1991-1998 Musical-Theater in der Fabrikhalle der ABB in Zürich Oerlikon, seit Dezember 2006 in Zürich das Theater 11 im umgebauten Stadthof 11, 1994 Musical-Theater Basel in der Messehalle 106, seither in Halle 107). Das Schweizer Musical "Space Dream" von Harry Schärer und den Think Musicals AG erlebte von 1994 bis 2007 mehr als 1000 Aufführungen in Berikon, Baden, Berlin und Winterthur mit rund 620'000 Zuschauern.

Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts

Plakat für die deutschsprachige Erstaufführung von Sergej Prokofjews Oper im Opernhaus Zürich, entworfen von der Werbeagentur Josef Müller-Brockmanns, 1965 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für die deutschsprachige Erstaufführung von Sergej Prokofjews Oper im Opernhaus Zürich, entworfen von der Werbeagentur Josef Müller-Brockmanns, 1965 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Viele Schweizer Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts wie Hermann Goetz ("Der Widerspenstigen Zähmung" 1874), Franz Xaver Schnyder von Wartensee, Joachim Raff (sechs Opern), Felix Draeseke (sieben Opern), Alois Methfessel, Charles Samuel Bovy-Lysberg orientierten sich stilistisch an der deutschen und französischen Oper. Eine neue musikalische Entwicklung, die sich von der Tradition des Wagner'schen Musikdramas und der Gattung der Oper distanzierte, leitete unter anderem das Werk von Emile Jaques-Dalcroze und Frank Martin, aber vor allem die Musiktheateraufführungen am Théâtre du Jorat in Mézières (VD) ein, wo es zu einer Zusammenarbeit zwischen René Morax, Gustave Doret und Arthur Honegger kam (szenisches Oratorium "Jeanne d'Arc au bûcher" 1935). Die ältere deutschsprachige Generation mit Hans Huber, aber auch noch Othmar Schoeck, blieb stilistisch mit der deutschen Musik des späten 19. Jahrhunderts verbunden. Schoecks frühe Opern (u.a. "Penthesilea" 1923-1925) führten darüber hinaus zum Expressionismus, Modernismus und epischen Theater, während sich seine späteren Opern dem Stil der 1930er Jahre von Richard Strauss annäherten. Opern im herkömmlichen Sinn schrieben auch Heinrich Sutermeister (sieben Opern, 1936-1985) und Rudolf Kelterborn (sechs Opern bis 1991), während Willy Burkhard, Armin Schibler (u.a. "Antoine und die Trompete" 1983, mit Jazz-Rockgruppe) und Wladimir Vogel (das Dramma-Oratorio "Die Flucht" nach Robert Walser, 1966) neue musikdramatische Strukturen suchten. Paul Burkhard, zunächst als Komponist von Bühnenmusiken für das Zürcher Schauspielhaus tätig (1941 Musik zur Uraufführung von Brechts "Mutter Courage"), komponierte 1951 "Die kleine Niederdorfoper", die von Cabaret und Revue geprägt ist. Der Einfluss des Musicals zeigt sich in den Werken von Guy Bovet, Bruno Spoerri und Hans Moeckel. Klaus Huber ("Jot oder wann kommt der Herr zurück" 1972-1973, "Im Paradiese oder Der Alte vom Berge" 1975, "Schwarzerde" 1997-2001), Jürg Wyttenbach (u.a. "Gargantua chez les Helvètes du Haut-Valais oder: Was sind das für Sitten!?" 2001) und Heinz Holliger (u.a. "Der magische Tänzer" 1963-1965, "Schneewittchen" 1998) näherten sich dem "pluralistischen Musiktheater" um Bernd Alois Zimmermann mit Einbezug von Gebärde, Tanz und Pantomime. Gion Antoni Derungs komponierte 1984 und 1996 zwei Opern in rätoromanischer Sprache. Rolf Liebermann, der sechs Opern (u.a. die Jazz-Oper "Cosmopolitan Greetings" 1988, mit George Gruntz), Filmmusik, Bühnenmusik und Opernfilme schuf, machte als Intendant die Hamburger Staatsoper zu einem bedeutenden Zentrum des modernen Musiktheaters (1959-1973 und 1985-1988).

Quellen und Literatur

  • F. Gysi, «Oper und Festspiel», in Schweizer Musikbuch 1, 1939, 210-234
  • A.-E. Cherbuliez, «Gesch. der Musik in der Schweiz», in Musica Aeterna 2, 1948, 199-388
  • J. Burdet, La musique dans le canton de Vaud au XIXe siècle, 1971, 223-257, 644-662
  • Musiktheater: zum Schaffen von Schweizer Komponisten des 20. Jh., hg. von D. Baumann, 1983
  • G. Appolonia, Duecento anni di opera a Lugano, 1996
  • Musiktheater heute, hg. von H. Danuser, 2003
  • TLS
Weblinks

Zitiervorschlag

Dorothea Baumann: "Musiktheater", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.04.2016. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011882/2016-04-04/, konsultiert am 29.03.2024.