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Disentis

Benediktinerabtei in der politischen Gemeinde Disentis/Mustér GR, zur Diözese Chur gehörend. Patrone: Maria, Martin, Peter, Sigisbert und Placidus. Das am Oberlauf des Vorderrheins gelegene Kloster Disentis (765 Desertina, 846 coenobium Desertinense, 1020 abbatia Tisentinensis, 1127 monasterium Disertinensis u.a.) wurde um das Jahr 700 gegründet.

Die Benediktinerabtei Disentis Anfang des 18. Jahrhunderts. Anonyme Radierung aus dem Werk Idea sacrae congregationis Helveto-Benedictinae, das 1702 in St. Gallen erschien (Museum für Kommunikation, Bern).
Die Benediktinerabtei Disentis Anfang des 18. Jahrhunderts. Anonyme Radierung aus dem Werk Idea sacrae congregationis Helveto-Benedictinae, das 1702 in St. Gallen erschien (Museum für Kommunikation, Bern).

Gemäss Überlieferung ("Passio Placidi" 12. Jh.) errichtete der fränkische Mönch Sigisbert, getragen vom irofränkischen Geist der Kolumbanschule von Luxeuil (Vogesen), in der Desertina eine Zelle. Er stellte sie unter das Patronat des fränkischen Hausheiligen Martin, weshalb die spätere Abtei St. Martin heisst. Unterstützung erhielt Sigisbert vom einheimischen Placidus, der wohl zu den mächtigsten Besitzern gehörte, die in der zeitgenössischen "Lex Romana Curiensis" erwähnt werden. Auf Befehl des Landesherrn Praeses Victor in Chur wurde Placidus umgebracht. Die Überlieferung stilisierte den Mord zum Martyrium (Fest der Klosterheiligen Sigisbert und Placidus am 11. Juli). Ein eigentliches Kloster wurde Disentis um 750 unter Abt Ursicinus. Vom Churer Bischof Tello, ein Sohn Victors, erhielt Disentis umfangreiche Schenkungen, die als Sühneleistung verstanden werden können (Tello-Testament 765). Im Sinne der benediktinischen Kulturarbeit wurden die umliegenden Talschaften, die Disentis als Dotation erhalten hatte, urbarisiert. Das Reichenauer Verbrüderungsbuch von 810 nennt bereits 93 verstorbene und 71 lebende Mönche mit rätischen, alemannischen, fränkischen und langobardischen Namen.

Den ersten Kirchen aus dem 8. Jahrhundert, welche durch die archäologischen Grabungen 1980-1983 nachgewiesen wurden, folgten um 800 zwei typisch rätische Dreiapsiden-Saalkirchen, nämlich die Martins- und die Marienkirche, sowie die Petruskapelle. In die Martinskirche integriert war die Placiduskrypta, die zusammen mit der Ringkrypta von St. Luzi in Chur zu den frühen schweizerischen Krypten gehört. Die Zerstörung der karolingischen Klosteranlage sah die Überlieferung im Zusammenhang mit den Einfällen der "Ungarn", die Forschung jedoch mit den Sarazeneneinfällen von 940. Als Hüterin des Lukmanierpasses errichtete Disentis Hospize entlang der Passstrasse. Das Reichskloster wurde in die Passpolitik der deutschen Herrscher eingespannt. Unter der Herrschaft Ottos I. (962-973) erhielt Disentis Schenkungen, die von dessen Nachfolgern bestätigt wurden. Der Sachsenkaiser Heinrich II. (1002-1024), der den Brenner dem Lukmanier vorzog, übergab Disentis 1020 dem Brixener Hochstift (Südtirol). Das Kloster blieb in der Folgezeit ein Spielball der Kaiser. Begünstigt wurde es wieder unter dem Staufer Friedrich I. Barbarossa (1152-1190), der den früheren Besitzungen neue in der Lombardei hinzufügte. Die Klosterherrschaft, Casa Dei oder Cadi genannt, reichte 1185 von Brigels bis zum Furkapass. Die Äbte besassen die hohe Gerichtsbarkeit über die Gotteshausleute und das Marktrecht; sie errichteten auch selbstständige Pfarreien. Ihre Herrschaft sollte aber bald geschwächt werden: Laienverwalter sind für Ursern 1203 und für Medel (Lucmagn) 1322 nachgewiesen. Als Reichskloster war Disentis offenbar schon im 12. Jahrhundert einem Vogt unterstellt. Diese Funktion übte im Dienste der Grafen von Lenzburg die Familie da Torre aus, 1213 Heinrich von Sax-Misox und ab Mitte des 13. Jahrhunderts die Grafen von Werdenberg (Freikauf 1401). Ministerialen bauten im 12. und 13. Jahrhundert ihre Burgen in der Klosterherrschaft.

1251 tritt die Landschaft Disentis erstmals als Rechtsperson auf. Es galt nun, zwischen Feudalismus und Autonomiebestrebungen zu vermitteln. Abt Johannes von Ilanz (1367-1401) gewährte der Cadi einen selbstständigen Ammann (Mistral). Der Abt war 1395 Mitbegründer des Ilanzer Bundes, später auch Grauer Bund genannt, mit dem die politische Einigung der Gebiete an der Lukmanierroute bekräftigt wurde. Bei der Bundeserneuerung 1424 unter dem Ahorn (romanisch ischi) von Trun führte Abt Petrus von Pontaningen (1402-1438) die Unterzeichner an. 1440 bzw. 1455 schloss sich der Graue Bund mit dem Gotteshausbund, 1471 mit dem Zehngerichtenbund zusammen. Der Graue Bund verband sich 1497 als zugewandter Ort mit der Eidgenossenschaft. 1472 kaufte Disentis die Herrschaft Jörgenberg, musste aber der Cadi weitere Zugeständnisse bei der Bestellung des Mistrals machen. Die Gemeinde Disentis sicherte sich 1477 sogar ein Einspracherecht bei der Aufnahme von Novizen und übernahm so die Rolle der Klostervögte. Hingegen inkorporierte das Kloster weitere Pfarreien und dehnte die geistliche Macht bis Ems aus. Die Äbte liessen sich ihre Reichsprivilegien vom Kaiser bestätigen.

Dorf und Kloster Disentis. Farblithografie von Edouard Pingret. Tafel 39 des Werks Promenade sur le Lac de Wallenstadt et au Pays des Grisons, das 1827 in Paris erschien (Museum für Kommunikation, Bern).
Dorf und Kloster Disentis. Farblithografie von Edouard Pingret. Tafel 39 des Werks Promenade sur le Lac de Wallenstadt et au Pays des Grisons, das 1827 in Paris erschien (Museum für Kommunikation, Bern).

Der Umbruch der Reformationszeit stärkte weiterhin die weltliche Macht. Eine Sonderbestimmung in den Ilanzer Artikeln von 1524 und 1526 sicherte den Weiterbestand des Klosters. 1536 trat Abt Martin Winkler (1528-1536) mit drei Mönchen zum neuen Glauben über. Die Obrigkeit der Gemeinde Disentis bestellte jedoch einen neuen Vorsteher und rettete das Kloster, nicht zuletzt aus Furcht vor dem Verlust alter Vorrechte. 1539/1540 musste der Abt das Schloss Jörgenberg an die reformierten Herren von Waltensburg abtreten. Zur Zeit der katholischen Reform lud Abt Christian von Castelberg (1566-1584) den Mailänder Erzbischof Karl Borromäus 1581 nach Disentis ein und bestärkte die Tridentinische Reform. Obwohl die Abtei 1587-1596 eine Schule für Priesterkandidaten führte, blieben diese Reform- und Bildungsbestrebungen in den Anfängen stecken. Als Abt Sebastian von Castelberg (1614-1634) in den Bündner Wirren vor den Truppen des Jörg Jenatsch fliehen musste, bemächtigte sich die weltliche Obrigkeit der Verwaltung des Klosters. Durch Vermittlung des Nuntius und der Schweizerischen Benediktinerkongregation, in die Disentis 1617 aufgenommen worden war, kam es unter dem aus dem Kloster Muri kommenden Administrator und Abt Augustin Stöcklin (1634-1641) zur Erneuerung. Unter Abt Adalbert Bridler (1642-1655) erlangte das Kloster die Loslösung vom Churer Bischof, trat aber der Gemeinde die gesamte Justiz ab. 1649 kam es zum Auskauf der Disentiser Herrschaftsrechte in Ursern. Im barocken Geist wurde unter den Äbten Adalbert de Medell (1655-1696) und Adalbert Defuns (1696-1716) der repräsentative Klosterneubau. An der Ausgestaltung der Pläne war der Einsiedler Bruder Caspar Moosbrugger beteiligt.

Im Zweiten Koalitionskrieg (1799-1801) geriet Disentis in die Kämpfe zwischen Frankreich und Österreich. Vergeblich versuchte der gelehrte Pater Placidus Spescha zu vermitteln. Mit der Einäscherung von Kloster und Dorf am 6. Mai 1799 gingen nicht nur Kunstschätze, sondern auch Archiv und Bibliothek verloren. Die Abtei büsste die veltlinischen Besitzungen in Postalesio und rund die Hälfte des Klostervermögens ein. Dass das Kloster nicht säkularisiert wurde, verdankte es dem Umstand, dass mit dem Auskauf Waltensburgs 1734 und der Ablösung der Zehnten 1737 die letzten Reste der Feudalherrschaft bereits beseitigt worden waren. Der radikale Geist des Kulturkampfes, der in der Schweiz zu zahlreichen Klosteraufhebungen führte, liess auch Disentis nicht unberührt. 1859 wurde die Verwaltung des Klosters der Staatskontrolle unterstellt, zudem verunmöglichte die Bündner Regierung 1861 die Novizenaufnahme weitgehend. Im gleichen Jahr wurde die Jurisdiktion des Klosters dem Churer Bischof unterstellt. Zur Restauration kam es nach einem Stimmungsumschwung im Volk und in der Regierung, wofür der Disentiser Redaktor Placi Condrau, der Trunser Politiker Caspar Decurtins und der Maienfelder Theophil von Sprecher gesorgt hatten. Mit Hilfe der Schweizerischen Benediktinerkongregation konnte sich Disentis erholen. Der vom Kloster Muri-Gries (Bozen) zur Verfügung gestellte Benedikt Prevost verband als Abt (1888-1916) den inneren Aufbau mit der Errichtung der Klosterschule, mit Seelsorge und Wallfahrt. 1895-1899 liess er durch August Hardegger die neue Marienkirche errichten. Unter den Äbten Beda Hophan (1925-1963) und Viktor Schönbächler (1963-1988) konsolidierte sich das Gymnasium und wurde zu einem regionalen Bildungszentrum. Der Bau des Internats 1937-1940 (Walther Sulser) und des neuen Schulgebäudes 1969-1973 (Hermann und Hans Peter Baur) erweiterten die Klosteranlage. In der umgebauten Hardegger-Kirche (Felix Schmid) fanden die Bibliothek sowie eine kulturhistorische und eine naturgeschichtliche Sammlung Platz. Bei archäologischen Ausgrabungen in den Jahren 1980-1983 sicherte man die frühmittelalterliche Placiduskrypta, die zugänglich gemacht wurde. Von 1988 bis 2000 stand dem Kloster Disentis Abt Pankraz Winiker vor, seit 2000 Abt Daniel Schönbächler. Der Konvent zählte 2003 30 Professen.

Quellen und Literatur

  • I. Müller, Gesch. der Abtei Disentis von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1971
  • I. Müller, «Die Frühzeit des Klosters Disentis», in BM 1986, 1-45
  • HS III/1, 474-512
  • W. Jacobsen et al., Vorrom. Kirchenbauten, 1991, 93-95 (Nachtragsbd.)
  • Disentis/Mustér: Gesch. und Gegenwart, hg. von G. Condrau, 1996
Weblinks
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Zitiervorschlag

Daniel Schönbächler: "Disentis", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.03.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011490/2010-03-17/, konsultiert am 29.03.2024.