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Hilfs- und Sonderschulen

Im Vergleich zu den sogenannten Normal- oder Regelklassen weisen die sogenannten Sonder- oder Kleinklassen folgende charakteristische Merkmale auf: Lehrpläne mit angepassten Leistungsanforderungen, reduzierte Klassengrössen für angemessene individuelle Lernförderung und Lehrkräfte, die eine zusätzliche heilpädagogische Ausbildung absolviert haben. Hilfs- und Sonderschulen werden vorwiegend von Kindern mit Lernschwierigkeiten besucht, die sich auf soziale, psychische und physische Probleme und Behinderungen zurückführen lassen.

Schon im Mittelalter nahmen sich Klöster der Pflege und Erziehung von verwaisten und behinderten Kindern an (Behinderte). Kinder und Jugendliche mit körperlichen oder geistigen Behinderungen waren von der Einführung und Ausdehnung der allgemeinen Schulpflicht (Schulwesen) in der Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht betroffen, da sie als bildungsunfähig galten und von den Eltern gar nicht erst zur Schule geschickt wurden. Vorstösse zur Veränderung dieses Zustandes gingen denn auch weder von den Eltern, die vor allem in ländlichen Gebieten die eigenen Kinder als Arbeitskräfte benötigten, noch von den Lehrkräften aus, die in Mehrklassenschulen mit einem breiten Leistungsspektrum konfrontiert waren und zugleich mit materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.

Die Einrichtung von speziellen Lehrgängen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründet auf zwei Entwicklungslinien: Einerseits kamen im 18. Jahrhundert pietistische und später philanthropische Bewegungen (Aufklärung) auf, die sich in sogenannten Rettungsanstalten (Anstaltswesen) verwaister und verwahrloster Kinder und Jugendlicher annahmen und dabei schulische, handwerkliche und vor allem religiöse Bildung und Erziehung zu vermitteln und aus dem Geist christlicher Nächstenliebe zu verwirklichen suchten. Andererseits gab die 1810 gegründete Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) den Kantonen Anstösse zur Wahrnehmung und Bewältigung fürsorgerischer Aufgaben (Fürsorge). Im Einklang mit dieser statutarisch festgeschriebenen Absicht befasste sich die parteipolitisch und konfessionell unabhängige Gesellschaft unter anderem mit der Einrichtung von Armenhäusern und Armenschulen und der Ausbildung von Armenlehrern.

Handwerklicher Unterricht in der Küferei des Weissenheims in Bern. Fotografie, 1911 (Archiv Weissenheim, Bern).
Handwerklicher Unterricht in der Küferei des Weissenheims in Bern. Fotografie, 1911 (Archiv Weissenheim, Bern).

1868 wurden von der Gemeinnützigen Gesellschaft und der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft ungefähr 20'000 «schwachsinnige und schwachbegabte» Kinder gezählt, für die in vier Institutionen – unter anderem der Anstalt zur Hoffnung in Basel (1857) und der Anstalt Weissenheim in Bern (1868) – lediglich neunzig Plätze zur Verfügung standen. In der Folge bemühte sich die sogenanne Konferenz für das Idiotenwesen um die Einrichtung von «Schulklassen für Schwachbegabte». Blinden- und Gehörlosenschulen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihren festen Platz im Bildungsangebot. Die ersten «Spezialklassen für schwachbegabte Kinder» wurden 1882 in La Chaux-de-Fonds und 1888 in Basel eingerichtet; 1890 folgte St. Gallen, 1900 Lugano, später weitere Städte und Kantone. Für diese Lehrgänge wurden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet. Bis in die 1970er Jahre hielten sich die Begriffe «Hilfsklasse», «Spezialklasse» oder die von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren 1929 verwendete Bezeichnung «Sonderklasse». Anfang des 21. Jahrhunderts haben sich die Begriffe «Kleinklasse» für Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen und Verhaltensschwierigkeiten und «Sonderschule» für Kinder und Jugendliche mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung durchgesetzt.

Auch die Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte ist privater Initiative zu verdanken: Die SGG bot 1899 in Zürich die Weiterbildung geeigneter Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen von besonderen Vorbereitungskursen für den Unterricht in Spezialklassen an. 1904 wurde ein zweiter Kurs ebenfalls in Zürich, 1911 ein weiterer in Bern und Burgdorf, 1914 der vierte in Basel durchgeführt; es folgten weitere Auflagen dieses interkantonalen Weiterbildungsangebots.

Der 1911 gegründete Verband schweizerischer Lehrkräfte für geistesschwache Kinder schloss sich 1916 mit der sogenannten Konferenz für Erziehung und Pflege Geistesschwacher – die ehemalige Konferenz für das Idiotenwesen – zur Schweizerischen Gesellschaft für Erziehung und Pflege Geistesschwacher zusammen. Diese bildete 1920 gemeinsam mit dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen, dem Schweizerischen Taubstummenfürsorgeverein, der SGG und weiteren Vereinigungen den Verband Heilpädagogisches Seminar. 1931 wurde Heinrich Hanselmann an der Universität Zürich auf den ersten Lehrstuhl für Heilpädagogik in Westeuropa berufen, 1935 in Freiburg das Heilpädagogische Seminar als Abteilung des Pädagogischen Seminars eröffnet und 1948 in Dornach das Seminar für Heilpädagogik auf anthroposophischer Grundlage eingerichtet. Weitere Ausbildungsstätten oder universitäre Institute kamen in den Kantonen Basel, Bern, Genf, Luzern und Waadt dazu. Damit waren die Voraussetzungen für die Aus- bzw. Weiterbildung von Lehrkräften an Sonderschulen und Kleinklassen geschaffen.

Mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IV) von 1960 wurden die privaten, halbstaatlichen oder kantonalen Einrichtungen zur Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger oder körperlicher Behinderung und zur Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zu schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen gesamtschweizerisch reglementiert und subventioniert. Damit ist rund zwei Jahrhunderte nach der Einführung der allgemeinen Schulpflicht die Frage nach der Schulung behinderter Kinder und Jugendlicher in dem Sinne beantwortet, dass allen Schülerinnen und Schülern das Recht auf schulische oder lebenspraktische Bildung zugestanden und in entsprechenden Einrichtungen mit dafür ausgebildetem Personal eingelöst wird. Allerdings geraten diese Errungenschaften seit den 1990er Jahren, die von finanzieller Knappheit der öffentlichen Haushalte gekennzeichnet waren, zunehmend unter Druck. Es besteht die Gefahr, dass die Diskussion um Separation und Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen vor allem im Hinblick auf mögliche Einsparungen geführt wird.

Quellen und Literatur

  • K. Alther, Gesch. der Schwachsinnigenfürsorge in der Schweiz, 1923
  • E. Kaiser, Der Hilfsschüler und die Hilfsschule, 1968
  • A. Schindler, Gesch. und heutiger Stand der schul. Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Ausbildung von Hilfsschullehrern, 1979
  • S. Solarova, Gesch. der Sonderpädagogik, 1983
  • M. Rossier, Essai pour une approche comparative de la situation et de la prise en charge des handicapés mentaux à travers l'histoire, 1984
  • A. Bürli, Grundzüge der Sonderpädagogik in der Schweiz, 1986
  • A. Wyrsch et al., Heilpädagog. Schülerhilfe, 1987 (31991)
  • Sonderschulen zwischen Pädagogik und Finanzen, hg. von G. Sturny-Bossart, A. Bürli, 1989
  • A. Gugelmann, Das geistig behinderte Kind und seine Schule, 1994
  • S. Schriber, Das Heilpädagog. Seminar Zürich, 1994
  • Behinderung als pädagog. und polit. Herausforderung, hg. von M. Liedtke, 1996
  • L'enseignement spécialisé en Suisse romande et au Tessin, hg. von J.-M. Boillat, 1999
  • C. Wolfisberg, Heilpädagogik und Eugenik, 2002
Weblinks
Kurzinformationen
Kontext Heilpädagogische Schule

Zitiervorschlag

Johannes Gruntz-Stoll: "Hilfs- und Sonderschulen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.10.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010411/2011-10-26/, konsultiert am 17.04.2024.