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Grosser St. BernhardHospiz

Ansicht von der Walliser Seite aus in Richtung Süden. Kolorierte Aquatinta von Sigismond Himely nach einer Vorlage von Gabriel Lory (fils) (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
Ansicht von der Walliser Seite aus in Richtung Süden. Kolorierte Aquatinta von Sigismond Himely nach einer Vorlage von Gabriel Lory (fils) (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann). […]

Das Hospiz Grosser St. Bernhard der Augustiner Chorherren auf dem gleichnamigen Alpenpass gehört zur Diözese Sitten und zur politischen Gemeinde Bourg-Saint-Pierre VS. Eine Nikolaus von Myra geweihte religiöse Einrichtung (ecclesia, hospitale, domus) ist 1125 erstmals bezeugt. Seit 1149 steht sie auch unter dem Patrozinium Bernhards von Menthon. Bernhard soll das Hospiz um 1050 zusammen mit Königin Irmingard, Gattin Rudolfs III. von Burgund, gegründet haben – daher der Name Grosser St. Bernhard. Zweck der Gründung war die Reorganisation des vom 10. Jahrhundert an durch Sarazenen und örtliche Machthaber behinderten Passverkehrs. Zur Gründungsausstattung zählte wohl das Klosterhospiz Saint-Pierre in Bourg-Saint-Pierre, das Irmingard 1011 als Wittum erhalten hatte. Besiedlung und Regulierung des Hospizes Grosser St. Bernhard liegen im Dunkeln: Vermutlich bestand zunächst eine Bruderschaft von Laien unter der geistlichen Leitung eines hospitalarius, die spätestens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Klerikern unter einem Propst abgelöst wurde. Ein Jahrhundert nach seiner Gründung war das Hospiz Zentrum eines Regularkanoniker-Verbandes, der 1150/1151 mit dem bedeutenden elsässischen Reformstift Marbach verbrüdert war, die Augustinusregel (1225 Erstnennung; 1286 päpstliche Bestätigung) befolgte und Pilgerbetreuung mit Seelsorge verband.

Das Hospiz besass ein von England bis Sizilien reichendes Netz von Niederlassungen an den Fernstrassen über die Alpen; 1177 waren es 78 Hospize, Häuser, Priorate und Kirchen, 1286 86. Europas Mächtige, unter anderen die Kaiser Friedrich I. und Heinrich VI. sowie König Heinrich II. von England, betrieben nämlich im Wettbewerb um die Beherrschung der Westalpenpässe gegenüber dem Hospiz eine Schutz- und Schenkungspolitik. Die wichtigsten Stifter und Schirmherren aber waren die Grafen und späteren Herzöge von Savoyen. Deren bedeutende Schenkungen beidseits des Passes bildeten ab dem 12. Jahrhundert die ökonomische Grundlage des Hospizes. Im 13. und 14. Jahrhundert mehrten die Valdostaner Pröpste den Besitz im Aosta- sowie im mittleren und unteren Rhonetal, zudem auch am linken und rechten Genferseeufer, wo sie auch bevorzugt residierten (Meillerie, Thonon, Etoy).

Wichtigstes Organ für die geistliche und weltliche Verwaltung des Verbandes wurde das Generalkapitel (1145/1159 erstmals belegt), das im 13. Jahrhundert durch Prokuratoren, später durch Definitoren und Visitatoren die entlegenen Niederlassungen überwachte und ab 1167 päpstlich privilegierte Almosensammler europaweit aussandte. Öfters drohte dem Hospiz im Spätmittelalter disziplinarischer und wirtschaftlicher Zerfall, dem die Pröpste entgegenzutreten versuchten, namentlich 1437 Jean d'Arces durch die "Statuten von Etoy". Bedeutung erlangten indes nur die zentralistischen Reformkonstitutionen von Kardinal Jean Cervantès, die das Basler Konzil 1438 billigte; obwohl sie vom 16. bis 18. Jahrhundert in Vergessenheit gerieten, blieben sie bis 1959 in Kraft.

Die Verwaltung der Propstei durch dem Hause Savoyen nahestehende Kommendatarpröpste (1438-1586) wirkte sich zunächst eher positiv aus: Das Hospiz wurde um 1469 vergrössert, sein Aussenbesitz nach dem Verlust der englischen Besitzungen (1391) um jene des Hospizes auf dem Pass des Kleinen St. Bernhard 1466 durch Inkorporation erweitert. Verhängnisvoll für das Hospiz Grosser St. Bernhard war indes das Mitspracherecht Savoyens bei der Vergabe aller höheren savoyischen Benefizien, das Papst Nikolaus V. 1451 dem Gegenpapst Felix V. (Herzog Amadeus VIII.) als Ausgleich zur Beilegung des Papstschismas zugestanden hatte. Zwischen dem Wallis und Savoyen entbrannte deswegen ein 300-jähriger Konflikt um die Einflussnahme auf die Propstwahl und damit um die Vorherrschaft über das geopolitisch wichtige Hospiz. Er verschärfte sich im Zuge der Burgunderkriege 1475-1476, als die sieben Walliser Zenden mit dem Unterwallis auch das Hospiz annektierten. Später verwalteten die Zenden den Hospizbesitz nördlich des Passes, der in der Reformation um wesentliche Benefizien im Bistum Lausanne geschmälert wurde, durch Kastvögte. Anfang des 18. Jahrhunderts spaltete unter dem Reformpropst Louis Boniface ein Observanzstreit betreffend die Konstitutionen von 1438 bzw. die freie Propstwahl die Kongregation in eine Walliser und eine Savoyer Fraktion. Die Walliser Chorherren forderten 1735 die Trennung, die Papst Benedikt XIV. schliesslich 1752 vollzog: Er säkularisierte den savoyisch-piemontesischen Besitz des Hospizes und unierte ihn mit Ausnahme der Pfarreien dem Ritterorden der heiligen Mauritius und Lazarus. Als erster Walliser Propst verlegte Franz Josef Bodmer 1753 die Residenz nach Martigny (zuvor ab 1596 in Aosta). Nach dem Verkauf der französischen Benefizien im ausgehenden 18. Jahrhundert beschränkten die Chorherren ihr Wirken auf die Diözese Sitten.

Von den klosterfeindlichen Bestimmungen der Helvetik blieb das Hospiz verschont. 1801 übertrug Napoleon Bonaparte den Chorherren die Leitung des neu gegründeten Hospizes auf dem Simplon, dessen Errichtung sie 1831-1835 auf eigene Kosten vollendeten. Unter Propst François-Benjamin Filliez 1847 in die Wirren des Sonderbunds verstrickt, wurde das Hospiz Grosser St. Bernhard 1848 von der radikalen Walliser Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt; für einen Teil seiner säkularisierten Güter wurde es 1879 symbolisch entschädigt. Die Öffnung der Passstrasse für den motorisierten Verkehr 1903 und 1905 brachte dem Hospiz mit den Touristen eine neue Klientel. Ende des 19. Jahrhunderts war das Hospiz bereits durch einen Annexbau erweitert worden. Der Aufstockung des Konventhauses (1821-1827) waren der Neubau der Kirche (Weihe 1689) und – mit Hilfe des französischen Königs – die Errichtung des Hôpital Saint-Louis (vollendet 1786) im Norden des Hospizes vorausgegangen.

Ab 1933 arbeiteten die Chorherren mit dem Pariser Missionsseminar in der chinesischen Provinz Yunnan zusammen; 1952 zogen sie sich aus dem kommunistischen China nach Taiwan zurück. Mit der Gründung und Leitung der ersten landwirtschaftlichen Schule im Wallis in Ecône (1892-1923), später 1951 in Saint-Martin-de-Corléans bei Aosta (seit 1982 Institut agricole régional), sowie mit der Eröffnung und Führung des Kollegiums Champittet in Pully (1951-1998) gab sich die Kongregation eine pädagogische Ausrichtung. Als selbstständiger Zweig der Konföderation der Regularkanoniker seit 1959 und exemtes Institut päpstlichen Rechts steht sie unter der Leitung eines Propstes (abbé-prévôt), seit 1762 mit dem Privileg der Pontifikalien (Stab und Mitra). 2004 zählte sie 51 Mitglieder und neun Priorate (Wallis, Aosta und Taiwan), teils mit Seelsorge. Berühmt ist die Kongregation ferner für ihre Bernhardinerhundezucht. Diese wurde 2005 von der in Martigny gegründeten Stiftung Barry du Grand-Saint-Bernard übernommen. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert bezeugt, kommt dem Bernhardinerhund inzwischen der Rang eines nationalen Symbols zu. Obwohl in seiner Rolle als Rettungshund überschätzt, hat Barry (1814, ausgestellt im Bernischen Naturhistorischen Museum), dessen Geschichte auch literarisch – etwa von Annette von Droste-Hülshoff – verarbeitet wurde, wesentlich zum Mythos der Bernhardinerhunde beigetragen.

Quellen und Literatur

  • L. Quaglia, La Maison du Grand-Saint-Bernard des origines aux temps actuels, 1955 (21972)
  • F. Giroud-Masson, «La Chine Méridionale et ses habitants vus par des religieux valaisans ou les Chanoines du Grand Saint-Bernard à la rencontre des marches du Tibet. La Mission du Grand Saint-Bernard au Tibet», in Auswanderungsland Wallis, 1991, 241-250
  • HS IV/1, 25-278
  • G. Zenhäusern, «"Domus Montis Iovis". Zu Anfängen und Entwicklung eines Passhospitals (XI.-XIII. Jh.)», in Vallesia 54, 1999, 161-204

Zitiervorschlag

Gregor Zenhäusern: "Grosser St. Bernhard (Hospiz)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 20.02.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011407/2007-02-20/, konsultiert am 19.03.2024.