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WolfgangStammler

5.10.1886 Halle an der Saale, 3.8.1965 Hösbach (Franken), protestantisch, ab 1950 katholisch, Deutscher. Professor für germanische Philologie.

Wolfgang Stammler porträtiert um 1950 vom Photo-Atelier V. Ihlée (links) und um 1960 von Foto-Zwicker, Würzburg (Universitätsarchiv Freiburg, C_160.7.9 und C_160.7.10).
Wolfgang Stammler porträtiert um 1950 vom Photo-Atelier V. Ihlée (links) und um 1960 von Foto-Zwicker, Würzburg (Universitätsarchiv Freiburg, C_160.7.9 und C_160.7.10).

Wolfgang Stammler wuchs als Sohn des Rechtsphilosophen Karl Eduard Julius Theodor Rudolf Stammler und der aus Lissabon stammenden Franziska (Fanny) geborene da Silva e Costa in Halle auf, wo er 1904 das Abitur ablegte. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Halle, Berlin und Leipzig, bestand 1908 das Staatsexamen und promovierte in Halle. Anschliessend unterrichtete Stammler bis 1914 als Lehrer in Hannover. 1911 heiratete er Lilli Katharina Hildegard Loening, die aus einer zum Christentum konvertierten jüdischen Familie stammte (1930 Scheidung); ihr Grossvater, der Verleger Karl Friedrich Loening (bis 1847 Zacharias Loewenthal), stand in engem Kontakt zur literarischen Vormärz-Bewegung um Heinrich Heine. Der Ehe entsprangen zwei Kinder: Heinrich Stammler, erster Lehrstuhlinhaber für Slawistik an der University of Kansas, und Almut Stammler.

Wolfgang Stammlers Rede Germanisches Führerideal, gehalten am 17. Januar 1931 zum 60. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reichs, gedruckt im Band 28 der Greifswalder Universitätsreden (Universitätsbibliothek Basel, UBH AT Gri 4a:28).
Wolfgang Stammlers Rede Germanisches Führerideal, gehalten am 17. Januar 1931 zum 60. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reichs, gedruckt im Band 28 der Greifswalder Universitätsreden (Universitätsbibliothek Basel, UBH AT Gri 4a:28).

1914 habilitierte sich Stammler an der Technischen Hochschule (TH) Hannover in germanischer Philologie. Im Ersten Weltkrieg diente er als Flieger, wurde mehrfach verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz 1. und 2. Klasse. Als Professor für deutsche Sprache und Literatur lehrte er 1918-1919 an der estnischen Universität Dorpat (Tartu). Von Februar 1919 bis September 1920 kämpfte er im Freikorps Hülsen; danach unterrichtete er als ausserordentlicher Professor an der TH Hannover. Die Universität Greifswald berief Stammler 1924 zum Ordinarius für germanische Philologie. 1931 nahm er eine Austauschprofessur in London, Oxford und Manchester wahr. Zuvor hatte er am 17. Januar desselben Jahres anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung des Deutschen Reichs an der Universität Greifswald eine Rede mit dem Titel Germanisches Führerideal gehalten; Stammler, Mitglied einer schlagenden Verbindung und rhetorisch begabt, wollte «gemeingermanischen Geist» wiederbeleben, «der an sich nicht von Schädelform und Haarfarbe abhängt».

Stammler gehörte nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) an, trat aber verschiedenen parteinahen Organisationen bei (Marine-Sturmabteilung, Nationalsozialistischer Lehrerbund), spielte in der Bücherverbrennung auf dem Greifswalder Marktplatz vom 10. Mai 1933 eine unrühmliche Rolle und publizierte Für den deutschen Geist in der Greifswalder Zeitung (Mai 1933). Für die dem Propagandaminister Joseph Goebbels gewidmete Gedichtsammlung Uns trägt ein Glaube von 1934 steuerte er das Gedicht Verkündigung bei. Am 5. Dezember 1936 wurde Stammler ohne Begründung nach Paragraf 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 in den Ruhestand versetzt. Die Gründe für seine Entlassung wurden nie zweifelsfrei geklärt; genannt werden in den Nachrufen einerseits eine mögliche Disziplinierung wegen kritischer Biertischäusserungen gegenüber dem Nationalsozialismus, andererseits grosse Schulden, die Stammler im Lauf der Zeit angehäuft hatte. Zusammen mit der Pension und Geld aus einem Verlagsvertrag lebte er bis 1939 auskömmlich als Privatgelehrter in Berlin. Während des Zweiten Weltkriegs war Stammler 1941 als Leiter des Sachgebiets Presse und Propaganda der Luftwaffe in Norwegen tätig. Im gleichen Jahr bewarb er sich vergeblich um einen Lehrstuhl an der Universität Hamburg. Nach seiner Entlassung als Soldat gelangte er 1946 über Neubeuern nach Lochham bei München und 1948 nach Hösbach.

Faksimiles des vierbändigen, von Paul Merker und Wolfgang Stammler herausgegebenen Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Walter de Gruyter & Co., Berlin, 1925-1931 (Universitätsbibliothek Bern, BeM RAA 81886).
Faksimiles des vierbändigen, von Paul Merker und Wolfgang Stammler herausgegebenen Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Walter de Gruyter & Co., Berlin, 1925-1931 (Universitätsbibliothek Bern, BeM RAA 81886). […]

1951 wurde Stammler als ordentlicher Professor für germanische Philologie an die Universität Freiburg berufen, wo er bis zu seiner Pensionierung 1957 lehrte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörte die Geistesgeschichte des Mittelalters mit den verschiedenen Literaturformen bis zum Spätmittelalter. Daneben beschäftigte er sich sprachwissenschaftlich mit den Wechselbeziehungen von Wort und Bild. Allein in Stammlers Lehrjahre in Freiburg fallen 22 Publikationen. Zudem gab er die Deutsche Philologie im Aufriss, die Zeitschrift für deutsche Philologie und das Wolfram-Jahrbuch heraus, steuerte drei Bände der Texte des späten Mittelalters bei und erstellte mehrere Beiträge zur Neuen Deutschen Biographie. Sein Interesse an der Zeit der Aufklärung schlug sich in der Vorbereitung der zweiten, erweiterten Auflage von Lessings Gesammelten Werken nieder (1958 erschienen). Stammler war Mitherausgeber einiger wichtiger Lexika, darunter das Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte (1925-1931), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (1933-1955) und das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (1964-1998).

Für seine rege Tätigkeit als Forscher wurde Wolfgang Stammler mehrfach geehrt: 1957 durch die Ehrenpromotion der Universität Gent, 1962 durch das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland, 1965 durch den Brüder-Grimm-Preis der Universität Marburg und 1991 durch die Gründung der Wolfgang-Stammler-Gastprofessur für Germanische Philologie an der Universität Freiburg. Das Bekanntwerden seiner Nähe zum Nationalsozialismus führte 2019 zu deren Umbenennung in Freiburger Gastprofessur für Germanistische Mediävistik.

Quellen und Literatur

  • Stammler, Wolfgang: «Der Hofmeister» von Jakob Michael Reinhold Lenz. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 1908.
  • Stammler, Wolfgang: Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, 1915.
  • Stammler, Wolfgang: Geschichte der niederdeutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1920 (Nachdruck 2020).
  • Stammler, Wolfgang: Die Totentänze des Mittelalters, 1922.
  • Stammler, Wolfgang: Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart, 1924.
  • Merker, Paul; Stammler, Wolfgang et al. (Hg.): Zeitschrift für deutsche Philologie, Bde. 51-67, 1925-1942; 70-83, 1947-1964.
  • Merker, Paul; Stammler, Wolfgang et al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 4 Bde., 1925-1931.
  • Stammler, Hildegard; Stammler, Wolfgang (Hg.): Alte deutsche Tierfabeln, 1926.
  • Braun, Gustav; Stammler, Wolfgang (Hg.): Nordische Rundschau. Vierteljahrsschrift der Universität Greifswald, 1928-1939.
  • Stammler, Wolfgang: Germanisches Führerideal. Rede bei der 60. Reichs-Gründungsfeier der Universität Greifswald am 17. Januar 1931, 1931 (Greifswalder Universitätsreden, 28).
  • Langosch, Karl; Stammler, Wolfgang (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 5 Bde., 1933-1955.
  • Stammler, Wolfgang; Westermann, Ruth: Uns trägt ein Glaube. Verse aus der deutschen Revolution, 1934.
  • Stammler, Wolfgang: Der Totentanz. Entstehung und Deutung, 1948.
  • Stammler, Wolfgang (Hg.): Gottsuchende Seelen. Prosa und Verse aus der deutschen Mystik des Mittelalters, 1948 (Germanistische Bücherei, 1).
  • Stammler, Wolfgang (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss, 3 Bde., 1951-1957.
  • Wolfram-Jahrbuch, 1952-1956.
  • Stammler, Wolfgang: Kleine Schriften zur Sprachgeschichte, 1954.
  • Stammler, Wolfgang (Hg.): Berner Weltgerichtsspiel. Aus der Handschrift des 15. Jahrhunderts, 1962 (Texte des späten Mittelalters, 15).
  • Stammler, Wolfgang (Hg.): Spätlese des Mittelalters I. Weltliches Schrifttum, 1963 (Texte des späten Mittelalters, 16).
  • Stammler, Wolfgang (Hg.): Spätlese des Mittelalters II. Religiöses Schrifttum, 1965 (Texte des späten Mittelalters, 19).
  • Erler, Adalbert; Kaufmann, Ekkehard; Stammler, Wolfgang (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5 Bde., 1964-1998.
  • Deutsches Literaturarchiv Marbach, Marbach, Stammler, Wolfgang (1886-1965).
  • Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Institut für Deutsche Philologie, Bestand Wolfgang Stammler.
  • Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, Bibliothek, Bestand Wolfgang Stammler.
  • Universitätsarchiv Greifswald, Greifswald, Personalakten der wissenschaftlichen Angestellten und Beamten (Signatur 266).
  • Universitätsbibliothek Würzburg, Würzburg, Bestand Wolfgang Stammler.
  • Hansel, Johannes: «Stammler-Bibliographie», in: Eis, Gerhard; Kienast, Richard; Hansel, Johannes (Hg.): Festschrift für Wolfgang Stammler, zu seinem 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, 1953, S. 206-218.
  • Allemann, Franz: «Stammler-Bibliographie, 1952-1958», in: Philosophische Fakultät der Universität Freiburg Schweiz (Hg.): Lebendiges Mittelalter. Festgabe für Wolfgang Stammler, 1958, S. 312-316.
  • Dünninger, Josef: «Wolfgang Stammler zum Gedächtnis (1886-1965)», in: Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben, 15, 1965, S. 360 (Nachruf).
  • Ruh, Kurt: «Wolfgang Stammler zum Gedächtnis (5.10.1886-3.8.1965)», in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 85/1, 1966, S. 1-6 (Nachruf).
  • Denecke, Ludwig: «Bibliographie Wolfgang Stammler», in: Moser, Hugo; Ruh, Kurt (Hg.): Spätes Mittelalter. Wolfgang Stammler zum Gedenken, 1967, S. 185-189.
  • Schmid, Alfred A.: «Wolfgang Stammler (1886-1965). Ordinarius für germanische Philologie in Freiburg von 1951-1957», in: Blank, Walter: Naturanschauung im Mittelalter. Eröffnung der Wolfgang-Stammler-Gastprofessur für germanische Philologie an der Universität Freiburg Schweiz am 29. Oktober 1991, 1994, S. 10-16.
  • Roth, Elisabeth: «Stammler, Wolfgang», in: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, Bd. 3, 2003, S. 1783-1786.
  • «Stammler, Wolfgang», in: Lexikon Greifswalder Hochschullehrer 1775 bis 2006, Bd. 3: 1907 bis 1932, bearb. von Meinrad Welker, 2004, S. 222-224.
  • Stamm-Kuhlmann, Thomas: «Die Philosophische Fakultät vom Anschluss an Preußen 1815 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990», in: Alvermann, Dirk; Spiess, Karl-Heinz (Hg.): Universität und Gesellschaft. Festschrift zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456-2006, Bd. 1: Die Geschichte der Fakultäten im 19. und 20. Jahrhundert, 2006, S. 371-480, v.a. 406-426.
  • Mellies, Dirk; Borchardt, Karl-Heinz: «Greifswald. 10. Mai 1933 auf dem Marktplatz», in: Schoeps, Julius H.; Treß, Werner (Hg.): Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933, 2008, S. 392-409.
  • Maas, Utz: «Stammler, Wolfgang», in: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945, Bd. 1, 2010, S. 789-794.
  • Eberle, Henrik: «Ein wertvolles Instrument». Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus, 2015, S. 53-67, 179-183.
  • Kinas, Sven: Akademischer Exodus. Die Vertreibung von Hochschullehrern aus den Universitäten Berlin, Frankfurt am Main, Greifswald und Halle 1933-1945, 2018, S. 196-199, 327-328 (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 17).
  • Henschke, Ekkehard: Rosenbergs Elite und ihr Nachleben. Akademiker im Dritten Reich und nach 1945, 2020, S. 61, 73, 168-177.
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Kurzinformationen
Lebensdaten ∗︎ 5.10.1886 ✝︎ 3.8.1965

Zitiervorschlag

Ekkehard Henschke: "Stammler, Wolfgang", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.02.2022. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011688/2022-02-15/, konsultiert am 29.03.2024.