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Zwinglianismus

Der Zwinglianismus gehört zum Protestantismus und ist neben dem Calvinismus eine der Hauptwurzeln der reformierten Tradition, die auf die Reformation zurückgeht und die evangelisch-reformierten Kirchen bis in die Gegenwart prägt. Der Begriff umfasst einerseits die Lehren des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli, andererseits deren örtlich und zeitlich unterschiedliche Rezeption. Die adjektivischen und personalen Bezeichnungen in Deutsch und Latein sowie das Abstraktum kamen im 16. Jahrhundert auf und wurden von den Gegnern als abwertende Parteibezeichnung benutzt.

Die Verwendung als moderner Begriff muss berücksichtigen, dass Zwingli als Reformator drei unterschiedliche Auseinandersetzungen führte, nämlich mit den Altgläubigen um die Autorität und die religiöse Praxis der traditionellen Kirche, mit den Täufern um die Autorität der weltlichen Obrigkeit und die Taufe sowie mit Martin Luther um das Abendmahl. Dadurch erhielten Zwinglis Schriften einen apologetischen Charakter. Zudem wurde sein Werk durch den Tod auf dem Schlachtfeld bei Kappel 1531 abrupt beendet. Die Reformation blieb damit wesentlich auf die vier Stadtstaaten Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen beschränkt. Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass Heinrich Bullinger sich in seiner über 40-jährigen Amtszeit zwar beharrlich hinter seinen Vorgänger stellte, das angetretene Erbe aber weiterentwickelte und den wechselnden historischen Anforderungen anpasste. Die inhaltliche Bestimmung des Zwinglianismus hängt von der in der Forschung noch diskutierten Beurteilung und Gewichtung von Zwinglis wie von Bullingers Denken und Wirken sowie von deren komplexen Transformation in der Amtszeit Bullingers ab. Für die Epoche nach Zwinglis Tod wurden daher sowohl der Begriff Spät-Zwinglianismus (Gottfried Wilhelm Locher) wie Bullingerianismus (Joachim Staedtke) vorgeschlagen. Schliesslich sind die Spuren des Zwinglianismus in der Pfalz, den Niederlanden, in Ungarn, Polen, England oder Schottland zu bedenken, doch handelt es sich oft um Anklänge in theologischen Werken, Kontakte im Briefwechsel oder die Verbreitung der Schriften, die aber wenig über Einfluss und Wirkung des Zwinglianismus aussagen.

Trotz dieser Einschränkungen lassen sich für die Bestimmung des Zwinglianismus charakteristische Divergenzen zwischen Luthertum, Zwinglianismus und Calvinismus in den vier Lehrpunkten Abendmahl, Prädestination, Kirchenzucht und Bund festhalten. In unterschiedlicher Intensität entwickelten sie ihre Relevanz in drei zeitlichen Phasen.

In der ersten Phase (1525-1550) setzte sich der Zwinglianismus vom Luthertum ab, während sich der Calvinismus dem Zwinglianismus annäherte. Zwingli fasste seine reformatorische Theologie erstmals in "De vera et falsa religione commentarius" (1525) zusammen. In der Kontroverse mit den Täufern entwickelte er, dass Gottes Bund mit Israel im Wesen dem Bund mit den Christen entspreche, so dass Beschneidung und Taufe, Passah und Abendmahl als Zeichen für Gottes Heilshandeln stehen. Zugleich verteidigte Zwingli gegenüber Luther die symbolische Auffassung des Abendmahls. Die Vermittlung des Heils hängt nicht an Brot und Wein, sondern allein an Gott, der den Glauben an Christus als Sohn Gottes schenkt. Am Abendmahl scheiterte die Einigung zwischen Luther und Zwingli 1529 im Marburger Religionsgespräch. Die "Confessio Helvetica prior" (Helvetische Bekenntnisse), die von Bullinger massgeblich mitgeprägt wurde, bestätigte 1536 im Wesentlichen die Zürcher Auffassung des Abendmahls. Im Consensus tigurinus (1549) einigten sich Bullinger und Johannes Calvin in der Frage des Abendmahls. Dadurch wurde Calvin vom Luthertum gelöst und in den eidgenössischen Protestantismus eingebunden.

In der zweiten Phase (1550-1585) differenzierten sich Zwinglianismus und Calvinismus weiter aus. Bullinger hielt gegenüber Calvin, der von einem doppelten Dekret zur Erwählung und zur Verwerfung ausging, an der Erwählung aus Gnade fest. Die Prädestination blieb bis zur Kontroverse mit den Arminianern umstritten (Protestantische Orthodoxie). Für die Kirchenzucht hatte Johannes Oekolampad in Basel ein kirchliches Gremium vorgesehen, was Zwingli für Zürich abgelehnt hatte, weil diese Aufgabe dem Magistrat zukommen sollte (Sittengerichte). Calvin knüpfte in Genf an das Basler Modell an, was im Waadtland in den späten 1550er Jahren zu heftigen Konflikten führte, weil die Anhänger Calvins eine vom Berner Rat unabhängige Kirchenzucht forderten. Doch der Berner Rat lehnte ab und setzte das Zürcher Modell durch. In den Niederlanden bekräftigte die Nationalsynode 1578 die Selbstständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Dagegen berief sich Caspar Coolhaes erfolglos auf Schriften von Bullinger, Rudolf Gwalther sowie Wolfgang Musculus und verteidigte mit dem Leidener Magistrat das Zürcher Modell. 1566 veröffentlichte Bullinger die "Confessio Helvetica posterior", die mit Ausnahme Basels von den reformierten Ständen der Eidgenossenschaft sowie weiteren verbündeten Städten, darunter Genf, unterzeichnet wurde. Basel folgte erst 1644.

Die dritte Phase (1585-1620) ist durch die allmähliche Eingliederung des Zwinglianismus in den Calvinismus gekennzeichnet. Das von Theodor Beza weiterentwickelte Genfer Konzept der Kirchenzucht wurde in den frühen 1570er Jahren in England propagiert. John Whitgift und Richard Hooker verteidigten dagegen die obrigkeitliche Kirchenzucht, wobei sie auf die "Explicatio [...]" von Thomas Erastus zurückgriffen. In England hielt sich das Zürcher Modell im 17. Jahrhundert lange. Zwinglis Lehre vom Bund hatte Bullinger in einer Monografie 1534 ausgebaut, was für die Ausformung einer in England und Schottland tiefgreifend wirkenden reformierten Föderaltheologie grundlegend wurde. Die Prädestinationslehre, wie sie Beza in Genf weiterentwickelt hatte, wurde zunehmend in Basel (Amandus Polanus von Polansdorf), Bern (Abraham Musculus) und auch in Zürich (Johannes Stucki) verfochten. Auf der Dordrechter Synode 1618-1619 wurden die Arminianer verurteilt und die calvinistische Prädestinationslehre bekräftigt. Die Arminianer hatten sich auf Bullinger berufen, so dass der Zürcher Antistes Johann Jakob Breitinger diesen verteidigen und Übereinstimmung zwischen Bullinger und Calvin behaupten musste. Heute wirken Inhalte des Zwinglianismus nur noch in dieser durch die reformierte Tradition vermittelten Form.

Quellen und Literatur

  • G.W. Locher, Die Zwingl. Reformation im Rahmen der europ. Kirchengesch., 1979
  • U. Gäbler, Huldrych Zwingli, 1983 (32004)
  • J.V. Pollet, Huldrych Zwingli et le Zwinglianisme, 1988
  • Die Zürcher Reformation, hg. von A. Schindler, H. Stickelberger, 2001
  • J. Wayne Baker, «Zwinglianism», in The Encyclopedia of Protestantism, hg. von H.J. Hillerbrand, Bd. 4, 2004, 2083-2086
  • Heinrich Bullinger, 2 Bde., hg. von E. Campi, P. Opitz, 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Sallmann: "Zwinglianismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 03.02.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011420/2015-02-03/, konsultiert am 19.03.2024.