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Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur umfasst unterschiedliche Textsorten, deren gemeinsamer Nenner das Zielpublikum – Kinder und Jugendliche – ist. Darunter fallen auch Texte, die für Kinder und/oder Jugendliche adaptiert wurden, wie zum Beispiel Daniel Defoes «Robinson Crusoe» (1719), nicht aber Texte von Kindern und Jugendlichen selbst. Die Texte der Kinder- und Jugendliteratur unterscheiden sich je nach Zeitraum zum Beispiel nach ihrem Publikum (Jugendliche oder Kinder, Mädchen oder Knaben), nach dem Handlungszusammenhang (staatsbürgerliche Lehre, Lesedidaktik, Morallehre) und nach der Textsorte (Sachbuch, Erzählung, Märchen, Lyrik, interaktive Medien auf CD-ROM oder Internet). Ein wichtiges Element ist das Bild (Bilderbuch, Comics, Neue Medien).

Die schweizerische Kinder- und Jugendliteratur ist im Wesentlichen deutschsprachig. Die französische Schweiz weist einzelne bemerkenswerte Werke auf (v.a. Illustration), hat jedoch nur auf dem Gebiet der religiösen, reformierten Schriften eine umfangreichere Produktion entwickelt. Für die italienische und die rätoromanische Schweiz lässt sich kaum von einer eigenen Kinder- und Jugendliteratur sprechen.

Erziehung und Unterhaltung im 18. und 19. Jahrhundert

Vor dem 18. Jahrhundert wurden für die Jugend religiöse Schriften wie Katechismen, biblische Erzählungen, Gebete und Lieder verfasst, denen vor allem eine erzieherische Funktion zukam. Daneben gab es Anstandslehren, beispielsweise Neujahrsblätter, die ab 1645 in Zürich an Kinder abgegeben wurden. Werke zur Spracherziehung und Realienkunde bildeten eine dritte Gruppe. Das berühmteste Buch aus dieser Gruppe war der «Orbis sensualium pictus» (1658) von Jan Amos Comenius, der in ganz Europa übernommen wurde und den Typus des modernen, illustrierten Sachbuchs (Buchillustration) für Kinder begründete.

Catechetische Kinder-Bibel, oder heilige Kirchen- und Bibel-Historien, herausgegeben vom Berner Pfarrer Abraham Kyburz. Titelblatt und Frontispiz der zweiten Ausgabe, erster Teil, Zürich 1763 (Zentralbibliothek Zürich).
Catechetische Kinder-Bibel, oder heilige Kirchen- und Bibel-Historien, herausgegeben vom Berner Pfarrer Abraham Kyburz. Titelblatt und Frontispiz der zweiten Ausgabe, erster Teil, Zürich 1763 (Zentralbibliothek Zürich). […]

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts brachte der europäische, spätaufklärerische, pädagogische Diskurs eine Kinder- und Jugendliteratur hervor, die sich in neuer Weise auf den kindlichen Erfahrungshorizont einliess. In Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau wollte die Kinder- und Jugendliteratur Kenntnisse und Urteilsfähigkeit aus der unmittelbaren Anschauung vermitteln, gestützt auf Illustrationen und lebendige Erklärungen. Zeitschriften und Sammlungen sprachen «Verstand und Herz» des Kindes an. Johann Rudolf Schellenberg und Johann Heinrich Lips schufen die Bilder zu Johann Bernhard Basedows «Elementarwerk» (3 Bde., 1770) und zu Friedrich Justin Bertuchs Enzyklopädie «Bilderbuch für Kinder» (12 Bde., 1790-1830). Joachim Heinrich Campes «Robinson der Jüngere» (2 Bde., 1779-1780) setzte die kinderliterarische und pädagogische Diskussion der Zeit exemplarisch um und wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgelegt. Schweizer Autoren wie Isaak Iselin, Josef Anton Xaver Balthasar und später Frédéric-César de La Harpe legten besonderes Gewicht auf die staatsbürgerliche Erziehung. Sammlungen wie die «Nouvelle méthode d'enseigner l' A.B.C. [...]» (1792) lehrten eine aufgeklärte Religion und Moral.

Im 19. Jahrhundert gewann die Unterhaltung gegenüber der Erziehungsfunktion an Gewicht. Johann David Wyss verband in Anlehnung an Campe im Werk «Der Schweizerische Robinson [...]» (4 Bde., 1812-1827) enzyklopädisches Wissen mit einer spannenden Geschichte, deren romanhafte Züge in der französischen Übersetzung durch Isabelle de Montolieu betont wurden (Deutschsprachige Literatur). Die Entwicklung des Buchmarkts verstärkte die Bedeutung des Unterhaltungsfaktors. Gegen die kommerzielle Kinder- und Jugendliteratur schrieb Jeremias Gotthelf 1846 «Der Knabe des Tell» als republikanisch-nationalerzieherisches Werk für die Jugend. Spätromantische Einflüsse zeigen sich in August Corrodis Erzählungen für Kinder. Der Genfer und der Waadtländer Protestantismus prägten die Kinder- und Jugendliteratur der Westschweiz, deren typische Vertreter etwa Herminie Chavannes oder Jean-Jacques Porchat waren (Französischsprachige Literatur). Der Austausch mit dem angelsächsischen Protestantismus brachte einen genaueren Blick auf die Psychologie des Kindes, wobei die Vorstellung von Kindheit gelegentlich überhöht war. Das Werk von Johanna Spyri, vor allem «Heidi» (2 Bde., 1880-1881), zeigt solche Einflüsse deutlich.

Nationale Identität und Öffnung im 20. Jahrhundert

Die um 1880 einsetzende Reformpädagogik und politische Faktoren führten im 20. Jahrhundert zu einer Eigenentwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in der Deutschschweiz: Die kindliche Lebenswelt wurde ein Angelpunkt des Unterrichtens und Erzählens, das nun kindliche Erlebnisse in einer konkreten, anschaulich beschriebenen Umgebung aufnahm, wie zum Beispiel in den «Turnachkindern» (2 Bde., 1906-1909) von Ida Bindschedler. Elisabeth Müller und Olga Meyer nahmen mundartliche Elemente in ihre Texte auf und führten damit ein schweizerisches Hochdeutsch in die Kinder- und Jugendliteratur ein. Gleichzeitig brachte die zunehmende politische Abgrenzung von Deutschland eine Neubestimmung der nationalen Identität: Die Kinder- und Jugendliteratur der wichtigsten Verlage ist ab 1920 sprachlich und thematisch auf die Schweiz ausgerichtet, so etwa die Texte von Josef Reinhart und René Gardi bei Sauerländer oder die erfolgreichen «Trotzli»-Bände (1936-1947) von Josef Konrad Scheuber bei Benziger. Ausnahmen sind Kurt Helds «Die rote Zora» (1941) oder Lisa Tetzners «Die schwarzen Brüder» (2 Bde., 1940-1941). In der Kinder- und Jugendliteratur der anderen Sprachregionen kommt eine schweizerische Identität kaum zum Ausdruck, mit Ausnahme der französischen Adaption und Weiterführung von Spyris «Heidi» durch Charles Tritten (1938).

Nach 1960 verlor die deutschschweizerische Kinder- und Jugendliteratur ihre nationale Prägung: Die Texte von Eveline Hasler, Franz Hohler, Hanna Johansen, Hans Manz, Brigitte Schär, Jürg Schubiger sind grenzüberschreitend, oft spielerisch und sprachbewusst. Einer der wenigen Autoren von Erzählungen in der italienischen Schweiz ist Renato Giovannoli (Italienischsprachige Literatur). In der französischen Schweiz sind die Sachbücher von Christophe Gallaz und Florian Rodari bemerkenswert, die einen didaktischen Anspruch mit neuen ästhetischen Formen verbinden. Sie reflektieren eine in der regionalen Tradition verankerte, überdurchschnittliche Gewichtung der Illustration.

Bilderbuch

Buchumschlag der rätoromanischen Originalausgabe des von der Lia Rumantscha in Chur herausgegebenen Kinderbuchs Uorsin ("Schellen-Ursli") von Selina Chönz, illustriert von Alois Carigiet, 1945 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Buchumschlag der rätoromanischen Originalausgabe des von der Lia Rumantscha in Chur herausgegebenen Kinderbuchs Uorsin ("Schellen-Ursli") von Selina Chönz, illustriert von Alois Carigiet, 1945 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Erzählende Bilder als Medium der Kinder- und Jugendliteratur gab es, zunächst als Einblattdrucke, ab dem 15. Jahrhundert. International ist die Kinder- und Jugendliteratur der Schweiz vor allem durch Bildergeschichten und Bilderbücher vertreten: Rodolphe Töpffers «Monsieur Cryptogame» (1845) entwickelte sich in deutscher und niederländischer Übersetzung zu einem Klassiker für Kinder. Mit «Uorsin» (1945, deutsch «Schellen-Ursli») von Selina Chönz und Alois Carigiet erlangte ein rätoromanisches Buch Weltberühmheit (Rätoromanische Literatur). In der Deutschschweiz wurden die Bildgeschichten «Globi» (ab 1932) und «Papa Moll» (ab 1955) von Robert Lips bzw. Edith Oppenheim populär, während in der Westschweiz mit «Yakari» (ab 1970) von Derib und den Büchern von Cosey vor allem der Comic gepflegt wird. Als spezielle Bildergeschichte lässt sich Lisa Wengers «Joggeli söll go Birli schüttle» (1908) lesen. Das erzählende Bilderbuch entwickelte sich im 19. Jahrhundert. Ernst Kreidolfs «Blumen-Märchen» (1898) traf mit seiner Natursehnsucht und der formalen Sorgfalt die Erwartungen der Zeit und leitete eine Ära drucktechnisch und künstlerisch bedeutender Bilderbücher ein, die ihren Höhepunkt mit dem Schaffen von Alois Carigiet, Hans Fischer, Felix Hoffmann und Herbert Leupin erreichte. Nach 1970 nahmen Jörg Müller und Jörg Steiner andere Themen auf, Etienne Delessert oder Beatrice Poncelet experimentierten mit neuen Formen.

Institutionen und Preise

Bibliotheken und Kommissionen verdanken ihre Entstehung einerseits dem Wunsch nach Leseförderung, andererseits der Angst vor unkontrollierter Lektüre. Die ersten Jugendbibliotheken wurden von Gemeinnützigen Gesellschaften gegründet, so 1779 die St. Galler «Lesebibliothec für junge Leute» oder 1807 die «Lese-Anstalt» in Basel. Im 19. Jahrhundert versuchten Vereine, die Lektüre der Jugend zu lenken. 1851 wurde die Société genevoise des publications religieuses ins Leben gerufen, 1858 die Jugendschriftenkommission (JSK) des Schweizerischen Lehrervereins, die bis ca. 2001 Bestand hatte. 1901 wurde die JSK durch ein französisches Pendant ergänzt. Um die katholische Jugendlektüre sorgte sich der Katholische Lehrerverein. 1931 gründeten Lehrer den Verein Schweizerisches Jugendschriftenwerk. 1954-2001 war der Schweizerische Bund für Jugendliteratur in der Leseförderung tätig, der sich 2002 mit dem Schweizerischen Jugendbuch-Institut zum Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) mit Sitz in Zürich zusammenschloss.

Für Kinder- und Jugendliteratur wird seit 1943 der Schweizerische Jugendbuchpreis der JSK vergeben, der seit 2003 als Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis alle zwei Jahre vom Verband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer und dem SIKJM ausgerichtet wird. Der Preis La vache qui lit wurde 1977-2001 vom Zürcher Kinderbuchladen vergeben, Die blaue Brillenschlange 1985-2003 von der Erklärung von Bern und Terre des hommes Schweiz, der Prix enfantaisie seit 1987 von der Edition La Joie de Lire und der Zeitschrift «Construire» sowie der Preiselbär seit 1996 von der Berner Jugendschriften-Kommission.

Quellen und Literatur

  • C. Weilenmann, Annotierte Bibl. der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur von 1750 bis 1900, 1993
  • Nebenan, redigiert von V. Rutschmann, 1999
  • Francillon, Littérature 4, 343-354
  • A.K. Ulrich, Schrift-Kindheiten, 2002
  • Regards croisés, hg. von J. Cetlin, 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Verena Rutschmann: "Kinder- und Jugendliteratur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.12.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010473/2008-12-02/, konsultiert am 28.03.2024.