Kirchenjahr

Das christliche Festjahr legt sich als Gestaltungsraster über das Naturjahr und passt sich in der Sinngebung weitgehend den jahreszeitlichen Gegebenheiten in Europa an. Jüdische (Passah-Fest) und hellenistische Vorbilder wirken nach, ebenso andere vorchristliche Elemente, die in das christliche Gedankengut eingeschmolzen wurden. Es verwoben sich aber auch volkskulturelle Gewohnheiten mit dem von der Heilsgeschichte gegebenen liturgischen Grundmuster zu einer Symbiose. So prägten einerseits liturgische Feiertage das jahreszeitliche Erleben, andererseits brachten das Volk und sein kosmisches Empfinden gestaltende Elemente in das Kirchenjahr ein. Der Versuch, ein eigenständiges reformiertes Kirchenjahr zu gestalten, kam über Ansätze nicht hinaus (u.a. thematische Sonntage wie das Reformationsfest am 31. Oktober).

Da das rein liturgische Geschehen (Gottesdienst, Liturgie) in vielen Kulturen weitgehend identisch ist, interessiert hier vor allem der volkskundliche Aspekt. Die Initiative zur brauchmässigen Ausgestaltung der einzelnen Feste lag vielfach beim Ortsklerus, später auch beispielsweise bei Lehrern (Bräuche). Die Variationen der Volksfrömmigkeit sind von verblüffender Vielfalt und zeugen von schier unbegrenzter Phantasie. Wiederkehrende Gestaltungselemente sind Umzüge und Prozessionen, szenische Darstellungen, Feuer und Licht, Blumen und Grünwerk. Das alte Kirchenjahr beeindruckt durch seine Ganzheitlichkeit. Es stellte eine wichtige Hilfe bei der Daseinsbewältigung dar (Überschwang und Trauer, Licht in der Dunkelheit).

Unter dem Einfluss der Aufklärung und des Josephinismus versuchten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts staatliche und kirchliche Instanzen, die Zahl der Feste zu reduzieren (Heiligenverehrung). Trotz gegenläufiger Entwicklungen im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (v.a. neue Feste marianischer Frömmigkeit) hat sich diese Tendenz in der Moderne fortgesetzt. Die Liturgiereform (1955-1956 für die Karwoche, ab 1963 als Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils) brachte viele Veränderungen und strich vor allem Heiligenfeste aus dem kirchlichen Kalender. Dadurch erfolgte eine gewisse Verarmung, doch gab es auch Neuansätze und Revitalisierungsversuche. Vor allem in der Nachkriegszeit wurden wichtige kirchliche Feste kommerzialisiert.

Der Weihnachtskreis

Der Advent (die vier Wochen vor Weihnachten), liturgisch erstmals für das 4./5. Jahrhundert im Osten belegt, lebt aus der Erfahrung der kürzer werdenden Tage und der Freude auf das Weihnachtslicht. Die vor allem in der Ostschweiz beliebten Rorate-Messen (rorate coeli desuper), die auf das Mittelalter zurückgehen, waren vielerorts durch Windlichter gekennzeichnet, die man in der Frühe zur Kirche trug. Der Adventskranz, seit dem Zweiten Weltkrieg Allgemeingut, kam in den 1920er und 1930er Jahren von Norden her in die Schweiz. Im Zuge der Kommerzialisierung der Vorweihnachtszeit erstrahlten immer mehr Geschäftsstrassen auch kleinerer Orte im Lichterglanz.

Der Kult des heiligen Nikolaus (6. Dezember), Bischof von Myra (Türkei), verbreitete sich nach der Übertragung der Gebeine nach Bari (Apulien) 1078 auch in Westeuropa. In Anlehnung an den Brauch des weihnächtlichen Kinderbischofs an Kloster- und Stiftsschulen wurde der Heilige zum Gabenbringer. Aus der Verbindung von älterer Maskenfigur (Klausjagen) und christlichem Gabenbringer entstand Schmutzli oder Knecht Ruprecht als Gefährte der Bischofsgestalt. Viele mittelalterliche und neuzeitliche Niklausgesellschaften (z.B. Luzern 1496, Zürich 1947) hielten und halten den Brauch aufrecht, besonders glanzvoll in Freiburg (Landespatron St. Nikolaus). Die Iffeler (Ifele = Inful oder Mitra) in Küssnacht (SZ) stellen mit ihren erleuchteten Bischofsmützen eine Weiterentwicklung des ausserkirchlichen Lichterbrauchs dar.

Das ursprünglich rein religiöse, später familienzentrierte Weihnachtsfest wurde in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg zum immer wichtigeren Motor des privaten Konsums. Beliebt blieb die Mitternachtsmesse, seit den 1960er Jahren mit evangelischem Pendant. Als Bescherungstermin ist Weihnachten neueren Datums (in Basel z.B. ab etwa 1820). Noch um 1800 war in der katholischen Schweiz St. Nikolaus (Samichlaus) der einzige Gabenbringer. In den evangelischen Landesteilen erfolgte die Bescherung am Neujahrstag. Das Christkind als Gabenbringer erscheint zuerst im evangelischen Umkreis. Der Lichterbaum erreichte von Norddeutschland her im 19. Jahrhundert die Deutschschweiz, zunächst mit einem einzigen Baum in der Kirche, im Pfarrhaus oder in der Schule, und breitete sich nach 1900 über das ganze Land aus. Älter ist die Krippe, zum Beispiel in Graubünden ab Ende des 17. Jahrhunderts verbreitet, mit Figuren aus Terrakotta, Wachs oder Holz. Als ältestes Krippenkind gilt das Sarner Jesuskind (Mitte 14. Jahrhundert). In den Kirchen der Ostschweiz wurden die Figuren oft von Privaten gestiftet. In Parallele dazu steht die szenische Gestaltung im Weihnachtsspiel (das älteste in St. Gallen im 14. Jahrhundert, Geistliche Spiele). Seit den 1960er Jahren brennen auf den Friedhöfen an Weihnachten (und Allerheiligen) nach deutschem Vorbild Grablichter als Zeichen der Verbundenheit mit den Toten.

Silvester und Neujahr sind, da das Kirchenjahr mit dem Advent beginnt, keine kirchlichen Termine für den Jahreswechsel. Sie erhielten erst durch den Gregorianischen Kalender ihre besondere Bedeutung (Kalender). Der Jahreswechsel hat sich zum wichtigen Volksfest mit Maskenbällen (um 1900 auch in der Westschweiz), Mählern, Feuerwerk und Glockengeläute entwickelt. Am Vorabend von Epiphanie, dem Dreikönigsfest (6. Januar), segnete man in bäuerlichen Gegenden die Häuser und kennzeichnete den Türsturz mit den Buchstaben C+M+B (Christus mansionem benedicat), volkstümlich als Anfangsbuchstaben der Drei Könige (Caspar, Melchior, Balthasar) gedeutet (Tradition ab dem 7. Jahrhundert). Über alle Sprachgebiete verbreitet ist das Sternsingen, das seit den 1930er Jahren vielerorts eine Renaissance erlebt hat. Einen fernen Anklang an das alte Brauchtum bringt der «Bohnenkönig» (in Frankreich seit dem 10. Jahrhundert, in der Schweiz v.a. im Jura), der seit 1953 vom Schweizerischen Bäcker-Konditorenmeister-Verband propagiert wird (Dreikönigskuchen). Der 6. Januar ist auch ein Anfangstermin der Fasnacht (Schwyz mit Greiflet und Einschellen).

Antonius der Einsiedler (17. Januar, auch Säutoni, wegen des Schweins als Attribut), früher als Helfer gegen das Antoniusfeuer angerufen, steht insbesondere in der Südschweiz mit Vieh- und Autosegnungen in hohem Ansehen. Mariä Lichtmess (2. Februar) ist das Lichterfest der katholischen Kirche (ab dem 5. Jahrhundert) mit Kerzenweihe. An Blasius (3. Februar), Bischof und Märtyrer des 3.-4. Jahrhunderts, finden Segnungen gegen Halsleiden mit Kerzen statt. Kerzenlicht hat in der volkstümlichen Frömmigkeit allgemein wieder an Bedeutung gewonnen. An Agatha (5. Februar), Märtyrin des 3. Jahrhunderts, wird Brot gegen Feuersbrunst, Unwetter und Krankheit gesegnet. Dem gleichen Zweck dienten handgeschriebene Agathazettel, wie sie noch in den 1950er Jahren im Fricktal verfasst wurden.

Der Osterkreis

Auf Rollen montierter Palmesel aus Steinen. Geschnitztes und bemaltes Tannen- und Fichtenholz, 176,5 cm hoch, Anfang 11. Jahrhundert (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Auf Rollen montierter Palmesel aus Steinen. Geschnitztes und bemaltes Tannen- und Fichtenholz, 176,5 cm hoch, Anfang 11. Jahrhundert (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Der Osterkreis beginnt mit der vierzigtägigen Fastenzeit (Ostern). Der Aschermittwoch setzt als Busstag mit dem Aschenkreuz auf dem Haupt den Anfang. In den Ambrosianischen Tälern dagegen beginnt die Fastenzeit mit dem ersten Fastensonntag, der nördlich der Alpen als Funkensonntag oder Alte Fasnacht die ersten Frühjahrsfeuer bringt (Brauch des Scheibenschlagens). Das «Hungertuch» in den (zum Teil auch evangelischen) Kirchen, um 1980 wieder aufgenommen, geht auf eine im 19. Jahrhundert erloschene Tradition zurück. In die Fastenzeit fällt Mariä Verkündigung (25. März), in Luzern früher mit dem Museggumgang (Ablassprozession) gefeiert. Dieser «Frauentag» wurde noch lange in evangelischen Gegenden memoriert (Jour de la Dame in Lausanne).

Höhepunkt der Fastenzeit ist die Karwoche (althochdeutsch kara = Kummer, Klage). Der Palmsonntag leitet sie mit der Palmprozession ein (ab dem 8. Jahrhundert), in der oft ein hölzerner Palmesel (ältestes Exemplar in Steinen) mitgeführt wurde. In vielen evangelischen Gegenden findet an diesem Tag die Konfirmation (Konfirmation und Firmung) statt. Am Hohen oder Grünen Donnerstag verstummten die (im volkstümlichen Verständnis nach Rom geflogenen) Kirchenglocken und wurden durch hölzerne Klappern (Rätschen) ersetzt. Karfreitag, bei den Katholiken ursprünglich (und im Kanton Tessin noch immer) ein Buss- und Arbeitstag, ist seit 1860 in den reformierten Gegenden der Schweiz ein Feiertag. In den Kirchen der Ostschweiz wurde das Heilige Grab aufgestellt, oft in perspektivischer Malerei. Die italienische Schweiz pflegt Karfreitagsprozessionen (z.B. Mendrisio) und Passionsspiele (Coldrerio, nördlich der Alpen u.a. in Romont FR, erstmals 1456, und Selzach 1892-1972). Disentis, Trun und Sevgein kannten solche Prozessionen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Am Karsamstag hat der Osternachtgottesdienst die im Volk beliebte und oft dramatisch ausgestaltete abendliche Auferstehungsfeier verdrängt. Während der Karwoche führten Metzger geschmückte Schlachtochsen zum Zeichen des nahen Fastenabbruchs durch die Gassen, in Moudon zum Beispiel bis in die neueste Zeit.

Ostern, das Hochfest der Christenheit, ist im weltlichen Bereich seit dem 17. Jahrhundert durch Eierbräuche gekennzeichnet. Seit den 1960er Jahren erlebt das künstlerisch gestaltete Osterei, ausgeblasen und reich verziert, eine Renaissance mit besonderen Märkten und Ausstellungen. Der direkt nachfolgende Weisse Sonntag, so benannt, weil die Getauften an diesem Tag letztmals ihre weissen Taufgewänder trugen, ist seit dem 18. Jahrhundert als Tag der Erstkommunion ein zentrales Ereignis in der katholischen Schweiz. Von den 1920er Jahren an zogen die Mädchen in Weiss, die Knaben dunkel mit weissen Sträusschen an Revers oder Armschärpe zur Kirche. Seit den 1970er Jahren hat sich die weisse Einheitstunika eingebürgert. An drei Tagen vor Christi Himmelfahrt (Auffahrt) fanden Bittprozessionen zu Wegkreuzen oder Flurkapellen statt (Brauch seit Papst Leo III. um 800). Christi Himmelfahrt selbst gehört zu den ältesten Festen des Kirchenjahrs. Von den vielen spätmittelalterlichen Prozessionen und Bannumgängen sind beispielsweise die Auffahrtsritte von Beromünster und die Bannumgänge des Baselbiets, aber auch die Zuger Landeswallfahrt zum Kloster Einsiedeln geblieben. Der Brauch, während des Gottesdienstes eine Christusfigur in das Kirchengewölbe aufzuziehen, wurde im 18. Jahrhundert vielerorts verboten, hat sich aber in der Hofkirche Luzern und in Schwyz erhalten. Die abendlichen Maiandachten zur Verehrung Marias gehören seit dem Mittelalter zum Innigsten populärer Frömmigkeit. Seit dem Mittelalter nachweisbar, wurden sie im 19. Jahrhundert aufgrund von Ablassgewährung allgemein.

Der Pfingstkreis

Fronleichnamsprozession in Rapperswil (SG), 16. Juni 1927. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 17; Konsultativkopie Memobase ID CS-07_5).
Fronleichnamsprozession in Rapperswil (SG), 16. Juni 1927. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 17; Konsultativkopie Memobase ID CS-07_5). […]

Pfingsten, seit dem 4. Jahrhundert gefeiert, hat nie die Popularität von Weihnachten oder Ostern erlangt. Bräuche wie der Pfingstsprüzlig im Fricktal stehen nur dem Namen nach mit dem Fest im Zusammenhang, korrespondieren aber in Wirklichkeit, wie der vergleichbare Feuillu in einigen Genfer Ortschaften, mit dem Naturjahr. Fronleichnam (mittelhochdeutsch fronlichname = Leib des Herrn) am zweiten Donnerstag nach Pfingsten beinhaltet die prunkvolle prozessionsweise Verehrung des Altarsakraments. Diese ist Ausdruck einer gewandelten Einstellung zur Eucharistie (vom Vollzug im Mahl zur demütigen Verehrung von aussen). 1264 von Papst Urban IV. für die gesamte Kirche vorgeschrieben, verbreitete sich das Fest im 14. Jahrhundert und verband sich mit den traditionellen Flurumgängen. Es erreichte seine Blüte in der Barockzeit mit Blumenaltären, Girlanden und Triumphbögen sowie mit Mörserschiessen. Heute finden feierliche Prozessionen unter anderem noch in Appenzell Innerrhoden, Freiburg, Kippel und Visperterminen statt. Das mit dem Fest Johannes des Täufers (24. Juni) verbundene Johannesfeuer anlässlich der Sommersonnenwende ist meist im Ersten-August-Feuer der Bundesfeier aufgegangen.

Das Fest Mariä Himmelfahrt (15. August) ist vom 5. Jahrhundert an belegt, vermutlich ab dem 10. Jahrhundert die Kräuterweihe zum Schutz von Stall und Haus. Der Eidgenössische Bettag am dritten Sonntag im September wurde 1832 von der Tagsatzung eingeführt. Allerheiligen (1. November) und Allerseelen (2. November) wurden um das Jahr 1000 für die ganze Kirche als Feiertage angeordnet. Sie werden als Totengedenktage mit Gräberschmuck und Friedhofbesuch begangen. Der alte Zinstermin von St. Martin (11. November) galt von jeher als Tag opulenter Mähler und ist in verschiedenen Gegenden (u.a. in den Kantonen Zürich und Aargau) die Zeit der Räbeliechtli-Umzüge. In neuerer Zeit wurde Martini vielerorts nach rheinischem Vorbild zum ersten Fasnachtstermin.

Quellen und Literatur

  • Curti, Notker: Volksbrauch und Volksfrömmigkeit im katholischen Kirchenjahr, 1947.
  • Geiger, Paul; Weiss, Richard et al.: Atlas der schweizerischen Volkskunde, Teil 2, Kommentar, 1950-1995, S. 1-236, Karten 151-191.
  • Heim, Walter: Volksbrauch im Kirchenjahr heute, 1983.
  • Bieritz, Karl-Heinrich: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, 1987.
  • Bäumer, Remigius; Scheffczyk, Leo (Hg.): Marienlexikon, 6 Bde., 1988-1994.
  • Macherel, Claude; Steinauer, Jean: L'état de ciel. Portrait de ville avec rite. La Fête-Dieu de Fribourg (Suisse), 1989.
  • Strübin, Eduard: Jahresbrauch im Zeitenlauf. Kulturbilder aus der Landschaft Basel, 1991.
  • Kern, Peter: Heiliggräber im Bistum St. Gallen. Eine Dokumentation, 1993.
  • Mezger, Werner: Sankt Nikolaus. Zwischen Kult und Klamauk. Zur Entstehung, Entwicklung und Veränderung der Brauchformen um einen populären Heiligen, 1993.
  • Oehler, Felicitas: Im Kleinen ganz gross. Ostereier, Scherenschnitte und Naive Malerei in der Schweiz heute, 1997.
Weblinks

Zitiervorschlag

Paul Hugger: "Kirchenjahr", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.01.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011513/2021-01-14/, konsultiert am 19.03.2024.